Theater / Unendlicher Spaß: „Verrückt nach Trost“ von Thorsten Lensing
Vier Jahre nach der mutigen, elliptischen David-Foster-Wallace-Adaptierung kehrt Thorsten Lensing mit seinem ersten selbst verfassten Text und vier unglaublich tollen Schauspielern zurück ins Grand Théâtre, das seinen Namen am Abend der Luxemburgischen Uraufführung dieses dreistündigen Meisterwerks besonders gut trägt.
Alles beginnt mit fliegenden Quallen, einem Make-Believe-Spiel und ein paar Metaebenen: Um sich über den Verlust der Eltern hinwegzutrösten, schlüpfen Charlotte (Ursina Lardi) und Felix (Devid Striesow) regelmäßig in die Rollen ihrer toten Eltern. Mama-Papa-Spiel nennt Felix dies, ein bisschen albern findet Charlotte das, Spaß macht es den beiden trotzdem, wenn Papa-Felix-Devid Mama-Charlotte-Ursina „Saufziege“ nennt, diese dann aber in einer dieser durch und durch ernsthaften Verhandlungen der kindischen Spielregeln meint, der Vater hätte sie viel eher „Spritbacke“ genannt.
Vor einer riesigen Meereskulisse – das Bühnenbild besteht aus einem riesigen Stahlrohr, ganz so, als wäre der Mensch nicht mehr fähig, die Ölpipeline vom Ozean zu unterscheiden –, loten beide das kathartische Spielfeld aus, Felix erklärt, Orang-Utans wären „Menschen, die sich weigern, zu sprechen, aus Angst, sonst arbeiten zu müssen“, die Geschwister amüsieren sich prächtig, bis Charlotte auf einmal innehält und ganz bestimmt, ein bisschen wie in einer der Schlüsselszenen von Lukas Dhonts schönem „Close“, sagt: „Ich spiele nicht mehr mit“. „Aber dann sind Mama und Papa doch tot“, entgegnet Felix entsetzt und fleht sie an, weiterzumachen – man könne das Spiel ja zukünftig einfach seltener spielen.
Nach zwanzig Minuten Herumalbern wirkt sie entwaffnend, diese von allem Pathos befreite Trauer, die am Ende des ersten Tableaus eines fast dreistündigen Stücks durchschimmert – ein Stück, im Laufe dessen wir einem melancholischen Taucher, einem sprechenden Oktopus, einem mal weinenden, mal lüsternen Pflegeroboter, einem schreienden Riesenbaby namens Denis, einer ambitiösen Spitzensportlerin, einer Kuh im Schlachthof, einer trägen Schildkröte mit Schluckauf und einem unglaublich lustigen Orang-Utan begegnen.
Die Aneinanderreihung dieser Tableaus folgt dabei mehr einer assoziativen Logik als einem klaren narrativen Gerüst, auch wenn wir lose den Lebensgeschichten der beiden Waisen Felix und Charlotte folgen. Dieser pseudomimetische Handlungsverlauf ist aber vielmehr ein Vorwand, um dem Einfallsreichtum von Lensing, seinen beiden Dramaturgen Thierry Mousset und Dan Kolber sowie den vier begnadeten Schauspieler*innen Eckpfeiler zu setzen: In „Verrückt nach Trost“ spürt man eine seltene erzählerische und inszenatorische Freiheit – ein Romanbeginn führt zu einem Stück im Stück, eine Diashow animiert sich, Identitäten, Rollen und Texte werden porös, Welpen „lecken Rheuma weg“, ein Taucher rezitiert Gedichte „bis alles in Schutt und Asche liegt“, Wörter und wie von Geisterhand erschienene Accessoires werden zu Regieanweisungen und Mikrofiktionen.
Weil die Welt eben nicht so gemacht wurde, damit jeder in ihr klarkommt, liegt es an uns, andere mögliche Welten zu skizzieren, in denen Trost spendende Alternativen inszeniert, philosophische Konzepte auf den Kopf gestellt, menschliche Grundbedürfnisse verhandelt und in ein anderes, poetischeres Licht gestellt werden.
Als wir Waisen waren
Ich glaube, es war Jonathan Frantzen, der einmal schrieb, David Foster Wallaces „Infinite Jest“ müsste eigentlich, wenn es denn eine wahre Korrelation zwischen Titel und Inhalt gäbe, „Infinite Sadness“ heißen. Dass dies nicht so ganz stimmt, zeigte Thorsten Lensing vor vier Jahren mit seiner arg gekürzten und streckenweise äußerst ulkigen Romanadaptierung von diesem 1.500-seitigen „novel to end all novels“ – wer sich an Blombergs Vogel-Herzinfarkt im Plantschbecken erinnert, weiß, was ich meine.
Lensings erstes eigens verfasstes Stück trägt dabei deutlich die Spuren seiner Auseinandersetzung mit Foster Wallaces unendlich spaßigem Roman – in einer langen Sequenz erklärt Felix seinem Liebhaber Mathias (André Jung), er könne seinen Körper nicht spüren, wenig später entdeckt Felix einen Lautsprecher, aus der Intimgeräusche aus dem Badezimmer einer von Mathias’ Exfreunden tönen. Felix zeigt sich erst über die voyeuristischen Neigungen entsetzt, schlussfolgert dann aber: „Eigentlich tun wir das doch alle – mit den Menschen weiterleben, die wir mal geliebt haben.“
Dieses Umkippen des Skurrilen ins Melancholische, diese körperlichen Metaphern, die seelischen Unfrieden verdichten – all das sind Dinge, die unweigerlich an „Infinite Jest“ erinnern. Selbst die Auseinandersetzung des US-amerikanischen Autors mit Wittgenstein und dem Solipsismus findet man hier und da wieder – bei der Kuh, die kein Ich hat, bei Felix’ Unfähigkeit, zwischen seinem Schmerzen und dem, den andere erleiden, zu unterscheiden.
Trotzdem wirkt Lensings „Verrückt nach Trost“ keineswegs wie eine B-Seiten-Sammlung aus verworfenen Ideen seiner vorigen Inszenierung. Im Gegenteil: Huldigte „Unendlicher Spaß“ streckenweise etwas zu sehr dem Genie seiner Vorlage, gelingt es Lensing nun definitiv, inmitten der oft etwas trostlos wirkenden Alternative zwischen klassisch-narrativem und postdramatisch-dekonstruktivistischem Theater, einen dritten Raum zu öffnen: Hier werden Taucher zu Schildkröten, Romane, Accessoires fallen vom Himmel, jedes Bühnenelement dient dem Antreiben der theatralischen Dynamik.
Die Figuren spielen dabei gegen den Tod und die Vereinsamung, gegen die Melancholie und die Tristesse an. In „Verrückt nach Trost“ geht es um unsere Wandlungsfähigkeit, um unausgeschöpfte Potenzialitäten, um Menschen, die fürchten, „der Welt nichts zu sagen zu haben“, um die Angst vor dem Abstumpfen, um Trauerbewältigung, um die Poesie einer Welt, die der Mensch zerstört, ohne sich ihrer Vielfalt auch nur bewusst zu sein.
In Emmanuelle Bayamack-Tams vor ein paar Wochen mit dem Prix Médicis ausgezeichneten „La Treizième heure“ bedauert die junge Erzählerin Farah, dass sich die Menschheit fast ausschließlich für Hunde, Katzen und Pferde interessiert – dabei gibt es 7,7 Millionen Tierarten. Für sie ist dieses trist-banale Podium ein klarer Beweis, wie einfallslos die meisten Lebenden doch sind. Dieselbe Farah schreibt gen Ende des Romans: „Ce serait peut-être l’occasion pour moi d’emprunter la piste animale, de me changer en lion blanc du Namib ou en crotale venimeux du Mojave, mais je préfère me garder la possibilité de rester humaine: il y a tant de façons de l’être et j’en ai essayé si peu.“
Genau hierum scheint es Lensing zu gehen: „Verrückt nach Trost“ ist gleichzeitig ein Pamphlet gegen die Einfallslosigkeit und ein Plädoyer dafür, den verschiedenen Lebensformen, ob menschlich oder tierisch, ihre verdiente Aufmerksamkeit zu schenken. Und alleine für André Jungs Orang-Utan, einen heißen Anwärter auf eine leider noch nicht existierende Auszeichnung für die Beste Tierrolle (wären da nicht Sebastian Blombergs Schildkröte oder Ursina Lardis sprechender Oktopus), lohnt sich der Abend.
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