Projekt „Op de Patten“ / Vierbeinige Therapeuten helfen Kindern und Jugendlichen
Stur wie ein Esel, mit Scheuklappen wie ein Pferd durchs Leben gehen – zwei Beispiele für tierische Eigenarten, die aufs menschliche Verhalten angewendet werden. Dabei können Esel, Pferd und Meerschweinchen viel mehr. Beim Projekt „Op de Patten“ der „Solina Solidarité Jeunes Asbl.“ stehen sie an der Seite der Menschen als tierische Therapeuten und helfen Kindern und Jugendlichen in Krisensituationen, wieder Fuß im Alltag zu fassen, berichtet Daisy Schengen.
„Ja, Tiere sprechen … Aber nur zu denen, die wissen, wie man sie hört“, schrieb 2017 die deutsche Tierpsychologin Sylvia Raßloff und lenkte damit das öffentliche Bewusstsein auf die gesamte Bandbreite dessen, was Tiere durch ihr Verhalten und ihr Wesen nonverbal „sagen und bewirken“. Um Kommunikation, um einen Weg zu sich selbst und zu seinen Mitmenschen zu finden, gerade dann, wenn es scheinbar keinen solchen Weg gibt, das ist das Ziel des neuen Projekts „Op de Patten“ von „Solina Solidarité Jeunes“, unterstützt durch die „Fondation Solina“. Es richtet sich an Kinder, die in einer der Einrichtungen der Asbl. betreut werden und die in ihrem jungen Leben einen turbulenten (schulischen und familiären) Parcours durchlaufen haben.
Eine dieser Einrichtungen ist das „Centre socio-thérapeutique“ (CST) Switch in Eich. Dort werden Kinder individuell nach ihren Bedürfnissen von Erziehern, Psychologen und Ergotherapeuten betreut. Jedes Kind im Tageszentrum hat einen persönlichen Lehrplan mit unterschiedlichen Schwerpunkten – vom Lernen über soziale Kompetenzen bis hin zur Selbstregulation, also alles Fähigkeiten, womit Menschen ihre Gefühle und ihr Verhalten steuern können. Die Pädagogen, die die jungen Menschen begleiten, werden von besonderen Kollegen unterstützt: von den beiden Pferden Chocolat, Caramel, den Eseldamen Brindille und Marguerite, dem Hund Django sowie einer Meerschweinchen-Familie.
Mit dem Einzug der kleinen Fellnasen in die Einrichtung begann das Projekt „Op de Patten“, erzählt Tanguy. Der großgewachsene Erzieher ist ausgebildeter Tiertherapeut und hat das Projekt der „tiergestützten Intervention“ mitbegründet. Drei Meerschweinchen standen am Anfang des Projekts. Diejenigen von ihren Nachkommen mit geeigneten Wesenszügen durften den Dienst als tierische Therapeuten antreten.
Durch die Arbeit mit den Tieren lernen die Kinder, Verantwortung zu übernehmen – sie reinigen das Gehege, versorgen Tiere mit Nahrung, lernen, die Meerschweinchen behutsam anzufassen. Kinder begreifen schnell das Schutzbedürfnis der sensiblen Tiere zu respektieren, sagt Tanguy. „Kein Kind, das ins Erzieherbüro kommt, wo sich die Käfige der Meerschweinchen befinden, spricht laut“, erklärt der Erzieher. „Denn sie wissen, die Tiere vertragen es nicht.“ Für die Tiere sind die Kinder bereit, sich anzupassen, anders zu agieren, ohne Druck von Erwachsenen und von außen. Diese Erkenntnis brachte den entscheidenden Impuls für den Erzieher und Tiertherapeuten, die Tiere immer mehr als Helfer in die Arbeit mit den Kindern in der Einrichtung einzubinden.
Therapeuten auf vier Hufen
Die Meerschweinchen sind nicht die einzigen tierischen Helfer im Projekt „Op de Patten“. Zwei Esel und zwei Pferde, die im Reitstall des „Centre équestre Kehlen Asbl.“ in Kehlen untergebracht sind, ergänzen das Team. Martine ist Psychotherapeutin und betreut neben Tanguy die tiergestützte Intervention im Rahmen des Projekts.
„Dieses Pferd ist sechs Jahre alt, sehr sensibel und reagiert sehr stark auf Körperbewegungen“, erzählt sie, während sie Chocolat anschaut. Mir geht es wie den Kindern, die zum ersten Mal in den Reitstall kommen. Aus sicherer Entfernung beobachte ich die Lage, während das Pferd mich bereits „durchschaut hat“, erklärt mir Martine. Es kann meine Körpersprache wie ein offenes Buch genau lesen, sagt sie. „Jeder Mensch folgt seinem eigenen Rhythmus im Umgang mit dem Tier.“ Sich anzunähern, geschieht für beide behutsam, immer beobachtend, was die Annäherung mit einem macht, erklärt die Therapeutin. Die Kinder haben viele Fragen über die Tiere, müssen aber auch Geduld mitbringen, um zu beobachten, wie sie auf sie reagieren.
Je nach Körpersprache reagieren Pferde und Esel unterschiedlich und sofort. Stupst man beispielsweise das Pferd mit der Schulter an, wenn man in unmittelbarer Nähe zu ihm steht, bedeutet das, „gehe zur Seite“, erklärt Martine. Da Chocolat sehr sensibel ist, kann es kleinste Details in seiner Umgebung wahrnehmen. Diese Fähigkeit stellt das Pferd unter Beweis, als es beim Spaziergang ein weiter weg frei laufendes Pferd erblickt. In Sekundenschnelle wird aus dem entspannten Tier ein fokussiertes, angespanntes Pferd, das die erfahrene Therapeutin schnell wieder beruhigt. „Hier muss man mit mehr Selbstsicherheit an die Sache rangehen“, sagt die Psychologin. Caramel, das andere Pferd, das als Therapiehelfer mitarbeitet, sei hingegen entspannter und lasse sich nicht so schnell „beeindrucken“, erzählt Martine.
Die Kinder und Jugendlichen lernen die Eigenarten der Tiere kennen und richtig damit umzugehen. Strahlt der junge Mensch beispielsweise wenig Selbstsicherheit aus, merkt das Pferd es sofort und versucht, sich durchzusetzen.
Aber auch die beiden Eseldamen wissen sehr schnell, wann sie Diva sein und ihren Kopf durchsetzen können. Ganz ladyhaft und mit Eselsgeduld lassen sie sich von mir mit Bürsten und Hufkratzen für den Spaziergang aufhübschen. Sobald wir losmarschieren und ich für Sekundenbruchteile im Gespräch abgelenkt bin, gehen Brindille und Marguerite ihrer Lieblingsbeschäftigung, dem Grasen, nach. Sich durchsetzen, die richtige Körpersprache nutzen, die Tiere umfassend versorgen und auch belohnen – durch die unmittelbare Reaktion der Tiere schaffen es die Kinder, ihr Verhalten zu ändern. Die Kraft, die die Vierbeiner auf Menschen haben, ist unbeschreiblich. Man kann sich ihr nicht entziehen, merke ich, als ich einem der Esel näherkomme. Das Tier nimmt einen an, wie man ist, ohne zu verurteilen. Bedingungslos angenommen zu werden, hilft den Kindern, sich zu öffnen, über ihre Probleme zu sprechen und sie zu verarbeiten, erklären Tanguy und Projektleiterin Myriam, die sich bei „Solina Solidarité Jeunes Asbl.“ um verschiedene Projekte kümmert.
„Putzen macht Spaß“
Wie viel die Therapie Kindern bringt, zeigt sich in drei Einzelgesprächen im CST Switch. Drei Jungs haben sich bereit erklärt, mit dem Tageblatt zu sprechen. Wir treffen die Kinder in einem kleinen Raum mit zwei Tischen und einer Tafel an der Wand. Etwas schüchtern betritt der elfjährige Nicolas den Raum. Nicolas mag am liebsten Hasen, weil sie tolles Fell zum Streicheln haben. „Hasen“, sagt Nicolas, „sind meine Lieblingstiere. Ich hatte früher vier.“ Jetzt hat er keinen Hasen mehr und um die Meerschweinchen im „Centre socio-thérapeutique“ (CST) hat er sich seit längerem nicht gekümmert, denn er geht jetzt nach Kehlen – zu den größeren Tieren. Ob er später etwas mit Tieren machen möchte, weiß der Elfjährige noch nicht. Sein Berufswunsch steht jedoch fest: „Feuerwehrmann“, sagt der Junge und seine Augen leuchten.
Marco ist 11 Jahre alt und mag am liebsten Brindille, eine der zwei Eseldamen, die im Reitstall in Kehlen lebt. Die Esel seien gar nicht stur, im Gegenteil – sie seien ganz ruhig, sagt Marco. Deshalb habe er keine Angst vor den Tieren. „Am liebsten mache ich sauber. Putzen macht Spaß“, sagt der Elfjährige. Marco wünscht sich, dass auch andere Kinder zu den Tieren gehen können. „Wenn man lieb mit den Tieren ist, spüren sie das“, erzählt er.
Sebastians Lieblingstiere sind Hunde und Katzen, wobei er Katzen lieber mag und die „Hunde zu Hause einfach mit dabei sind und einfach lieb sind“. Aber, „wenn man Katzen umarmt und sie streichelt“, sagt Sebastian, „sind sie ziemlich flauschig und das mag ich sehr gern.“ Was die tierischen Helfer im CST angeht, kümmerte sich der Elfjährige zunächst um die Meerschweinchen. „Jetzt bin ich bei den großen Tieren. Dort ist es was ganz anderes.“ Sebastian erzählt, dass die Tiere ganz lieb seien. Wenn er sich um sie kümmert, muss er zuerst sauber machen, „auch die Äpfel wegmachen“. Nicht die Früchte, sondern die Hinterlassenschaften der Eseldamen, lacht er, als ich nicht auf Anhieb verstehe, was er damit meint. Sind die Pflichtarbeiten im Stall und die Fellpflege erledigt, geht es in den Parcours, erzählt der Elfjährige. Die Esel sind brav, machen sich aber auch ziemlich schmutzig, lacht er. Und dann sagt der Junge den Satz, der den Sinn und die Wirkung der Arbeit mit den Tieren für die Entwicklung der Kinder punktgenau beschreibt: „Ich bin nicht traurig, wenn ich von den Tieren weggehe, denn ich weiß, dass ich wiederkomme.“
Spielerisch lernen
Szenenwechsel: Im Personalbüro der Erzieher herrscht geschäftiges Treiben. Ein Team von zwei Jungen arbeitet gerade an den Gehegen der Meerschweinchen. Zwei Erzieherinnen unterstützen die Kinder beim Erledigen der einzelnen Schritte in einem festgelegten Ablauf. Es wirkt beinahe wie eine verinnerlichte Choreografie: Die Kinder arbeiten konzentriert, ohne Hektik, sie tauschen sich über die Abläufe aus, leise und ruhig, um die Tiere nicht zu verschrecken. Die Erzieherinnen loben, geben klare Hinweise zur Zusammenarbeit, während die beiden Jungs das Timing im Auge behalten und auf einem Plan die einzelnen Arbeitsschritte als erledigt abhaken.
Zuvor haben sie in Ateliers die Ernährung der Meerschweinchen kennengelernt. Tanguy zeigt ein Memory mit Bildern von Obst und Gemüse. Auf der Rückseite der Bilder zeigen rote Kreuze und grüne Häkchen, ob die Lebensmittel für die Tiere geeignet sind oder nicht. „Wenn die Meerschweinchen Zwiebel essen, sind sie tot. Das erkläre ich den Kindern ganz genau“, sagt der Tiertherapeut, der sich als Freund einer klaren Sprache beschreibt.
Im Team lernen die Kinder spielerisch, miteinander zu kommunizieren, sich aufeinander einzulassen, üben ganz nebenbei Feinmotorik, lernen Struktur im Alltag kennen, wenn sie die einzelnen Schritte aus dem Ablaufplan zum Saubermachen und Versorgen der Tiere abarbeiten. Soziale Kompetenzen, wie das Miteinander in der Gruppe und die Regeln bei der Tierpflege befolgen, sind wichtiges Rüstzeug, das den Kindern hilft, nach dem Aufenthalt in einer Betreuungseinrichtung wieder in ihre gewohnte Schulumgebung zurückzukehren, heißt es.
Für Außenstehende ist es erstaunlich, wie Kinder, die in der Schule für Turbulenzen gesorgt haben und deshalb vorübergehend eine Einrichtung wie das CST besuchen, im Umgang mit den Tieren plötzlich ganz sanft, fürsorglich, gewissenhaft, ja sogar pedantisch werden. Tanguy beschreibt die Metamorphose so: „Die Kinder machen es für die Tiere. Sie wollen, dass es ihnen gutgeht.“ Sie lernen, Verantwortung zu übernehmen. Nach jedem Aufenthalt bei den Tieren wird die Sitzung mit den Kindern besprochen: Was lief gut, welche Ziele stehen beim nächsten Mal an. Das unterscheidet das Projekt „Op de Patten“ von anderen Projekten, bei denen manchmal Tiere involviert sind. „Sobald wir tiergestützte Intervention anwenden, arbeiten wir mit Zielen“, erklärt Tanguy. Der spielerische Umgang hilft, Ziele zu erreichen, denn „das, was man mit Spaß lernt, lernt man dauerhaft“, erklärt der Erzieher.
„Wir wollen, dass es den Meerschweinchen gutgeht und sie artgerecht gehalten werden“, erzählt der Erzieher. Deshalb legen sich die sechs Kinder aus dem Therapiezentrum jetzt ins Zeug. Sie bauen im Atelier des CST ein Meerschweinchen-Haus. Von der Zeichnung, über die Planung bis hin zur Konstruktion. Die sechs Kinder haben das Sagen und die Arbeit beim Projekt. Mathematisches Schulwissen (Tafelrechnungen, logisches Denken) wird bei der Maßübertragung aus der Zeichnung auf die Holzplatten abgerufen, die Motorik beim Schneiden – unter Aufsicht – mit der Kreissäge gefördert, praktisches Denken bei der Isolierung der Wände und bei der Fensterkonstruktion aus Plexiglas benötigt. Gleichzeitig lernen die Kinder, selbst Entscheidungen zu treffen, dadurch wird ihr Selbstvertrauen gestärkt. Wenn das Häuschen fertig ist, soll es im Reitstall in Kehlen stehen, wo die Meerschweinchen ein Gehege mit Auslauf bekommen.
Von wegen sture Esel
Es gibt große Unterschiede zwischen Eseln, die landwirtschaftlich arbeiten, und solchen, die als Therapietiere eingesetzt werden, sagt Tanguy. Seit 2020 gehören die beiden Eseldamen Brindille und Marguerite zum Team des Projekts „Op de Patten“. Esel sind territoriale Tiere, keine Nomaden wie Pferde. Sobald sie eine Gefahr erkennen, entfernen sie sich von der Stelle, bleiben aber kurz danach stehen, um die Situation erneut einzuschätzen. Genau dieses Verhalten wird oft als Sturheit missverstanden, erklärt Tiertherapeut Tanguy.
„Fondation Solina“ und „Op de Patten“
Im September 2019 zogen die ersten Meerschweinchen im „Centre socio-thérapeutique“ (CST) Switch ein. Damit fiel der Startschuss für das Projekt „Op de Patten“ und die tiergestützte Intervention. Gleichzeitig wurde nach einem geeigneten Platz für größere Tiere gesucht, um sie auch in die Therapie einzubinden. Als Kooperationspartner für das Projekt konnte das „Centre équestre Kehlen Asbl.“ gewonnen werden. Dort leben die Esel und die Pferde zurzeit. Später ziehen auch die Meerschweinchen aus Eich nach Kehlen um, auch Hasen sollen dort die therapeutische Arbeit bereichern.
In der Anfangsphase unterstützt „Fondation Solina“ finanziell das Projekt „Op de Patten“ von „Solina Solidarité Jeunes“. Da das Projekt sich nur aus Spenden finanziert, war und bleibt die Suche nach Unterstützern eine der Hauptbestrebungen der Projektverantwortlichen von der „Fondation Solina“ und „Solina Solidarité Jeunes“.
Unter dem Dach der Stiftung sind drei gemeinnützige Organisationen – „Solina Solidarité Jeunes Asbl.“, „Solina Aarbechtshëllef“ und „Solina Jongenheem“ – vereint. Die Organisation „Solidarité Jeunes Asbl.“ verantwortet verschiedene Betreuungseinrichtungen, darunter zehn Kinderheime und Foyers. Dazu gehört auch das (CST) Switch in Eich, wo derzeit Meerschweinchen als tierische Therapeuten „tätig“ sind. Das Angebot der tiergestützten Intervention richtet sich derzeit an rund 80 Kinder, die sich in einer schwierigen Situation befinden und zurzeit in einem Foyer leben, sowie an die Kinder, die in den verschiedenen Einrichtungen ambulant betreut werden. „In der Krisensituation haben die Kinder unterschiedliche Bedürfnisse im Sinne von psychologischer und pädagogischer Unterstützung“, erklärt Myriam, Projektleiterin bei „Solina Solidarité Jeunes“ im Tageblatt-Gespräch. „Daher brauchen wir unterschiedliche Tiere, die sich den Bedürfnissen der Kinder individuell anpassen.“
Wenn man das Projekt unterstützen möchte, kann man dies durch eine Spende tun:
Bankverbindung: Fondation Solina
Banque de Luxembourg
LU27 0080 3755 9020 2002
Spendenbetreff: „Solina – Op de Patten“
Anmerkung der Redaktion
Zum Schutz der Kinder sind ihre Vornamen durch die Redaktion geändert und sie werden nicht fotografiert. Ihre Eltern haben im Vorfeld der Reportage einem Gespräch mit dem Tageblatt zugestimmt. Aus dem gleichen Grund sind auch nur die Vornamen der Mitarbeiter der „Fondation Solina Solidarité jeunes Asbl.“ im Text erwähnt. Beim Kind, das auf unseren Bildern zu sehen ist, handelt es sich um die Tochter des Tiertherapeuten. Das Tageblatt hat die Erlaubnis der Eltern, diese Bilder zu veröffentlichen. (ds)
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