Musik / Verzerrte Wirklichkeiten: TUYS über ihr neues Konzeptalbum „Reality Management Ltd.“ und den Kurzfilm dahinter
Während ich zwischen den klobigen Gebäuden inmitten der Industrielandschaft auf Belval schreite, um mich frühmorgens mit der Luxemburger Band TUYS über ihr neues, dystopisches Album zu unterhalten, beschleicht mich ein Gefühl der Unwirklichkeit: Im Zentrum der neuen Platte der Indie-Band steht „Reality Management Ltd.“, eine Firma, die in einem eckigen Bürogebäude unzufriedenen Menschen alternative Realitäten anbietet. Tun Biever, Sam Tritz, Yann Gengler und Neuzugang Tom Zuang sind während der Pandemie nach Berlin gezogen, um dort ein Konzeptalbum über Wirklichkeit und Wahrheit zu schreiben. Das Resultat ist eine Platte, in der die Verzerrung im Zentrum steht.
Ein Mann in grauem Kostüm steckt sich eine Zigarette an. Hinter ihm füllt ein eckiges Gebäude den Schirm. „Is this Reality Management Ltd.?“, erkundigt sich eine Frau, die vorerst hors-champ bleibt. Der Mann nickt stumm, gibt der Frau ein Zeichen, ihm zu folgen, die Kamera folgt ihnen ins Innere des Gebäudes, während flirrende Sci-Fi-Synthies eine unheimliche Atmosphäre erzeugen.
Reality Management Ltd., die Firma, die in diesem kantigen Gebäude sesshaft ist, verkauft alternative Wirklichkeiten an Menschen, die mit ihrer eigenen Realität unzufrieden geworden sind – so träumt ein Stuntman davon, in einer Videospielrealität zu leben, eine Wissenschaftlerin (Sarah Lamesch) möchte, dass ihre Forschungsarbeit über eine Droge und ihr Potenzial, Menschen dazu zu bringen, die Wahrheit zu sagen, anerkannt wird.
Was wie eine Dystopie aus der Feder von Philip K. Dick klingt, ist die Fiktionswelt, welche die Indie-Band TUYS für ihr neues Album entwickelt hat – eine Platte, die zudem von einem Kurzfilm, dessen Eröffnungssequenz ich eben beschrieben habe, begleitet wird.
„Nach unserem vorigen Projekt hatten wir wieder verstärkt Lust auf eine zusammenhängende Platte“, so Sam Tritz. „‚A Curtain Call For Dreamers‘ war eigentlich eine Zusammenstellung verschiedener Singles, sodass die Songs in sehr verschiedene Richtungen gingen – was auch Ziel der Sache war.“ Um diesen Eindruck der Vielfältigkeit noch zu verstärken, engagierte man für jeden Song einen anderen Produzenten – so war das Konzept hinter „A Curtain Call For Dreamer“ sozusagen das der Konzeptlosigkeit.
Ein Grund mehr, für das neue Album wieder verstärkt auf Kohäsion und auf einen roten Faden zu setzen. Um dies zu bewerkstelligen, entschied sich die Band, zusammen nach Berlin zu ziehen – und vorher eine Art Blaupause zu erstellen, um gemeinsam zu entscheiden, in welche stilistische Richtung die Songs gehen sollten. „So ganz nach Plan haben wir dann doch nicht komponiert – aber wenn man drei Songwriter hat, hilft es definitiv, sich immerhin ein bisschen einen Rahmen zu setzen.“
Dunkel, kantig, verzerrt
Wie sehr Berlin die Platte geprägt hat, ist laut TUYS schwer zu beurteilen. „Es gibt diese Dunkelheit, dieses Kantige, das schon sehr an Berlin erinnert. Trugen wir diese Dunkelheit in uns – und Berlin hat sie ans Licht gebracht? Oder ist sie nur der Stadt geschuldet?“, sinniert Tun Biever, während Sam Tritz prosaisch hinzufügt: „Das erste Jahr Berlin war hauptsächlich Pandemie und Lockdown. Wir haben uns also meistens in unserer Wohnung aufgehalten.“
Aber genau dieses Gefühl der Beklemmung war wiederum wesentlich für die Stimmung und die Story hinter der Platte: „Während der Pandemie fühlten wir uns manchmal ein bisschen verloren und fingen an, uns Fragen darüber zu stellen, wie formbar Wirklichkeit heutzutage ist“ – eine Frage, die während des Lockdowns, wo die Realität fast nur noch digital war, wesentlicher denn je wurde. „Weil die Platte verhandelt, was Wahrheit ist, war es wichtig, dass die Verzerrung in all möglichen Formen im musikalischen Zentrum der Platte steht – weil der Begriff Wahrheit selbst verzerrt wurde“, so Tun Biever.
Dieser Aspekt war der Band umso wichtiger, da sie den Eindruck hatte, die Songs auf „A Curtain Call For Dreamer“ wären für die Live-Umsetzung etwas zu soft gewesen – denn nach dem zwar spaßigen, aber auch langwierigen Aufwand, den der fast ganz bandintern gedrehte, geschnittene und produzierte Kurzfilm mit sich brachte, ist das Quartett ungeduldig, endlich wieder live spielen zu können.
Die Idee, neben der Platte auch einen gleichnamigen Kurzfilm zu drehen, kam auf eine natürliche Weise. „Während der Arbeit an ‚A Curtain Call For Dreamers‘ haben wir festgestellt, wie sehr wir Videoclips und das Medium Film mögen – und dass wir Lust hätten, noch weiterzugehen und diese filmische Arbeit im Rahmen eines längeren, konzeptuellen Projekts weiterzuführen“, erklärt Tun Biever.
Als die Band an dem Konzeptalbum werkelte, wurde schnell klar, dass zeitgleich eine Filmwelt entstehen sollte. „Die Songs wurden zwar nicht mit der Idee im Hinterkopf, danach einen Film daraus zu machen, komponiert – aber dass unser Kurzfilm in der gleichen dystopischen Fiktionswelt spielen würde, war von Anfang an klar.“
„Eigentlich war es dann unser Produzent Jan Kerscher, der die Idee für den Namen der Firma hatte“, erinnert sich Biever. „Kerscher, mit dem wir bereits für einen Song von ‚A Curtain Call For Dreamer‘ gearbeitet haben, ist nicht die Art Produzent, mit dem du nur während der Aufnahmen zu tun hast. So haben wir uns oft abends gemeinsam darüber Gedanken gemacht, in welche Richtung die Platte gehen könnte.“ „Durch seine Überlegungen hat Kerscher das Konzept der Platte maßgeblich mitgestaltet“, ergänzt Tritz.
DIY
Spannend ist bei TUYS auch, dass der Kurzfilm quasi in Eigenhand entstanden ist – zwar wurden die Luxemburger Schauspieler Max Thommes und Sarah Lamesch für den Film gecastet und konnten einige bekannte Gesichter aus der Luxemburger Musik- und Tanzszene für Nebenrollen und Cameoauftritte gewonnen werden, Regie, Produktion oder Sound Editing hat die Band allerdings selbst übernommen.
„Yann hat bei uns sehr schnell begonnen, Regie für unsere Videoclips zu führen“, meint Tun Biever. Da sich die verschiedenen Rollen auf eine sehr natürliche Art herauskristallisiert haben, entstand so neben dem Bandgefüge parallel eine Art Filmcrew, die sich nach einer DIY-Ethik ins Metier eingearbeitet hat: „Wir sind große Verfechter davon, dass es, wenn man sich in eine Sache hineinkniet, kein umfassendes Uni-Studium braucht, um bspw. einen Kurzfilm zu drehen“, so Tritz.
Neu im Bandgefüge ist Tom Zuang, der Kay Gianni am Schlagzeug ersetzt. Für Tun Biever war dies definitiv eine Umstellung, wenn auch eine Bereicherung. Sam Tritz erklärt, die Band habe ein ganzes Jahr gebraucht, um wieder zusammenzufinden: „Wir haben zehn Jahre mit Kai gespielt. Wenn dieser dann von jemandem mit einer anderen Herangehensweise abgelöst wird, ist es normal, dass erst mal viel diskutiert wird.“ Zudem ist Zuang, der zwar Jazzschlagzeug studiert, sich aber auch viel mit elektronischer Musik befasst, laut Biever der geschulteste Musiker der Band.
Nach zwei Kinokonzerten – eins davon fand am letzten Donnerstag im CNA statt –, bei denen die Band ihren Kurzfilm projizierte und den Soundtrack– also fünf Songs der kommenden Platte – live dazu spielte, steht nun eine Release-Tournee durch Deutschland, Österreich und Luxemburg vor der Tür. Die Platte kann man am 28. April, also in fast genau einem Monat, entdecken. Bevor sich TUYS allerdings an das nächste Projekt heranwagt, will man sich erst mal Zeit lassen.
„Das waren jetzt drei sehr intensive Jahre – intensiv, weil wir zusammengelebt haben und weil wir einen Kurzfilm gedreht und produziert haben. Bevor es weitergeht, brauchen wir erst mal ein wenig Zeit, um uns zu erholen“, grinst Sam Tritz – bevor er mit seiner Band zurück in den Proberaum geht.
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