Editorial / Ungleiches Abhängigkeitsverhältnis: Über die Beziehungen der Grenzgemeinden zu Luxemburg
„Wenn Luxemburg niest, bekommt Arlon die Grippe.“ Besser als der Arloner Bürgermeister Vincent Magnus im Tageblatt-Interview kann man das Abhängigkeitsverhältnis in der Großregion nicht beschreiben. Das Interview ist der Auftakt einer Serie, wie unsere unmittelbaren Nachbarn die Nähe zu Luxemburg erleben. Magnus’ Aussage zeigt, wie sehr die einzelnen Regionen miteinander verbunden sind. Luxemburg ist auf die Arbeitskraft der Grenzgänger angewiesen, diese wiederum auf die attraktiveren Arbeitsplätze im Großherzogtum. Aufgrund dieser Tatsache ist es für Grenzgemeinden allerdings schwierig, selbst wirtschaftliche Aktivität zu haben. Wer will noch in Arlon, Villerupt oder Perl arbeiten, wenn er oder sie ein paar Kilometer weiter ein wesentlich höheres Gehalt beziehen kann? Hinzu kommen die Auswirkungen auf die Wohnungspreise, die in der Grenzregion rasant ansteigen. Die Herausforderungen der einzelnen Grenzgemeinden ähneln sich, dennoch ist ihre Situation und ihre Sicht auf die Nähe zu Luxemburg unterschiedlich.
Während die belgischen Gemeinden von Luxemburg eine Ausgleichszahlung für entgangene Steuereinnahmen der Grenzgänger bekommen, gehen deutsche und französische Kommunen leer aus. Ihnen fehlt oftmals das Geld, um Straßen oder Gebäude in Schuss zu halten. Das hat zur Folge, dass die Grenzen zwischen Luxemburg und seinen Nachbarn heute zum Teil sichtbarer sind als vor 30 Jahren. Früher zog es Luxemburger noch auf die Märkte in Villerupt oder Thionville, Gegenden, die heute immer mehr zu Servicewüsten werden. So verwundert es auch nicht, dass Menschen in der Großregion nicht europäischer denken als ihre Landsleute. Bei den französischen Präsidentschaftswahlen 2022 holte Le Pens Rassemblement national in vielen Gemeinden um Luxemburg die meisten Stimmen. Die Menschen fühlen sich abgehängt und es stellt sich die Frage der Verantwortung Luxemburgs als großer Nutznießer der Großregion.
Die Forderung nach Ausgleichszahlungen für Frankreich und Deutschland gibt es bereits lange und es wäre ein großer Schritt in Richtung mehr Gerechtigkeit. Hierbei geht es auch nicht darum, einem Bürgermeister die Weihnachtsdekoration zu bezahlen, wie der ehemalige Premier- und heutige Außenminister Xavier Bettel (DP) vor einigen Jahren einmal meinte. Zumindest gibt es jetzt etwas mehr Gerechtigkeit für die Grenzgänger. Der Europäische Gerichtshof hat diese Woche entschieden, dass Grenzgängern die gleichen Familienleistungen zustehen wie Arbeitnehmern, die in Luxemburg leben.
Ein weiterer Schritt wäre eine Wirtschaftspolitik, die verstärkt über die Landesgrenzen hinausgeht. Anstatt sich über die fehlenden Steuereinnahmen eines großen schwedischen Möbelhauses zu beklagen, sollte man den belgischen Nachbarn diese Einnahmen gönnen. Im Regierungsprogramm von CSV und DP steht, man würde die Schaffung von grenzüberschreitenden Gewerbegebieten unter genau festgelegten Bedingungen fördern. Wenn die „genau festgelegten Bedingungen“ eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe zulassen, kann es sich um eine Maßnahme handeln, die für mehr Gerechtigkeit in der Großregion sorgt.
Luxemburg steht als starker Partner definitiv in der Verantwortung. Bei aller Ungleichheit innerhalb der Großregion sollte man allerdings nicht vergessen, dass auch Belgien, Frankreich und Deutschland vom Luxemburger Reichtum profitieren. Stichwort Kaufkraft. Wie die Großregion aussehen würde, wenn Luxemburg sich nicht zu einem wichtigen Finanzstandort entwickelt hätte, will man sich lieber nicht ausmalen. Auch das ist Teil der Realität.
- Wie der Ochse vorm Weinberg: Die Tageblatt-Redaktion versucht sich als Winzer - 20. November 2024.
- Auf der Suche nach besseren Zeiten - 9. November 2024.
- Wie die Lokaljournalisten Kayla und Micah gegen die Polarisierung ankämpfen - 3. November 2024.
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können.
Melden sie sich an
Registrieren Sie sich kostenlos