Gesundheit / Übergewicht und Bewegungsmangel: Wieso Luxemburg schlecht abschneidet
Der Trend ist seit langem bekannt und wird durch die Pandemie noch verstärkt: Immer mehr Kinder und Jugendliche leiden an Übergewicht. Experten bemängeln die Untätigkeit der Politik, obwohl die Wissenschaft klare Argumente liefert.
Zwischen 2012 und 2020 stieg die Zahl der übergewichtigen Grundschüler von 6 auf 9,37 Prozent, in der Sekundarstufe ist es im gleichen Zeitraum ein Anstieg von 6,90 auf 9,35 Prozent. „Das ist schon ein hoher Prozentsatz“, sagt der Kinderarzt und Sportmediziner Dr. Tobias Stadtfeld. Überrascht ist er allerdings nicht. „Wir sehen den Trend seit vielen Jahren, die Pandemie hat ihn jetzt nur noch verstärkt.“ Das stellt der Mediziner bei seiner täglichen Arbeit fest. Wobei die Entwicklung zu Beginn der Corona-Krise noch in die andere Richtung ging. „Im ersten Lockdown konnte man feststellen, dass die Kinder sich mehr bewegten. Das hat auch eine deutsche Studie feststellen können.“ Eltern hatten mehr Zeit, sich mit ihren Kindern zu beschäftigen und etwas mit ihnen zu unternehmen.
Nach dem Lockdown ging es aber gleich wieder in die andere Richtung, viele Kinder waren im Homeschooling auf sich alleine gestellt und verbrachten den Tag vor dem Fernseher oder Computer. „Es ist kein riesiger Anstieg, den ich in meiner Arbeit sehe, aber ich kann schon feststellen, dass das Übergewicht bei den Jugendlichen zunimmt“, so Stadtfeld.
Zentraler Ansatzpunkt Schule
Der Kinderarzt sieht aber auch eine soziale Dimension des Problems. „Der organisierte Sport in Luxemburg ist sehr gut aufgestellt und es gibt viele Kinder, die in Vereinen aktiv sind. Das Problem sind aber die Kinder, die nicht die Möglichkeit haben, Sport im Verein zu treiben, zum Beispiel weil die Eltern keine Zeit haben, sie zu fahren.“ Hier klaffe die Schere immer weiter auseinander. Ein Phänomen, das Dr. Sandra Heck, Sportwissenschaftlerin an der Universität Luxemburg, untermauert. „Es ist wichtig, die Eltern für dieses Thema zu sensibilisieren. Mehrere Studien zeigen, dass Kinder aus Familien mit sozioökonomisch niedrigerem Status häufiger übergewichtig sind. Dabei ist der Einbau von mehr Bewegung in den Alltag oder eine gesündere Ernährung keine Geldfrage. Eltern haben hier eine Vorbildfunktion, doch häufig wird leider ein bewegungsarmer Lebensstil der Eltern von den Kindern kopiert oder die Doppelbelastung von Familie und Beruf führt dazu, dass nach Feierabend schlichtweg die Kraft fehlt, sich intensiv mit den Kindern zu beschäftigen.“
Für Stadtfeld und Heck gibt es deshalb nur einen zentralen Bereich, an dem man ansetzen kann, und das ist die Schule. Dem stimmt auch Dr. Claude Scheuer zu. Für den Bildungswissenschaftler im Bereich Bewegungserziehung der Universität Luxemburg ist ein Umdenken unumgänglich. „Wir müssen den Kindern beibringen, wieso es wichtig ist, sich zu bewegen, welche Arten von Aktivität für sie infrage kommen und wie sie es hinbekommen, ein Leben lang aktiv zu bleiben.“ Wie fundamental dieses Umdenken ist, belegt Scheuers Arbeitskollegin Dr. Sandra Heck. „Gemäß der Weltgesundheitsorganisation werden 60 Prozent der Kinder, die vor der Pubertät übergewichtig sind, auch im frühen Erwachsenenalter übergewichtig sein.“ Ein frühes Entgegensteuern ist also von großer Bedeutung.
Gesundheitspolitisch sinnvoll
Stadtfeld betreute mal eine Sprechstunde für Patienten mit starkem Übergewicht (Adipositas). Während des Zeitraums, in dem die Sprechstunde stattfand, waren positive Effekte zu erkennen. Wenn man dann allerdings nach einer gewissen Zeit, zum Beispiel ein Jahr nach der letzten Sprechstunde, noch einmal eine Nachkontrolle veranlasste, waren die Menschen wieder in ihre alten Verhaltensmuster gefallen. „Der Bewegungserziehung und dem Schulsport einen größeren Stellenwert zu geben, wäre langfristig also eine sinnvollere Herangehensweise“, so Stadtfeld, der auf die weiteren gesundheitlichen Probleme hinweist, die durch Übergewicht hervorgerufen werden, wie Typ-2-Diabetes oder orthopädische Beschwerden. „Das kostet den Staat Geld.“ Gesundheitspolitisch wäre es also sinnvoll, verstärkt auf Bewegungserziehung zu setzen.
Übergewicht entsteht aufgrund mehrerer Faktoren. „Dazu gehören Genetik, die Umwelt und das eigene Verhalten beziehungsweise der Lebensstil. Auf die beiden letzteren lässt sich aktiv einwirken“, so Heck. Laut Weltgesundheitsorganisation sollen sich Kinder und Jugendliche durchschnittlich mindestens 60 Minuten am Tag bewegen und möglichst wenig Zeit vor dem Bildschirm verbringen. Die inaktivste Zeit ist üblicherweise die Schul- beziehungsweise Arbeitszeit.
Luxemburg schneidet schlecht ab
Im internationalen Vergleich, was Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen angeht, steht Luxemburg nicht gut da, wie aus der „Health behaviour in school-aged children“, kurz HBSC-Studie, hervorgeht. Woran das genau liegt, sei schwer auszumachen, sagt Scheuer. Die Gründe gehen sicherlich über den Faktor Bewegungserziehung und Schulsport hinaus. So schneiden skandinavische Länder bei diesen Studien relativ gut ab. „Die haben eine ganz andere, bewegtere Lebensweise als wir hier in Zentraleuropa“, sagt Stadtfeld. „Sie haben aber auch eine ganz andere gesellschaftliche Organisation. In Sachen Work-Life-Balance sind sie uns weit voraus. Das spielt in Sachen gesundem Lebensstil sicherlich auch eine Rolle.“ In Skandinavien werden Eltern von Arbeitgeberseite häufiger familienfreundliche Arbeitszeiten angeboten, sodass mehr Raum und Zeit für die eigenen Kinder bleibt bzw. dafür, Familie und Karriere unter einen Hut zu bringen. Das hilft allen Eltern, aber vor allem der zunehmenden Anzahl an Alleinerziehenden.
Luxemburg schneidet allerdings auch im Vergleich mit seinen Nachbarn schlecht ab. „Vielleicht liegt das an unserem noch größeren Wohlstand, aber das ist eher Spekulation als dass man es wissenschaftlich nachweisen könnte“, sagt Scheuer. Der Bildungswissenschaftler verweist aber auf die Tatsache, dass in Ländern wie den Niederlanden, die in der HBSC-Studie gut abschneiden, die Bewegungserziehung eine wesentlich größere Rolle spiele. So wurde in den Niederlanden das 2-2-1-System eingeführt. Zwei Stunden Schulsport, eine weitere Stunde Bewegung während des Unterrichts sowie zwei Stunden freiwilliger Sport nach der Schule. Andere Länder, wie zum Beispiel Ungarn, gehen noch weiter und versuchen, die Vorgabe der WHO umzusetzen, indem sie auf sämtlichen Klassen eine tägliche Sportstunde eingeführt haben. „Das sind alles Initiativen, die man langfristig beobachten muss, um die richtigen Effekte festzustellen“, sagt Scheuer. Aber diese Länder würden zeigen, dass mehr Bewegung möglich ist, wenn der Wille vorhanden ist.
Die tägliche Sportstunde in der Schule ist übrigens auch eine Forderung der internationalen Gesellschaft für pädiatrische Sportmedizin, der Stadtfeld angehört. „Die Wissenschaft ist eigentlich eindeutig auf diesem Gebiet. Mehr Sport und Bewegung können sich auch positiv auf das Lernen auswirken“, sagt der Kinderarzt. Sogar wenn zusätzliche Sportstunden eingeführt werden und deshalb andere Stunden wegfallen, habe das keinen negativen Einfluss auf das Lernverhalten der Schüler. „Sämtliche Studien kommen entweder zu dem Schluss, dass das Lernverhalten der Schüler gleich bleibt oder der zusätzliche Sport sogar einen positiven Einfluss hat. Es gibt meines Wissens keine Studie, die einen negativen Einfluss auf das Lernverhalten feststellen konnte.“ Doch Gedichte lernen oder das Lösen mathematischer Aufgaben in Bewegung bleiben trotz der eindeutigen Studienlage in der Praxis noch die Ausnahme.
Zeit und Geld investieren
Bildungsminister Claude Meisch hatte sich immer wieder gegen zusätzliche Sportstunden ausgesprochen und dies mit einem überfüllten Lehrplan begründet. Das Gesundheitsministerium hat bei der Veröffentlichung der Daten zum Übergewicht darauf hingewiesen, dass diese ohne den nationalen Aktionsplan „Gesond iessen, méi bewegen“ (GIMB) wohl noch schlechter ausfallen würden. Mit konkreten Zahlen kann das Ministerium diese Aussage nicht untermauern. Man beruft sich aber auf die HBSC-Studie, die zeige, dass Schüler mehr Obst essen würden, was auf die Aktion „Fruit for School“ aus dem GIMB zurückzuführen sei.
Scheuer zufolge könnte man noch wesentlich mehr Erkenntnisse aus dem nationalen Aktionsplan ziehen. „Natürlich ist es nicht einfach, konkrete Daten in diesem Bereich zu erheben, aber man könnte auch für den Bereich Bewegung ein Monitoring durchführen.“ Scheuer nimmt die „Epreuves standardisées“ in den Grund- und Sekundarschulen als Beispiel, mit denen das Niveau der Schüler in verschiedenen Fächern verglichen werden soll. „Wieso soll man nicht einmal im Jahr mit einer repräsentativen Stichprobe untersuchen, wie viel sich die Schüler bewegen?“
Scheuer, der auch als Experte für den Bereich Bewegung beim Aktionsplan „Gesond iessen, méi bewegen“ involviert ist, sieht aber noch andere Schwächen. „Im Rahmen des GIMB wurden sehr viele Initiativen ausgearbeitet, von denen aber lediglich ein Bruchteil umgesetzt wurde.“ Dieses Phänomen erkennt der Bildungswissenschaftler öfters in Luxemburg. „Zum Beispiel wurde das Konzept für die Bewegungserziehung von Kindern im Alter von 0 bis zwölf Jahren ausgearbeitet. Darin steht alles, was man braucht, aber was wird denn davon umgesetzt?“ Oftmals würden diese guten Initiativen an zwei Gründen scheitern: dem Geld und der Zeit. In Sachen Bewegungserziehung und gesünderem Lebensstil sind keine schnellen Erfolge zu verzeichnen. Das schrecke die Politik wohl auch davon ab, das nötige Geld in die Hand zu nehmen. „Man braucht einen langen Atem, aber ich hätte gehofft, die Pandemie hätte uns den Wert eines gesunden und aktiven Lebensstiles erkennen lassen“, so Scheuer.
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