/ Videospiele als Ablenkungsmanöver: Weil man nicht über Antisemitismus reden will
Am 9. Oktober hat ein Mann in Halle zwei Menschen erschossen und versucht, mithilfe von Sprengsätzen und einer Waffe in eine Synagoge einzudringen. Wäre es ihm gelungen, die Tür zur Synagoge zu öffnen, wären um die 80 Juden ums Leben gekommen. Nach dem Anschlag erklärte Innenminister Seehofer, man müsse die Gamer-Szene stärker überwachen, weil der Täter Videospiele zockte.
Dahinter verbirgt sich, wie Jean-Marie Schaeffer es im Essai „Pourquoi la fiction?“ belegte, eine Debatte, die so alt ist wie die Philosophie. Platon sah schon damals die mögliche Ansteckungsgefahr, die im Verwischen der Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit liegt. Wer in den Bann der imitierenden Künste gezogen wird, wird sich das Verhalten der fiktionalen Figuren aneignen. Laut dieser Ansicht sind es Molières Farcen, die den Zuschauer erst mal auf die Idee kommen lassen, das Eheleben durch Fremdgehen aufzulockern. Aristoteles hat später in seiner Poetik versucht, das Gegenteil zu beweisen: Im Theater werden Emotionen vorgelebt, die man, indem man sich in die Haut der Figuren versetzt, stellvertretend auslebt. In der Folge ist man von genau diesen Begierden geheilt. Aristoteles nannte dies Katharsis – die „Reinigung“ von Affekten. Platon wollte den Künstler aus der Gesellschaft verbannen, Aristoteles sah ihn als zentralen Bestandteil einer funktionierenden Gesellschaft.
In erster Linie aber ist Seehofers Aussage ein weiteres Manöver, das von dem wahren Problem ablenken soll – dem seit Jahren in Europa wachsenden Antisemitismus. Meines Wissens verbreiten Videospiele per se keine antisemitischen Ideen. Ob ein Ego-Shooter, bei dem man Aliens abknallt, die potenziellen Aggressionen des Spielers abbaut (Aristoteles’ Katharsis) oder diese erst hervorruft, hat in erster Linie damit zu tun, ob man zwischen Realität und Fiktion unterscheiden kann. Wer diesen Unterschied nicht machen kann und deswegen wild um sich schießt, ist psychisch krank. Dass man beim Online-Gaming auf Sexismus und Rassismus stoßen kann, hat eventuell mehr mit der Anonymität und dem Verhaltensmuster der Menschen im Netz zu tun als mit Videospielen.
Seehofers Aussage reiht sich jedoch ein in eine beängstigende politische Tendenz, das Attentat in Halle zu schmälern. Deutschland gräbt das uralte Aufsatzthema über die Ansteckungsgefahr, die in fiktionaler Gewaltdarstellung stecken kann, aus – weil das bequemer ist, als sich mit der Rechtsradikalisierung auseinanderzusetzen.
Schriftsteller Max Czollek hatte in einem Gastbeitrag im Spiegel bereits darauf hingewiesen, als er die Aussage der CDU-Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer, laut der das Attentat ein „Alarmzeichen“ darstelle, kritisierte: „Alarmzeichen waren es“, so Czollek, „als halbe Schweinehälften vor die Synagogen geschmissen wurden, Menschen auf der Straße angepöbelt oder ein Politiker von einem Vogelschiss sprach.“
Luxemburg bleibt von alldem leider nicht verschont: Am vergangenen Montag wurde ein 39-jähriger Mann zu einer Geldstrafe verklagt, weil er sich auf Facebook über das „Juddepak“ ausgelassen hatte. Klage hatte die DP-Politikerin Corinne Cahen eingereicht.
Czollek wurde vor kurzem übrigens genau eine dieser Hasstiraden zugesandt – in der vom „schmutzigen (…) Judenopa“ die Rede ist und anderen Beschimpfungen, die ich hier gar nicht wiedergeben will – weil dem morgendlichen Zeitungsleser sonst das Croissant wieder hochkommt. Was das alles mit Videospielen zu tun haben soll, kann mir ja gerne ein deutscher Politiker erklären.
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„dem seit Jahren in Europa wachsenden Antisemitismus“
Wachsen? Da wächst nichts. Da kommt vor allem hervor, was all die Jahre tief in den Köpfen versteckt war und sich nicht herausgetraut hat.
Auch die DDR hatte bereits ein massives Problem mit Antisemitismus und Neonazis. Von Ländern wie Frankreich, Luxemburg, Belgien, Italien, den Niederlanden, den USA, usw. in denen keine oder kaum Vergangenheitsbewältigung in diesem Punkt stattgefunden hat, brauchen wir gar nicht erst zu reden.
Fragen Sie doch mal sehr alte ältere Semester (Kinder aus der Vorkriegszeit), solange es noch welche gibt. Kaum einer wird nicht zugeben, dass er eben doch, auch hier im kleinen Luxemburg, ganz böse Lieder über Juden gehört hat, dass öfters aus Sozialneid auf Juden geschimpft wurde ob ihres Besitzes/Reichtums.
Es kann auch niemand wegerklären, dass nur sehr wenig zum Schutz der Juden in den meisten europäischen Ländern gemacht wurde, im Gegensatz zur nationalen Anstrengung in Dänemark, und das obwohl jeder ohne Ausnahme die Pläne der Nazis kannte, obwohl auch hier in Luxemburg spätestens seit 1939 jeder wusste, was die Kanonen auf der anderen Seite der Mosel bald machen würden.
Es gibt viele friedliche Menschen in der Gamer-Szene, aber viele Rassisten, die gar keine Videospiele spielen. Die beiden Dinge haben für mich wenig gemeinsam.
Antisemitismus wäre auch hierzulande ein Gesprächsthema, denn auch in Luxemburg taucht er manchmal aus unverhoffter Ecke kommend auf. Man denke nur an die Affäre Marguerite Biermann von vor 10 Jahren. Eine pensionierte Richterin und im Grunde doch wohl gescheite Frau, die hinging und jüdische Luxemburger ultimativ aufforderte, sich gefälligst von der in ihren Augen „unmenschlichen“ Politik Israels zu distanzieren. Was Luxemburger, die zufällig jüdischen Glaubens sind, mit der Politik des Staates Israel zu tun haben und wieso sie sich davon distanzieren müssten, erschliesst sich einem wohl nur, wenn man im Nebel altlinker Weltbilder wandelt, wo Antisemitismus zwar jederzeit lauthals verdammt wird, gleichzeitig aber krude antisemitische Vorurteile als ausgemachte Sache gelten, etwa dass alle Juden Mitglieder einer weltweiten „jüdischen Lobby“ wären. Da ist es bis zur „jüdischen Weltverschwörung“ und ähnlichem Unsinn nur ein Schritt. Antisemiten mit rechtsextremem, bzw. islamistischem Hintergrund haben ausserhalb ihrer Filterblase keinen Rückhalt. In linksextremen, ja sogar in linksintellektuellen Kreisen jedoch kann man unter dem Label des „Antizionismus“ und der „Israelkritik“ immer noch Unsägliches von sich geben und dabei sicher sein, von simplen Che-Guevara-T-Shirt-Trägern bis hin zu selbsternannten „Querdenkern“ bejubelt zu werden. Man denke nur – um auf die Causa Biermann zurückzukommen – auf die Rede eines bekannten Literaten anlässlich der Verleihung eines Literaturpreises, in der er sich aus lauter Solidarität für Frau Biermann ebenfalls als Antisemiten bezeichnete und dafür Applaus erntete.
Und ein aufmerksamer, regelmässiger Leser, dieses Forums muss mit Schrecken und Bedauern feststellen, dass solche verbalen Ausrutscher oder regelrechte Hasstiraden auch hier keine Ausnahmen sind. Leider!
Sie sind oft viel unterschwelliger. Mancher Forenteilnehmer äußert sich hier ziemlich eindeutig zweideutig und solche Gesellen antworten meist auch nicht auf entsprechende Nachfragen. Vielleicht haben sie ja doch Angst vorm Kadi? Man kann die luxemburgische Justiz nur dafür loben, dass in letzter Zeit mehrere Leutchen für ihre Äußerungen auf Facepuke usw. vor Gericht kamen.
Anti-semitische, und allgemein rassistische, Taten müssen sehr sehr hart bestraft werden. Es ist auch wichtig Attacken (physische und verbale) auf arabische Mitbürger in Europa als anti-semitische Taten einzustufen, denn ob man es will oder nicht, Araber sind Semiten, und es gibt täglich Attacken auf diese Menschen in Europa. Die letzte passierte gestern in Bayonne wo zwei Araber vor einer Moschee von einem 80-jährigen französischen Nazi angeschossen und schwer verletzt wurden.
Natürlich müssen Attacken auf moslemische Mitbürger (ob Araber oder nicht) geahndet werden genau wie alle rassistischen oder diskriminierende Taten. Nur die Mär von den Araber als Semiten macht keinen Sinn. Es gibt keine Semiten, nur semitische Sprachen (wie arabisch oder hebräisch), und die Mär von Arier und Semiten ist zum Glück passé.
Nebenbei bemerkt: Soweit mir bekannt, war der Mann auch Kandidat des FN bei einem rezenten Wahlgang.
Zum Artikel: der Ansatz ist interessant – was ist der Einfluss der Gamer-Szene auf das Verhalten in unserer Gesellschaft? Es gibt möglicherweise das eine oder andere Spiel mit antisemitischen oder rassistischem Inhalt. Aber der Zusammenhang mit Halle oder Antisemitismus scheint auch mir nebelhaft. und Seehofers Aussage sieht effektiv nach Ablenkmanöver aus. Falls jemanden Informationen zu Antisemitismus in Luxemburg interessieren, kann ich die Lektüre des Berichts RIAL 2018 empfehlen. (zu bestellen bei rial@rial.lu)