Flucht nach Luxemburg / Ukrainerin Tetiana: „Habe am ganzen Körper gezittert“
Als ganz normale Frau führt die Ukrainerin Tetiana in Kiew ein ganz normales Leben. Als sie am Abend des 23. Februar ins Bett geht, weiß die 40-Jährige nicht, dass ihre Welt in den frühen Morgenstunden auf den Kopf gestellt werden wird. Seit Ende Februar ist Tetiana nun in Luxemburg und hat wie Millionen andere Menschen aus der Ukraine eine nervenaufreibende Flucht hinter sich. Wie es für sie weitergehen wird, ist ungewiss.
Tetiana läuft durch die rue des Capucins in Luxemburg-Stadt. Obwohl die Sonne am strahlend blauen Himmel steht, sind es an diesem Morgen im März nur einige Grad über Null. Die 40-Jährige zieht den beigefarbenen Mantel enger um sich, denn sie friert. Die schwarze Bluse unter dem Mantel hält bei den niedrigen Temperaturen nicht wirklich warm. Aber es ist quasi eines der einzigen Kleidungsstücke, die Tetiana dabei hat: Die Bluse, eine schwarze Hose, drei dicke Schmöker über Psychologie, und Vitamine, nahm die Ukrainerin mit, als sie vor wenigen Tagen ihr Leben in eine Tasche packen musste – innerhalb von 20 Minuten.
Denn Tetiana lebt und arbeitet als Gerichtsexpertin für unter anderem psychologische Gutachten in der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Seit dem militärischen Angriff Russlands auf ihr Heimatland, steht ihr Leben Kopf – wie auch das von Millionen anderen Ukrainern. „Mein Mann weckte mich um fünf Uhr und sagte, dass der Krieg begonnen hat. Wir öffneten das Fenster und hörten Bomben“, erinnert sich Tetiana bei einer Tasse Milchkaffee. Sie erzählt das auf Englisch, bemerkenswert gefasst. Am frühen Morgen des 24. Februar packen die Ukrainerin und ihr Mann ihre Sachen und flüchten in die Tiefgarage des Wohngebäudes. Mit anderen Familien harren sie im Auto auf Etage -3 Tag und Nacht aus.
Unschuldige Tote
„Im Internet lasen wir, dass Krieg sei. Wir hörten Sirenen“, erzählt die Ukrainerin und sagt dann: „Krieg in 2022 – wie kann das sein?“ Immer wieder wird die Frau mit dem blonden Haar und den hellblauen Augen diese Frage während des Gesprächs stellen. Überall in den Straßen sind russische Soldaten, wie sich Tetiana erinnert: „Ich hätte niemals gedacht, dass sie auf kleine Kinder schießen. Auf einen alten Mann, der nur schnell zur Apotheke will. Die Menschen haben keine Waffe und es wird auf sie geschossen. Das ist Terrorismus.“ Und so sagt Tetiana, dass es sich bei dem Angriff nicht um eine militärische Operation, sondern um „militärischen Mord“ handelt. Auf ihrem Handy gibt es zahlreiche Bilder von brennenden Häusern, zerstörten Brücken sowie Städten, über denen Rauchschwaden zu sehen sind. Tetiana wird nie vergeben, was ihrer Heimat angetan wurde.
Die Mutter der 40-Jährigen lebt mehr als 800 Kilometer von Kiew entfernt. Nach den ersten Attacken fordert sie ihre Tochter auf, sich in Sicherheit zu bringen. Die Mutter selbst bleibt in der Ukraine, ebenso ihre Schwester. Tetianas Bruder geht zur Armee. Auf ihrem Smartphone gibt es auch ein Foto von ihm – in Kampfmontur und mit Waffe in der Hand. Tränen treten in ihre Augen, als sie über ihre Lieben spricht. Sie erzählt dann von dem Versprechen, das sie ihrem Mann gibt: dass sie dessen Mutter und Schwester in Sicherheit bringen wird. Nach zwei Tagen und Nächten in der Tiefgarage, fährt Tetianas Mann seine Frau, seine Mutter, die Schwester sowie eine Frau und ihre Tochter in einem kleinen Auto an die polnische Grenze.
Wie lange sie unterwegs sind, weiß Tetiana im Nachhinein nicht mehr. An der Grenze erwarten die Gruppe überfüllte Bahnhöfe und kilometerlange Fahrzeugschlangen. Ältere Menschen und Frauen mit Kindern sitzen in den Autos. Nächtelang. Mit ihrem Handy hat sie ein Video der Autoschlangen gemacht. Die Menschen warten, haben Durst und Hunger, müssen ihr Geschäft am Wegesrand erledigen. Die sanfte und doch so starke Frau erinnert sich nicht mehr genau an die Geschehnisse an der Grenze, will das vielleicht auch nicht. Die Flucht nach Polen aber gelingt der Gruppe.
Große Hilfsbereitschaft
Vom Flughafen im polnischen Krakau ist Tetiana eines in Erinnerung geblieben: Die Hilfsbereitschaft der Menschen. „Sie haben uns verstanden – auch ohne viele Worte“, erzählt sie dankbar. Eine Frau hilft ihr dabei, aus Papier eine kleine, blau-gelbe Fahne zu basteln, die die Ukrainerin sich an die Kleidung pinnen kann. Auch bei dem Gespräch in der Luxemburger Hauptstadt hat sie das Fähnchen dabei. Sie hält es in der Hand, an der ein Fingernagel blau und ein anderer gelb lackiert ist. In Krakau steigt die Frauengruppe in einen Flieger Richtung Frankreich. Die Familie ihres Mannes bleibt dort, Tetiana macht sich weiter auf den Weg nach Luxemburg. Dort kann sie in den ersten Tagen bei einem Freund unterkommen, den sie schon einmal besucht hat. Bei ihrer Ankunft am 28. Februar im Großherzogtum weint sie. Der Freund weint mit ihr. „Am ganzen Körper habe ich gezittert, während Stunden“, erinnert sich Tetiana.
Warum die stolze Ukrainerin, wie so viele andere, ihre geliebte Heimat verlassen musste, versteht sie nicht. „Alle müssen aus meinem Land fliehen. Dabei haben wir ein normales Leben gelebt. Ich bin zur Arbeit gegangen, habe gekocht – eine einfache Frau, mit einem normalen Leben“, wiederholt sie. Und man merkt, dass sie es immer noch nicht glauben kann. „Es gab keine Probleme. Bis die Russen kamen. Sie denken, dass wir Probleme haben, aber das haben wir nicht“, erklärt Tetiana wütend und erhebt zum ersten Mal während des Gesprächs die Stimme. Sie steht voll und ganz hinter „ihrem Präsidenten“, wie sie sagt. Selenskyj – der Mann, der bei seinem Volk bleibe.
Wie es für Tetiana weitergehen wird, ist ungewiss. Während einem Telefonat am Mittwoch informiert sie plötzlich darüber, dass sie sich mit dem Flieger auf den Weg zurück zur polnischen Grenze macht. Um die eigene Schwester mit ihren Kindern abzuholen. „Sie kann kein Englisch. Und ich kann nicht einfach hier sitzen und warten“, erklärt sie. Schon im Gespräch zuvor hatte Tetiana erklärt, dass sie nicht untätig bleiben könne und da helfen wolle, wo sie kann. Da sie unter anderem ein Studium in Psychologie absolviert hat, hofft die 40-Jährige, anderen Geflüchteten in Europa eine Unterstützung sein zu können.
Doch eigentlich wünscht sie sich aus tiefstem Herzen nur eines: in ihre Heimat zurückzukehren. Sie will zu dem, was sie kennt. Will nach Hause. „Ich muss doch meine Pflanzen gießen“, erklärt sie mit einem leisen Lächeln und fügt traurig hinzu: „Ich will in meinem Land aufwachen und bei meiner Familie sein.“ Es ist wohl dieser sehnliche Wunsch, der am gestrigen Mittwoch zum Kauf des Flugtickets nach Polen führte. Tetiana denkt an eine Zeit nach dem Krieg: „Ich hoffe, dass ich in zwei Wochen nach Hause kann. Und dann werden wir mit viel Energie und Kraft alles wieder aufbauen. Und wieder ein glückliches Leben führen. Wir werden eine neue Seite der Geschichte schreiben.“
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