Shortlist des deutschen Buchpreises / Unsichtbare Welten: „Winterbienen“ von Norbert Scheuer
Ein Bienenzüchter verhilft jüdischen Flüchtlingen über die belgische Grenze, indem er sie in präparierten Bienenstöcken versteckt. Norbert Scheuer fängt das stille Chaos der letzten Kriegsjahre 1944 und 1945 in einer sprachlich starken Erzählung ein, die ihre Hauptfigur ohne Pathos einfühlsam porträtiert.
Januar 1944. Das Kriegsende naht, die Bomber der Alliierten verwandeln die deutschen Städte in Ruinenfelder. Erzähler Egidius Arimond lebt in einem Bergarbeiterstädtchen in der Eifel. „Hier (…) leben fast nur noch Frauen und Kinder, Verwaltungsbeamte, Wachsoldaten, dazu gefangene Polen, Russen und Ukrainer, die im Zementwerk, in Zeisers Mühle oder auf den Höfen der umliegenden Dörfer schuften.“
Egidius, von Beruf eigentlich Latein- und Geschichtslehrer, wurde nicht eingezogen, da er unter epileptischen Anfällen leidet – der Apotheker, der ihm (anfangs noch) widerwillig seine Medikamente verkauft, betrachtet ihn, wie die meisten der Einwohner, wegen seiner Krankheit und des Verdachts auf subversive Tätigkeiten gegen das NS-Regime als „Volksschädling“.
Seinen Alltag verbringt er zwischen der verlassenen Stadtbibliothek, in der er die Memoiren eines Vorfahrens – eines Mönchs, der sich in eine schöne Frau verliebt, sein Kloster verlassen und von der Bienenzucht gelebt hat – ins Deutsche übersetzt, der Einsamkeit seines Daheims, in dem er seine Bienen züchtet, und der Gastwirtschaft seiner Cousine Sanny, in der sich Alkoholiker, Feldjäger, Gendarmen und (teilweise) betörende Frauen, deren Ehemänner im Krieg kämpfen und fallen, tummeln.
Alkoholiker, Gefangene und „Volksschädlinge“
Unentwegt verzeichnet er die Flieger, die über den Himmel kreisen – mal ist es eine amerikanische Mitchell B-25, dann zwölf britische Martin A-22, später sind es Vickers Sturzkampf-Aufklärer. Arimonds Kenntnisse der Bomber erlauben es ihm, die Nähe und Gefahr, die von ihnen ausgeht, rechtzeitig zu erkennen.
Von den Bomben bleibt das Bergstädtchen zurzeit weitestgehend verschont, auch wenn es zu Beginn seiner Tagebuchführung in Aufruhr gerät – ein amerikanisches Flugzeug ist abgestürzt, eines der Besatzungsmitglieder konnte flüchten, weswegen ein Suchtrupp sich aufmacht, um den Piloten ausfindig zu machen.
Das Bergschadensgebiet der Eifel erschwert dem Suchtrupp die Arbeit, seine „vergessenen Labyrinthe aus Schächten und Gängen“, seine „Hohlräume und Stollen“ – eine Beschreibung, die an den Süden Luxemburgs, wie ihn Jean Portante in seinen Romanen porträtiert, erinnert – sind ein optimaler Unterschlupf. Als Kind hat Egidius mit seinem Bruder Alfons – einem Kriegshelden, der wie Franz Pökler in Thomas Pynchons Gravity’s Rainbow davon träumt, eines Tages mithilfe der deutschen Raketen auf dem Mond zu landen – genau diese Unterwelt erforscht – ohne zu wissen, wie wichtig die Entdeckung eines geheimen Einstiegs zu den später sein würde.
Bienenstöcke als Tarnung
Denn um sich seine teuren Medikamente leisten zu können, bringt Egidius Arimond jüdische Flüchtlinge in präparierten Bienenstöcken über die belgische Grenze. In einen Lockenwickler, den Arimond ans Revers des Flüchtlings heftet, versteckt der Bienenzüchter eine Bienenkönigin, sodass die Bienen im Falle einer Kontrolle die geheimen Passagiere tarnen; die Aufträge entnimmt er rindsledergebundenen Bänden in der Bibliothek.
In den kurzen Tableaus seiner Begegnungen mit den jüdischen Flüchtlingen – der aufgeschreckten Esther und ihrem Baby, der arrogante, weltfremde Akademiker und Literaturkritiker –, in den Reaktionen dieser Menschen, die er tagelang in der Unterwelt des Stollens versteckt, liest man mehr über die Schrecken des Nationalsozialismus als in so manch pathosgeladenen Werk.
In kurzen Einträgen schildert Egidius seinen Alltag, erwähnt die Leidenschaft, die er für die Frau des Kreisleiters entwickelt, schildert die ständige Angst, denunziert zu werden, ebenso schonungslos wie die nervenaufreibenden Transporte seiner „Bienenstöcke“ über die Grenze, beschreibt den Flug der Bomber genauso akribisch wie die Wintervorbereitungen seiner Bienen, ist ein geduldiger Interpret einer unsichtbaren, mikroskopischen Welt, die von den wenigsten wahrgenommen wird und lässt so Verknüpfungen und Kontraste zwischen den Dingen entstehen – der friedliche Flug der Bienen, der ihn auch in Momenten epileptischer Anfälle beruhigt, steht im Kontrast zu dem aggressiven Aufheulen der Bomber.
Als Kind erforschte er mit seinem Bruder das Berggebiet, ein Sprengbunker aus dem vergangenen Krieg wurde zur Raumkapsel, „mit der wir zu den Sternen reisten“ – in der Kriegszeit erleidet die Region weitere Narben, weitere Metamorphosen der Zerstörung, die unschuldige Weltsicht seiner Kindheit war ein kurzes Interludium zwischen den beiden Weltkriegen.
Blutige Teleologie
Bienen „können ihr Gesellschaftssystem nicht neu erfinden, ihre Königin nicht einfach töten und eine Republik ausrufen“, das Bienenvolk „scheint aufs Beste fürs Überleben und die Wohlfahrt des Volkes eingerichtet“: Die Zuverlässigkeit des Zyklischen hebt sich von dem sinnlosen Töten und Meucheln seiner „Mitmenschen“ ab. Die Menschheit hat sich von dem natürlichen Lebenskreis entfernt, um ihre eigene Geschichte sinnstiftend zu schreiben – diese Teleologie ist allerdings eine blutige, traumatische.
Wie in „Les Bienveillantes“ wird das Chaos gegen Kriegsende durch die halluzinogene Weltwahrnehmung des Erzählers widergespiegelt – mit der zunehmenden Frequenz an Flugangriffen und heulenden Sirenen steigt auch die Anzahl der epileptischen Anfälle, gen Ende des Buches werden Arimonds Einträge zunehmend abstrakt, die lyrische Knappheit dieser Kapitel („Dröhnende schwarze Striche schieben sich über den Himmel“) kontrastieren mit der Genauigkeit der vorhergehenden Kapitel – in beiden Fällen allerdings überzeugt Scheuers schnörkellose, poetische Sprache.
Während Tote aus den Gräbern geschleudert werden und in den frisch aufgerissenen Trichtern zum zweiten Mal beerdigt werden, die Feuchtigkeit des Stollens „mit unserer Angst von der Decke zu tropfen scheint“, berichtet der „Völkische Beobachter“ beharrlich vom bevorstehenden Endsieg – der Blindheit der Nazipropaganda hält die Erzählfigur eine stets intelligente, behutsame, empathische Weltsicht entgegen. In diesem Sinne sind Scheuers „Winterbienen“ ein schönes Plädoyer für eine humanistische Existenz, die den dunkelsten aller Zeiten ein wenig Licht und Schönheit entgegensetzt. Wie die Winterbiene bringt Egidius die nötige Wärme, um „das Überleben und die Wohlfahrt“ seiner Mitmenschen zu garantieren.
Info
Norbert Scheuer, „Winterbienen“, C.H. Beck, 319 Seiten, ISBN 978-3-406-73963-7
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