Armut in Luxemburg / Überbürokratisierung, komplizierte Prozeduren, ungenügender Mindestlohn
In Luxemburg wird viel und oft über Armut geredet, bloß sind die unmittelbar Betroffenen meist nicht dabei. Es wird über, aber nicht mit und auf Augenhöhe mit den Armen geredet. Eine Feststellung, die auch am Donnerstagabend anlässlich eines Rundtischgesprächs zutraf und von mehreren Teilnehmern hervorgehoben wurde. Organisiert wurde die Zusammenkunft im Kulturzentrum „Beim Nëssert“ in Bergem von der OGBL-Sektion Uelzecht-Mess.
Beginnen wir mit Zahlen. Das Armutsrisiko in Luxemburg lag 2021 bei 17,4 Prozent. Letzten Zahlen zufolge sank es auf 17,2 Prozent. Fast jedes fünfte Kind lebt in Armut. Besonders betroffen sind alleinerziehende Haushalte und Frauen. 13 Prozent der arbeitenden Menschen schaffen es mit dem eigenen Einkommen nicht über die Runden. Dass das Armutsrisiko zurückging, sei laut Statec auf die ausbezahlten Indextranchen und die letzten Tripartite-Maßnahmen zurückzuführen, so David Angel, der am Donnerstagabend durch das Rundtischgespräch führte.
Apropos Zahlen: Anne-Catherine Guio, Forscherin am Liser und Autorin einschlägiger Studien, bevorzugt, von ungefähren Zahlen zu reden. Die aufgrund von Umfragen ermittelten Daten seien mit etlichen Unsicherheiten behaftet. Rückläufige Zahlen seien mit Vorsicht zu genießen, meint sie. Unbestreitbar sei hingegen, dass der Anteil der Working Poors in Luxemburg im Vergleich zu den Nachbarländern sehr hoch sei. Der höchste Anteil an arbeitenden Armen in der EU sei zu einem Merkmal Luxemburgs geworden, so OGBL-Präsidentin Nora Back.
Das reale Ausmaß der Armut ist genauso schwer zu erfassen wie der Begriff Armut – ein komplexes Thema, für das es keine einfachen Antworten gibt. Es ist nicht lediglich eine Frage von Einkommen oder Lohn oder von materiellen Gütern, die zur Verfügung stehen oder nicht. Er sei in Ländern gewesen, wo die Menschen arm, aber dennoch zufrieden seien, sagte Gilbert Pregno, Psychologe und ehemaliger Vorsitzender der Beratenden Menschenrechtskommission. Schlimm sei jedoch, wenn Menschen ihr Selbstwertgefühl verlieren. Andere Definitionen von Armut, die an diesem Abend fielen: sozialer Ausschluss, soziale Ausgrenzung, fehlende Ressourcen, um am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, die Unmöglichkeit zur Befriedigung der Grundbedürfnisse. Egal, wie man Armut definiere, Tatsache sei, dass über hunderttausend Menschen in Luxemburg nicht genug haben, um zu leben, um sich mit ihren Kindern wenigstens einmal im Jahr Ferien zu leisten oder ins Kino oder Theater zu gehen, so OGBL-Präsidentin Nora Back.
Lösungen sind scheinbar einfach, theoretisch zumindest. Und auch sie werden nicht erst seit gestern diskutiert. Seit Jahren fordert der OGBL eine substanzielle Aufwertung des Mindestlohnes um zehn Prozent, erinnert Back. Deshalb hatte seine Partei eine Mindestlohnaufbesserung in seinem Wahlprogramm stehen, sagte der LSAP-Abgeordnete Yves Cruchten. Die vorige Regierung habe mit der Erhöhung des Mindestgehalts um 100 Euro einen ersten wichtigen Schritt in diese Richtung getan.
Viele fallen durch die Sozialnetzmaschen
Doch eine Lohnaufbesserung allein reicht nicht, wenn man nicht mal ein „ratteninfiziertes Loch“ mieten kann, wie es Carole Reckinger (Caritas) brutal auf den Punkt brachte. Aber ohne festen Wohnsitz keine staatliche Stütze. Also kaufen Betroffene für viel Geld eine Adresse.
Ja, das Sozialnetz in Luxemburg mag wohl breit aufgespannt sein, dennoch fallen viele durch die Maschen oder greifen nicht auf ihnen zustehende Hilfe zurück. Die einen aus Scham, oder weil alles übermäßig kompliziert sei, hieß es während der Gesprächsrunde. Verschlimmert habe sich das mit der Covid-19-Pandemie, als mehr und mehr auf Online-Dienste umgesattelt wurde, sagte Carole Reckinger. Doch viele Menschen können nicht damit umgehen, sie brauchen ein Gegenüber, um sich zu erklären, komplizierte Formulare können sie nicht ausfüllen. „Erschreckend“ sei die Bürokratisierung im Sozialbereich, findet auch Gilbert Pregno. Dabei habe die Bürokratie einen hohen Preis. Der Mensch müsste im Mittelpunkt stehen, und nicht die Regeln.
Das Gesetz über den Revis („revenu d’inclusion sociale“) müsse reformiert werden, meinte dazu Marc Spautz. Die damalige RMG-Reform sei zwar gut gewesen, weise auch noch so manche Schwachstellen auf. Einzelne Kategorien von Menschen, etwa Studenten, seien vom Revis ausgeschlossen, anderen würde die Hilfe gekürzt, wenn sich die Einkommenslage des Haushalts geringfügig ändere, meinte dazu Reckinger, die ebenfalls auf die Problematik Scheinselbstständigkeit hinwies. Essenszusteller etwa verdienten wenig, wüssten nicht, was sie am Ende des Monats verdienten, und hätten allein wegen des Fehlens eines gesicherten Einkommens keine Chance auf dem Wohnungsmarkt.
Wohnungsmarktsituation das Hauptproblem
Spricht man von Armut in Luxemburg, stellt die Situation auf dem Wohnungsmarkt das Hauptproblem dar. Neuigkeitswert hatte auch diese Feststellung am Donnerstagabend nicht. Nicht nur hohe Mieten bereiteten Sorgen, sondern auch die Hypothekardarlehen, meinte Spautz. Beklagte sich doch vor kurzem noch einer der beiden öffentlichen Bauträger, die SNHBM, dass man wohl fertige Wohnungen zu erschwinglichen Preisen anbieten könne, aber Interessenten sie nicht erwerben können, weil sie kein Darlehen bekommen. Unternehmen sollten wie zu Arbed-Zeiten billige Wohnungen für ihre Angestellten bereitstellen, regte Spautz an. Der öffentliche Immobilienpark müsse vergrößert werden, so Yves Cruchten. Vor einigen Jahren noch hätten SNHBM und „Fonds de logement“ jährlich 60 bis 80 Wohnungen fertiggestellt, jetzt seien es mehrere Hundert. Große Hoffnung setzte er in die Gemeinden.
Was noch tun, um den Wohnungsmarkt anzukurbeln? Brachliegendes Baugelände müsste stärker besteuert werden. Man brauche eine Steuerreform, damit die, die viel haben, mehr beitragen, meinte Cruchten. Das Geld dort nehmen, wo es ist, forderte Reckinger. Die Spekulation auf Bauland müsse gestoppt werden, so Back. Benötigt werde eine Reform der Grundsteuer, sagte Spautz.
„Mit diesem System laufen wir gegen eine Mauer“, warnte Pregno. Der Reichtum auf der einen Seite nehme zu, auf der anderen wachse die Armut. Zunehmende Spannungen in der Gesellschaft seien die Folge. Und im Parlament würden die Interessen der Armen nicht vertreten. Erschreckend sei der wachsende Populismus im Zusammenhang mit dem Bettelverbot. CSV-Vertreter Spautz sollte seinem Parteikollegen Gloden sagen, „dass das nicht geht“, so Pregno. Die einzige Aussage, die an diesem Abend Applaus im Saal auslöste. Er habe bereits vor Monaten darauf hingewiesen, dass das (Bettelverbot) nicht der richtige Weg sei, entgegnete Spautz. Man müsse die Armut bekämpfen, nicht die Armen.
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