Parallelwelt Studium / Über das Konzept von Heimat
Vor Kurzem wurde ich nachts auf dem Nachhauseweg durch meinen Kiez mal wieder von einem Drogendealer angesprochen. Ehe er mir seine Waren verscherbeln wollte, erkundigte er sich aus einem mir unerfindlichen Grund, ob ich Berliner sei. Im ersten Augenblick verschlug die Frage mir die Sprache. Nicht nur, weil sie unerwartet war, sondern auch, weil ich im ersten Moment nicht wusste, was ich darauf antworten sollte – und plötzlich ins Grübeln über das Konzept Heimat an sich geriet.
Anderen gegenüber zu verkünden, dass ich Berliner sei, würde in meinen Augen nämlich implizieren, dass Berlin mein Zuhause ist. Aber ab wann kann man einen Ort überhaupt als Heimat bezeichnen? Meine Ex-Freundin, die in Berlin geboren und aufgewachsen ist, listete mir einmal halb im Ernst, halb im Spaß eine Liste von Dingen auf, die man angeblich gesehen oder getan haben muss, um sich als Berliner bezeichnen zu können. Eine der Voraussetzungen war beispielsweise, mindestens einmal den Weg einer Ratte gekreuzt zu haben.
Besonders interessant an dieser Liste war nun, dass sie nicht von einem verlangte, in Berlin geboren und auch einen beträchtlichen Teil des eigenen Lebens dort verbracht zu haben. Das ist konträr zu dem, was die meisten Menschen unter dem Begriff „Heimat“ verstehen: und zwar einen Ort, an dem man wie schon die Generationen vor einem zur Welt kommt und groß wird. Genau in diesem Verständnis des Konzepts schwingt aber eine exkludierende Note mit, insofern dass es all jene ausschließt, die nicht das Glück hatten, auf diesem spezifischen Fleckchen Erde geboren worden zu sein oder über Ahnen von dort verfügen.
Zuhause ist kein Ort
Ganz abgesehen davon, dass es vom klassischen Heimatbegriff nie weit bis zu gefährlichem Blut-und-Boden-Gedankengut ist, stellt es in meinen Augen auch schon konzeptionell einen falschen Ansatz dar, Zuhause als einen Ort aufzufassen. Anfang November meinte der Musiker Serge Tonnar in einem Interview mit dem Luxemburger Wort – in dem es unter anderem um die Vereinnahmung des Heimatbegriffs durch den rechten politischen Rand ging –, dass Heimat vor allem ein Gefühl sei. Dieser Aussage kann ich nur beipflichten. Die Frage des Dealers, ob ich Berliner sei, wollte ich instinktiv mit Ja beantworten, weil ich mich in Berlin zu Hause fühle. Die Offenheit der Menschen, das überwältigende kulturelle Angebot, meine Freunde, die Architektur und lebhafte Atmosphäre der Stadt, vor allem im Sommer in den Parks und Straßen: sie alle tragen dazu bei, dass ich das empfinde.
Dieses Gefühl von Zuhause durchdringt den Ort, ja wird teilweise sogar durch ihn ausgelöst – aber beide sind nicht das Gleiche. Zumindest für mich spielt es dabei auch keine große Rolle, wie lange ich mich irgendwo aufhalte, damit ich mich heimisch spüre. Als ich noch jünger war, habe ich beispielsweise mit meiner Familie jedes Jahr die Pfingstferien in der Provence in einem kleinen, malerischen Dorf namens Roussillon verbracht; und obwohl ich immer nur für jeweils eine Woche dort war, hat es sich jedes Mal so angefühlt, als ob ich nach Hause kommen würde, sobald die ersten ockerfarbenen Klippen am Straßenrand aufgetaucht sind, für die der Ort so berühmt ist.
Betrachtet man den Begriff der Heimat aus dieser Perspektive, lässt sich dann auch erklären, wieso man sich selbst an fiktiven Orten zu Hause fühlen kann, die nur in Büchern, Filmen, Videospielen oder Musikalben existieren. Wann immer ich etwa Peter Jacksons „Herr der Ringe“-Trilogie schaue und das Auenland, Bree oder Minas Tirith gezeigt werden, stellt sich bei mir das gleiche Gefühl des Heimischen ein, wie wenn ich nach einem längeren Urlaub wieder nach Berlin zurückkehre. Die Tatsache, dass ich noch nie im richtigen Leben dort war, spielt dabei keine Rolle – eben weil Zuhause kein spezifischer Ort, sondern vielmehr ein Gefühl ist, das von allen möglichen realen oder erdachten Räumen und denen mit ihnen assoziierten Vorstellungen ausgelöst werden kann.
Es zählt nur das Gefühl
Dass die Frage des Dealers mich anfangs so ins Grübeln brachte, lag nun eben daran, dass dieses Gefühl von Zuhause mit der auch bei mir leider nach wie vor tief eingegrabenen Auffassung kollidierte, dass Heimat eigentlich den Ort bezeichnet, an dem man aufgewachsen ist. Deswegen dachte ich zunächst irrtümlicherweise, dass ich gar nicht das Recht hätte, mich selbst als Berliner (oder genauer noch Kreuzberger) zu sehen, sondern nur als Luxemburger oder Useldinger. Letztendlich bejahte ich die Frage aber, eben weil ich mich wie vorhin erwähnt hier zu Hause fühle. Das ist das Einzige, was zählt. Dass ich die ersten 24 Jahre meines Lebens woanders verbracht habe, ist nicht von Belang. Selbst die Tatsache, dass ich jetzt dort wohne, spielt eine weitaus geringere Rolle, als man im ersten Moment annehmen würde, da das Heimische wie gesagt nicht mit dem Ort gleichzusetzen ist, an dem man es empfindet. Deswegen kann man auch sein ganzes Leben in derselben Stadt verbringen, ohne dass sich jemals zwingend das Gefühl bei einem einstellen muss, dort zu Hause zu sein. Und deswegen besteht auch jederzeit die Möglichkeit, eines Tages aufzuwachen und plötzlich festzustellen, dass man sich von den einst heimischen Menschen und Straßenzügen um einen herum entfremdet hat. Letzten Endes ist Zuhause wie alle anderen Gefühle nämlich nicht starr, sondern einem steten Wandel unterworfen und kann sich unerwartet an ständig variierenden Orten manifestieren – egal ob diese nun in der physischen Welt um einen herum oder nur in der eigenen Imagination liegen.
Zur Person
Maxime Weber wurde 1993 in Luxemburg geboren und schloss 2017 an der Ludwig-Maximilians-Universität in München seinen B.A. in Philosophie ab. Zurzeit absolviert er im selben Fach an der Freien Universität in Berlin seinen M.A. Seit 2011 berichtet er auf seinem Blog (der zunächst „Lorgthars mythische Schreibkammer“ hieß, ehe er 2014 in „Maxime Weber Blog“ umbenannt wurde) über die Aktivitäten der rechten Szene in Luxemburg. Im Mai 2018 erhielt er für diese Arbeit von der gleichnamigen Stiftung den „Prix René Oppenheimer“. Daneben schreibt er Prosa- und Songtexte; 2016 wurde seine Kurzgeschichte „Chaudron fêlé“ beim Jugend-Literaturwettbewerb „Prix Laurence“ mit dem ersten Preis in der Alterskategorie 18-26 Jahre ausgezeichnet. Momentan schreibt er an seiner Masterarbeit. Außerdem dreht er hin und wieder Kurzfilme und Musikvideos und ist bei diversen musikalischen Projekten tätig. Maxime war zudem Tageblatt-Praktikant.
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