Uni.lu-Forscher Josip Glaurdić / Über Luxemburgs heuchlerische Finanzpraktiken mit Russland und das Recht auf Selbstbestimmung
Luxemburg hat lange Jahre Geschäfte mit autoritären Regimen, wie etwa Russland, gemacht. Der Politikwissenschaftler der Uni.lu Josip Glaurdić sieht diese Praxis als ethisch und moralisch verwerflich. Er glaubt zudem, dass der Westen den Ukrainern nicht vorzuschreiben brauche, ob und wofür sie kämpfen sollten. Sie hätten das Recht, über ihre eigene Zukunft zu bestimmen.
Tageblatt: Pflegt Luxemburg aus ökonomischen bzw. finanziellen Gründen gute Beziehungen zu autoritären Staaten?
Josip Glaurdić: Es würde mich natürlich nicht überraschen, wenn das der Fall wäre. Wenn Sie mich jedoch fragen, ob sie [Luxemburg und der Westen allgemein] das tun sollten, dann würde ich Nein sagen – das sollten sie nicht. Es gibt so etwas wie Ethik und Moral, das sollte etwas wert sein, besonders in Fällen wie diesen.
Wie ist diese Luxemburger Politik entstanden und zu erklären?
Nun, Sie stellen mir im Grunde die Frage, wie es zu erklären ist, dass Menschen Geld mögen. So einfach ist das. Es gibt eine Denkschule, nicht nur an Finanzinstituten, sondern in der ganzen Unternehmenswelt, die im Grunde besagt: Dort wo wir Geld machen können, sollten wir es auch tun. Die Idee, dass Geld vielleicht auf ethische Weise verdient werden sollte, gibt es zwar seit jeher, sie ist aber erst kürzlich in die Vorstandsetagen westlicher Unternehmen vorgedrungen. Die meisten Unternehmen, würde ich sagen, haben sich da noch nicht hineingefunden.
Das heißt … davor war ethisches Verhalten nie wirklich ein Thema?
Ich würde sagen, es ist ein anderes Verständnis, eine andere Auffassung von Unternehmensethik, oder? Ich meine, einige Leute würden argumentieren: Ist es ethisch, wenn wir uns die Gelegenheit entgehen lassen, mehr Geld für unsere Aktionäre zu verdienen? Ich hingegen würde sagen: Ja, es ist ethisch. Es gibt Dinge, die wichtiger sind, als nur das Endergebnis. Und ich denke, dies ist einer dieser Fälle. Ein Fall, in dem es weitaus Wichtigeres gibt, als schnelles Geld in Zusammenarbeit mit russischen Institutionen zu machen, die an Kriegsanstrengungen beteiligt sind.
Muss man da Luxemburg nicht einen hypokritischen Umgang mit seinem Finanzplatz unterstellen?
Ich möchte keine pauschale Aussage treffen, da ich nicht weiß, inwieweit luxemburgische Finanzinstitute eng mit russischen Finanzinstituten und Unternehmen im Allgemeinen verflochten sind oder mit ihnen zusammenarbeiten. Aber ich denke, dass diejenigen, die – nicht nur in Luxemburg, sondern in allen europäischen Institutionen – mit russischen Unternehmen zusammenarbeiten, die insbesondere an der Finanzierung der Kriegsanstrengungen beteiligt sind, geoutet werden sollten, und dass dies öffentlich bekannt sein sollte. Wir alle sollten dann selbst entscheiden, ob wir mit solchen Unternehmen Geschäfte machen wollen.
Die Herausforderung für jeden Menschen mit Integrität besteht darin, die Dinge beim richtigen Namen zu nennenPolitikwissenschaftler
Außenminister Jean Asselborn (LSAP) hat heute in einem Interview auf Radio 100,7 gesagt, dass er in der Beseitigung Putins den einzigen Ausweg aus dem Krieg bzw. dem Ukraine-Konflikt sieht.
Ich bin auch der Meinung, dass Putin von seinem Amt enthoben werden muss. Die Aussage, dass er physisch beseitigt werden sollte, geht allerdings zu weit. Das war keine glückliche Aussage von Herrn Asselborn. Außenminister müssten viel vorsichtiger mit dem sein, was sie sagen, ganz unabhängig von ihren persönlichen Gefühlen.
Zur Person Putins …
Ich habe eine Reihe von Leuten in den Medien gesehen, die sagen, Putin sei verrückt, oder er habe sich irgendwie von der Realität entfernt. Dem kann ich nicht zustimmen. Ich glaube, dass Putin im Moment eine Politik, einen Plan, in die Tat umsetzt, der sehr gut zu einer Denkschule der Moskauer Außenpolitik passt. Die Unterstützung für diese Vorgehensweise ist tatsächlich viel breiter, als die Leute glauben. Das macht die ganze Sache natürlich noch beängstigender und problematischer.
Das heißt, worin genau liegt das Problem?
Ich würde sagen, dass das Problem systembedingt ist. Es liegt im systemischen Zusammenprall der Zukunfts- und Sicherheitsvisionen Europas sowie des globalen Systems. Ich glaube, dass dieses Problem nicht mit einer Lösung verschwinden wird, bei der jeder ein wenig gibt und ein wenig nimmt. Diese Art von Szenario würde vielleicht zu einem Waffenstillstand, einem Einfrieren des Konflikts oder Ähnlichem führen. Aber die einzige Lösung, der einzige Weg, wie dies wirklich gelöst werden kann und zu einem System führt, in dem Russland ein konstruktives Mitglied des europäischen Sicherheitssystems wird, ist, wenn diese Idee, die Putin verkörpert, besiegt wird. Und das bedeutet, dass er verschwinden muss.
Der Historiker Vincent Artuso hat in seiner letzten Chronik geschrieben, dass wir derzeit ein fast religiöses Konstrukt von Gut und Böse errichten, das jegliche Diplomatie zwischen dem Westen und Russland unmöglich macht. Wie sehen Sie das?
Man kann das Konstrukt von Gut und Böse als religiös bezeichnen, muss es aber nicht. Ich meine, auch Atheisten und Agnostiker können sehr gut verstehen, was gut und böse ist. Die Herausforderung für jeden Menschen mit Integrität besteht darin, die Dinge beim richtigen Namen zu nennen. Wenn also etwas böse ist, ja, dann sollten wir auch sagen, dass es böse ist. Ein Regime, das seine Gegner vergiftet und einsperrt, das Kinder, die gegen den Krieg protestieren, inhaftiert und des Verrats anklagt, das Vakuumbomben einsetzt, das Folter als politisches Mittel ansieht, das der Welt mit der nuklearen Vernichtung droht – ja, das ist böse. Nennen wir es einfach beim Namen. Ich sehe darin wirklich kein Problem. Manchmal ist es notwendig, dass gute Männer und Frauen aufstehen, die Dinge beim Namen nennen und sich dem mit allem, was sie haben, entgegenstellen. Und ich denke, das ist einer dieser Momente.
Das ist eine klare Ansage.
Sie stammt auch von jemandem, der offensichtlich selbst Osteuropäer ist und der versteht, der es satt hat, dass der Westen uns sagt: „Ihr solltet eure Hoffnungen und Träume oder die Hoffnungen und Träume eurer Kinder aufgeben, nur weil dieser Kerl euer Nachbar ist.“ Die Ukrainer haben das Recht, ihren eigenen Weg und ihre eigene Zukunft zu bestimmen. Wenn diese Zukunft demokratisch ist, wenn diese Zukunft europäisch ist, dann sollten sie das auch dürfen. Und das, obwohl ein autokratisches, kleptokratisches Regime neben ihnen das nicht mag und daraufhin eine illegale und gewalttätige Operation durchführt, die sich zunehmend gegen Zivilisten richtet.
Da wir gerade von Zivilisten reden. Wir Europäer, der Westen reden gerne davon, Menschenrechte zu verteidigen, jetzt sogar mit militärischen Mitteln. Ist es nicht unverantwortlich, der Ukraine falsche Hoffnungen zu machen und unausgebildete Zivilisten in einen Krieg zu schicken, den sie nicht gewinnen können?
Wer sagt, dass die Ukrainer nicht gewinnen können? Natürlich können sie das. Ich komme aus Kroatien, und als wir 1991 im Krieg waren, hat man uns gesagt: „Was glaubt ihr, wie ihr gewinnen könnt? Ihr solltet im Grunde genommen allem zustimmen, was das Milosevic-Regime verlangt, denn er hat mehr Waffen.“ Nun, wir haben trotzdem gewonnen. Also können auch die Ukrainer gewinnen. Ich denke, dass Putin einen Krieg führt, der nicht zu gewinnen ist. Weil man ein Land mit einer Bevölkerung, die zu 90 Prozent gegen einen ist, nicht kontrollieren kann. Das russische Militär könnte einen extrem blutigen Krieg führen und viele Menschen könnten dabei sterben, aber wer bin ich, dass ich den Ukrainern sage: Nein, ihr sollt eure Waffen niederlegen, ihr sollt eure persönliche Integrität verlieren, ihr sollt euch ergeben, weil dieser Typ mehr Waffen hat. Die Ukrainer sollten tun können, was sie tun wollen. Und wenn sie kämpfen wollen, und danach sieht es momentan aus, dann sollten wir sie darin unterstützen. Das ist ihre Entscheidung. In diesem Sinne bin ich über die europäische Politik sehr erfreut. In den ersten 48 Stunden war ich skeptisch, als sie [die EU] eine Reihe von zahnlosen Sanktionen ankündigte. Aber seither hat sich die Lage verbessert. Eine Erinnerung an Ihre Leser: Die Reaktion der westlichen Mächte auf die Jugoslawienkriege war das Verhängen eines Waffenembargos. Und in der Praxis bedeutete das, dass alle Kriegsparteien, mit Ausnahme der Serben, keine Waffen hatten. Und sie haben es trotzdem geschafft, sie haben den Krieg trotzdem gewonnen – auch ohne diese Waffen. Zumindest setzen wir dieses Mal nicht diese Art von heuchlerischer Politik ein, die den Anschein erweckt, gegen den Krieg zu sein, aber in Wirklichkeit für den Aggressor ist.
Sie glauben also nicht, dass wir Europäer oder der Westen der Ukraine falsche Hoffnungen machen, indem wir ihr Waffen schicken?
Hören Sie. Die Ukrainer werden tun, was die Ukrainer tun wollen. Unabhängig davon, was wir ihnen sagen. Das ist meiner Meinung nach irrelevant. Sie würden so oder so kämpfen. Für uns stellt sich die Frage, ob wir einem stolzen Volk und Nation, die um ihr Leben gegen ein böses Regime kämpft, sagen wollen: „Ihr solltet das nicht tun, ihr solltet euch ergeben.“ Oder wollen wir die Art Mensch sein, die grundsätzlich sagt: „Wir unterstützen euch, wie können wir helfen?“
Ich würde gerne noch einmal auf den Finanzplatz Luxemburg zurückkommen. Denken Sie, dass der Luxemburger Finanzplatz immer noch Geschäfte mit russischen Oligarchen machen will, solange Putin das Zepter hält?
Nun, das ist eine gute Frage. Ich denke, das ist eine Frage für den Finanzplatz. Wenn Sie mich nach einem Szenario fragen, was passieren würde – nicht nur in Bezug auf luxemburgische Banken, sondern auf westliche Banken im Allgemeinen –, wenn russische Oligarchen oder das Militär Putin jetzt entmachten würden, das Militär wieder aus der Ukraine abziehen und einräumen würde, dass der Angriff ein Fehler war, dann würden die Dinge sicherlich binnen einiger Tage wieder zur gewohnten Tagesordnung übergehen. Ob die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Luxemburg oder den europäischen Finanzzentren und Russland unwiderruflich abgebrochen sind, auch das glaube ich nicht. Ich denke, wenn Russland seinen Kurs ändert und wenn Putin nicht mehr an der Macht ist, werden diese Verbindungen sehr schnell wiederhergestellt werden.
Dennoch hat Wirtschaftsminister Franz Fayot (LSAP) in einem Wort-Interview angedeutet, dass man nicht so weiterfahren könne wie bisher. Was müsste Ihrer Meinung nach in der Art und Weise, wie der Westen Geschäfte mit Russland macht, geändert werden?
Ich denke, zum jetzigen Zeitpunkt müsste es wirklich einen Regimewechsel in Moskau geben, damit die wirtschaftlichen Verbindungen wiederhergestellt werden, aber gleichzeitig denke ich, dass wir definitiv Veränderungen sehen werden. Die Europäer haben erkannt, dass sie nicht wieder in diese Position kommen wollen, in der sie von Russland in Sachen Energie abhängig sind. Und ich denke, dass wir, unabhängig von den Veränderungen in Moskau – wenn es überhaupt welche geben wird – eine verstärkte Bewegung in Richtung Energieautarkie innerhalb der EU-Länder sehen werden. Das ist natürlich noch weit weg. Ich behaupte nicht, dass das in Kürze passieren wird.
Wenn Putin jetzt ersetzt oder sterben würde, glauben Sie, dass dieses politische Regime in Russland dennoch weitergeführt werden würde?
Die Frage der Demokratisierung Russlands ist wirklich interessant. Russland war für alle, die den Übergang vom Kommunismus zur Demokratie in Europa studiert und verfolgt haben, immer die größte Enttäuschung von allen – aber nicht die größte Überraschung. Um ganz ehrlich zu sein, sehe ich momentan in Russland keine Kräfte, die stark genug wären, das Land in Richtung einer echten Mehrparteiendemokratie zu bewegen. Zumindest jetzt noch nicht.
* Das Interview wurde aus dem Englischen übersetzt.
Kurzbiografie
Josip Glaurdić wuchs in Kroatien auf. Als Teenager durchlebte er den Jugoslawien-Konflikt der 1990er-Jahre. Seit April 2017 arbeitet Glaurdić als Politikwissenschaftler an der Uni.lu und ist seit 2020 auch Leiter des Instituts für Politikwissenschaften. Vor seiner Zeit in Luxemburg bekleidete er Posten an der University of Cambridge und am Institut für die Wissenschaften vom Menschen der Universität Wien.
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Sind Finanzpraktiken nicht immer heuchlerisch?
Schauen wir nur einmal die Zinspolitik der Banken an.
„Mit anderer Leute Geld Gassi gehen.“ so sagte einst Volker Pispers
(Kabarettist) …Und wenn das Geld dann einmal wegrennt,dann muss die Allgemeinheit herhalten,denn…Banken sind Systemrelevant.