Rentendebatte / Über die falsche Angst vor Überalterung und was sie für die Rente bedeutet
Viele Alte, wenig Junge. Luxemburg geht es wie allen anderen Ländern Europas. Ein demografischer Wandel, der die Stabilität des Rentensystems zu bedrohen scheint. Ein Mythos, sagt der Statistiker Prof. Dr. Bosbach.
Das Gespenst, das in Europa umgeht, ist – anders als zu Zeiten Karl Marx’ – längst nicht mehr der Kommunismus, sondern die Überalterung. Fast alle Länder Europas und des sogenannten Westens erleben seit Jahrzehnten einen grundlegenden demografischen Wandel. Die Zahl der Geburten geht zurück, gleichzeitig leben die Menschen immer länger, das Durchschnittsalter der Bevölkerung steigt. Das Ergebnis: Die Alterspyramide steht auf dem Kopf. Oben breit, unten schmal. Allein dieses Bild will einem schon sagen: wackelige Konstruktion. So sollte keine stabile Pyramide aussehen. Die alternde Gesellschaft lässt überall die Alarmglocken schrillen. Auch in Luxemburg. Denn an sie knüpft sich eine soziale Frage: Wie sollen die wenigen Jungen in Zukunft für die vielen Alten sorgen? Und wer soll die Rente bezahlen?
„Dass die Leute immer älter werden, das ist überhaupt nichts Neues, das kennen wir seit 1870“, sagt Prof. Dr. Gerd Bosbach. „Und in diesen Jahren ist kein Sozialstaat abgebaut worden. Im Gegenteil: Er ist aufgebaut worden.“ Gerd Bosbach ist promovierter Statistiker, Mathematiker und Ökonom. Demografie und Rente sind schon seit vielen Jahren seine Themen. Schon 1990 hat er als statistischer Berater der wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages mit Ex-Kanzler Helmut Schmidt über Bevölkerungsprognosen gestritten. Am Dienstag ist Bosbach bei der luxemburgischen Arbeitnehmerkammer zu Gast, um über „Rentenmythen“ zu sprechen. Eine dieser Mythen: das Demografie-Problem.
Das Tageblatt erreicht Bosbach telefonisch in Köln, am Freitag vor seinem Vortrag. Seine Zahlen stammen aus Deutschland, aber seine grundlegenden Aussagen lassen sich auch auf Luxemburg übertragen. Im letzten Jahrhundert, so Bosbach, sei der Anteil der Rentner von vier auf 15 Prozent gestiegen. „Das ist eine Vervierfachung. Und das hat nicht zu einer Rentenkürzung geführt.“ Obwohl sich gleichzeitig der Jugendanteil mehr als halbiert habe, von 50 auf etwas über 20 Prozent. Auch das sei kein soziales Problem. „Früher war Demografie kein Problem“, sagt Bosbach. Und heute?
Das Problem, das keines ist
Der Statistiker spricht von einem weit verbreiteten „Angstbild“: Wir werden älter, wir werden weniger leistungsfähig. „Das gilt für Einzelmenschen, aber nicht für Gesellschaften“, sagt Bosbach. Deutschland hatte um 1900 die perfekte Gesellschaftspyramide. Viele junge Menschen, wenige alte. „Ging es den Leuten damals besser als heute?“, fragt Bosbach. Wenn er heute in die Welt schaue, auf der Suche nach einer Bevölkerungspyramide, die unten breit ist und nach oben spitz zuläuft, lande er in Ländern wie Nigeria oder Bangladesch. Die reichen Länder hingegen, Schweden, Japan, Deutschland, „das sind alle alte Länder“, sagt Bosbach. Die Gleichsetzung von Alter mit geringerer Leistungsfähigkeit sei „dreist und dumm“, eine „Mär“.
Aber muss das, was für die Vergangenheit gilt, auch für die Zukunft gelten? Vielleicht war Demografie in der Vergangenheit kein Problem, wird es aber in Zukunft werden? Bosbach hat diesen Einwand schon oft gehört. Sein Konter: Wir leben heute schon in der Zukunft vergangener Renten- und Demografie-Debatten. In den vergangenen 30 Jahren habe die Gesellschaft eine deutliche Alterung erlebt, sagt der Statistiker. Gleichzeitig aber sei das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Deutschland in dieser Zeit um 50 Prozent gestiegen, „also mit deutlichen Gewinnen trotz massiver Alterung“. Das lehrt die Vergangenheit. Für Projektionen in die Zukunft bleibt selbstverständlich ein Unsicherheitsfaktor. „Als ehrlicher Statistiker, der auch viel Prognoserechnung gemacht hat, kann ich nur sagen: Ich weiß nicht, wie die Zukunft aussieht“, sagt Bosbach.
Was der Zahlenmensch Bosbach jedoch weiß, ist, wie leicht sich Zahlen auswählen und manipulativ lesen lassen, um Hiobsbotschaften auf ihnen aufzubauen. Dafür bringt er wieder ein Beispiel aus Deutschland. Dort heiße es immer wieder: 30 Prozent weniger Erwerbstätige – wer soll dann noch produzieren? Die Crux: Die 30 Prozent bezögen sich auf einen Zeitraum von 47 Jahren, so Bosbach. Auf ein Jahr gerechnet, macht das einen Schwund von 0,8 Prozent. Oder anders gesagt: Einer von 125 Arbeitsplätzen, der im nächsten Jahr ersetzt werden muss. Bosbach: „Ist das ein Problem? Ich sage nein. Wenn wir das nicht schaffen, dann können wir sowieso einpacken.“
Ganz ohne Veränderung geht es natürlich nicht. Rentenbeiträge müssen von Zeit zu Zeit angepasst werden. Wenn mehr ältere Menschen versorgt werden müssen, kostet das mehr Geld. In Deutschland gebe es aber, so Bosbach, eine unbegründete Angst vor der Erhöhung des Rentenbeitrages. „Das würde aber nur dann etwas ausmachen, wenn wir eine nicht mehr wachsende Gesellschaft wären.“ Wenn man Bosbachs Beobachtungen auf Luxemburg überträgt, bietet sich noch weniger Grund zur demografischen Panik. Luxemburg hat ein starkes Bevölkerungswachstum, deutlich stärker als Deutschland, auch die Zahl der Erwerbstätigen wächst stetig. In Deutschland sieht Bosbach als treibende Kräfte hinter der Demografie-Angst vor allem die Arbeitgeber, die eine Erhöhung des Rentenbeitrags fürchten, und die Privatversicherer, die die Politik in den vergangenen Jahren stark beeinflusst hätten – hin zu mehr Privatvorsorge, zu Riester- und Rürup-Rente. Womit wir mitten im heißen Herzen auch der luxemburgischen Rentendebatte gelandet sind, der Debatte über das Verhältnis von Umlage- und Kapitaldeckungsverfahren, von erster und dritter Säule des Luxemburger Systems.
Systemfrage: Umlage oder Kapital?
„In Riester ist enorm viel Geld reingesteckt worden“, sagt Bosbach, „und die meisten Riester-Zahler bekommen so gut wie nichts raus.“ In der Systemfrage zwischen Umlage- und Kapitaldeckungsverfahren, zwischen staatlicher und privater Vorsorge, bezieht der Wissenschaftler deutlich Position: „Da habe ich eine ganz klare Meinung.“ Wenn man in Gütern und Dienstleistungen denke, gebe es schlecht und einfach nur das Umlageverfahren. „Ich kann mir die Krankenpflegerin heute nicht ansparen, sodass ich sie in 20 Jahren benutzen kann. Das Brot nicht und den Friseur auch nicht.“ Nur das, was heute produziert werde, könne heute gebraucht werden. „Geld können sie später nicht essen“, sagt Bosbach. Einzige Ausnahme: Investitionen in langfristige Projekte wie Infrastruktur, Straßen, Schienen, Schule und Bildung. „Da hat man auch etwas in der nächsten Periode von.“
In Deutschland ist Ende der Neunziger ein Satz des damaligen CDU-Sozialministers Norbert Blüm in den bundesrepublikanischen Zitatschatz eingegangen: „Die Rente ist sicher.“ Dem widersprach Bert Rürup, Vater der Rürup-Rente, kürzlich im Politik-Podcast der Zeit. „Sichere Renten kann es nicht geben“, sagte Rürup. Die größtmögliche Sicherheit, so der Wirtschaftswissenschaftler weiter, böte jedoch ein Mischsystem aus Umlage und Kapitaldeckung. Dem widerspricht nun Bosbach und schlägt sich auf die Seite Norbert Blüms. „Natürlich ist die Rente sicher. Die Rente war auch vor 5.000 Jahren sicher, weil der Stamm seine alten Leute ernährt hat. Wer anders als die arbeitende Generation soll die alte Generation ernähren?“ Die Geschichte, so Bosbach, kenne viele Beispiele, in denen sich ein Umlageverfahren als das sicherere Rentensystem erwiesen hätte. Er erinnert an die Hyperinflation in Deutschland im Jahr 1923: „Hätte es dort nennenswert Kapitaldeckung gegeben, hätten die Menschen von ihren Rentenrücklagen nicht einmal Brot kaufen können.“
Das alles soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass Rentensysteme immer wieder an gesellschaftliche Entwicklungen angepasst werden müssen. Und auch beim Umlageverfahren gibt es Schrauben, an denen man drehen kann. Manche hält Bosbach für deutlich sinnvoller als andere. „Beitragserhöhungen sind nötig, wenn die Rentnerzahl steigt.“ In einem System, in dem die Wirtschaft wächst, sei dies jedoch überhaupt kein Thema. „Seit das Umlageverfahren 1957 in Deutschland eingeführt wurde, sind die Beiträge massiv gestiegen. Die Arbeitnehmer haben das nicht gemerkt, weil ihre Löhne noch deutlich höher gestiegen sind.“ Eine andere Schraube, die Verlängerung der Lebensarbeitszeit, wie sie in Luxemburg kürzlich einmal mehr von der Handwerkskammer ins Gespräch gebracht wurde, sieht Bosbach skeptisch: „Solange man in Deutschland drei Millionen nicht arbeiten lässt, finde ich es nicht sinnvoll, die Leute allgemein länger arbeiten zu lassen.“ Überhaupt würden die Leute, die länger arbeiten, nicht dafür eingesetzt, um mehr zu produzieren, sondern um zu sparen. Wenn die Menschen später in Rente gehen, würde weniger ausgebildet und weniger neu eingestellt werden. Oder weniger ausgezahlt, sollten die Betroffenen doch früher mit entsprechenden Abschlägen in den Ruhestand gehen.
Das Fazit des Statistikers: Die Anpassung des Renteneintrittsalters ist in einer reichen Gesellschaft nicht nötig. „Der Anteil der Rentenausgaben an unserem Wohlstand (BIP) ist in Deutschland in den letzten 20 Jahren nicht gestiegen, sondern gesunken.“ Für die Rente gebe es kein Finanzierungsproblem, sagt Bosbach. „Die Angstmache ist geschickt, aber sie hat mit der Realität nichts zu tun.“
Rentendebatte in der CSL
Am Dienstagabend ist Prof. Dr. Gerd Bosbach zu Gast in der „Chambre des salariés“ (2-4, rue Pierre Hentges, L-1726 Luxembourg), um im Rahmen der Konferenz „Rentenmythen aufgedeckt: Demografie im Fokus“ einen Vortrag zu halten. Die Veranstaltung beginnt um 18.30 Uhr mit einem Grußwort von CSL-Präsidentin Nora Back.
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