„Da sehe ich Defizite“ / Virologe Claude Muller über die Strategie der Regierung und das Leben mit dem Virus
Mit den Lockerungen ist Luxemburg in eine neue Phase der Corona-Krise eingetreten. Damit stellen sich neue Fragen. Wie sieht es um die Strategie der Regierung aus bei Masken, Tests und Öffnungen? Droht eine zweite Welle und wie lange müssen wir auf einen Impfstoff warten? Professor Claude Muller vom Luxembourg Institute of Health gibt Antworten auf fast alle Fragen. Für einige fehlt dem Virologen allerdings das Zahlenmaterial. „Das müsste besser kommuniziert werden“, sagt Muller.
Tageblatt: Was halten Sie von den Tracing-Plänen der Regierung, die auf Apps verzichten will und stattdessen auf klassische Rückverfolgung per Telefonanruf setzt?
Claude Muller: Es ist nicht das eine oder das andere. Mit einer App würden wir die Kapazität beim Tracing erhöhen. Die Regierung will aus Datenschutzgründen darauf verzichten. Mittlerweile gibt es aber Lösungen, die diese Argumentation schwieriger machen, da sie den Datenschutz nur noch am Rand treffen. Wir sollten uns einer solchen Herangehensweise nicht ganz verschließen. Wird großflächig getestet, könnten die Zahlen schnell steigen und eine App könnte nützlich sein.
Wie ist es mit der Test-Strategie in Luxemburg – kann das aufgehen?
Die PCR-Tests bleiben eine Momentaufnahme. Wer negativ getestet wird, könnte morgen positiv sein. Vielleicht weil der Test noch nicht angeschlagen hat. Oder weil man sich kurz danach ansteckt.
Zeigt der Test negativ an, wenn die Erkrankung symptomfrei verläuft?
Wenn der Test negativ ist und bleibt und die Erkrankung symptomfrei ist und bleibt, besteht keine Krankheit. Der Getestete ist negativ.
Ist es sinnvoll, dass die Politik über die zu testenden Cluster entscheidet und nicht die Wissenschaft?
Am Ende muss die Politik entscheiden. Die Vorschläge aber sollten von den Wissenschaftlern kommen.
Wie kommt man bei den Lockerungen zuerst auf Baumärkte und nicht auf Schulen oder kleine Geschäfte – wer denkt sich das aus?
Verschiedene kleine Geschäfte wie Apotheken blieben ja geöffnet. Stecken sich von den Apotheken-Beschäftigten relativ wenige an, könnte dies als Modell dienen, andere kleine Geschäfte zu öffnen, natürlich mit den gleichen begleitenden Hygieneregeln. Vielleicht wurde das untersucht, ich weiß es nicht. Die Öffnung der Baumärkte ist im Zusammenhang mit dem Hochfahren des Bausektors zu sehen. Das hat eine gewisse Logik.
Einige fragen sich weiterhin nach dem Sinn des Lockdowns – was macht dieses Virus so gefährlich, dass es diese Maßnahmen rechtfertigt?
Für den Lockdown gab es drei Gründe: die Ansteckungsrate niedrig halten, um das Gesundheitssystem zu schützen. Zeit haben, um Kenntnisse zu gewinnen, die für die Organisation der Maßnahmen wichtig sind, mit denen wir uns bis zum Erreichen einer relevanten Herdenimmunität hinüberretten können. Ob die Zeit des Lockdowns gut genutzt wurde, weiß ich nicht. Denn eines ist sicher: Nach dem Lockdown ist die epidemiologische Situation keine andere als davor. Einer relevanten Herdenimmunität sind wir nicht wesentlich näher gekommen. Hätten wir vor dem Lockdown gewusst, was danach genau zu tun ist, und hätten wir diese Maßnahmen bereits vorher umsetzen können, wären wir wahrscheinlich ohne Lockdown ausgekommen. Aber stellen Sie sich die Reaktion der Bevölkerung vor, wenn alle Maßnahmen z.B. in den Schulen usw. eingeführt worden wären, als wir gerade mal fünf Fälle hatten. Das hätte die Bevölkerung nicht verstanden und nicht mitgemacht. So gesehen gab es politisch wahrscheinlich keine Alternative zum Lockdown. Nach dem Lockdown sind die Teileinschränkungen psychologisch und politisch leichter durchzusetzen als vor dem Lockdown.
Es gab ja verschiedene Länder, die genau das versucht haben, besonders Schweden.
Ja, und bislang mit einem gewissen Erfolg. Vielleicht war das auch eine Frage des politischen Mutes, keinen Lockdown einzuführen. Allerdings glaube ich nicht, dass das in Luxemburg möglich gewesen wäre.
Betroffene könnten eine rote Mütze aufsetzen – dann weiß jeder, dass diese Person besonders vulnerabel und auf die Rücksicht und Solidarität der Mitmenschen angewiesen ist
Wieso nicht?
Das hätte nur funktioniert, wenn bei wenigen Fällen, etwa zehn Infizierten im Land, dermaßen drastische Maßnahmen wie nach dem Lockdown eingeführt worden wären – wenn wir dann die Schulen so organisiert hätten, wie es jetzt geschieht, wenn wir alle Hygieneregeln und Vorsichtsmaßnahmen gleich akzeptiert hätten. Die psychologische Bereitschaft in der Bevölkerung aber kam erst am Ende des Lockdowns. Das wäre demnach nicht machbar gewesen. Bei zehn Fällen hätte jeder gesagt: Die Regierung spinnt!
Deutschland hat sich einen Richtwert gegeben bei den Neuinfektionen. Wird eine bestimmte Zahl überschritten, wird wieder eingeschränkt. Wäre das auch in Luxemburg sinnvoll?
Vergleiche mit einem großen Land wie Deutschland sind heikel. In Luxemburg lautet die Vorgabe der Santé, als Richtwert 40 bis 50 Intensivbetten zu reservieren, und wenn es mehr werden, müssen wir auf die Bremse treten. Wir sollten aber nicht nur diese Zahl im Auge behalten. Der springende Punkt ist die Verteilung der Neuinfizierungen in den unterschiedlichen Altersgruppen, die diese Betten im Krankheitsfall unterschiedlich stark beanspruchen. Jene unter 50, die keine chronische Vorerkrankung haben, brauchen sie praktisch nicht. Dann gibt es die über 75-Jährigen, die sie stärker beanspruchen, aber auch gezielt besser geschützt werden können mit Maßnahmen, die man nicht der ganzen Bevölkerung auferlegen muss. Sie gehören nicht zur arbeitenden Bevölkerung, sind weniger mobil. Sie können getrennt gesteuert und gegebenenfalls im Lockdown belassen werden.
Bleiben die 50- bis 75-Jährigen …
Und da wird es kompliziert. Darunter sind viele aktive Menschen, die mitten im Leben stehen und noch viele gute Jahre vor sich haben. Aber das sind bei weitem nicht alle, sodass sie zu einem gewissen Anteil Intensivbetten benötigen. Demnach ist die Zahl der Neuinfektionen in diesem Kollektiv eine wichtige Leitzahl, die man unbedingt getrennt im Auge behalten muss, denn wenn in dieser Altersgruppe zu viele Fälle auftreten, wird es problematisch. Die Zahl der Neuinfektionen sagt also nicht alles darüber aus, wie weit wir welche Lockerungen gegebenenfalls zurücknehmen müssen. Sollten von 40 Neuinfektionen an einem Tag fast alle unter 50 sein, ist die ein bis zwei Wochen später zu erwartende Belastung für die Krankenhäuser und Intensivabteilungen eine ganz andere, als wenn es sich um 40 über 75-Jährige handelt. Dann wissen wir schon am Tag des positiven Testergebnisses, dass wir etwas falsch machen und diese Menschen nicht ausreichend geschützt sind. Wenn in der Alterskategorie zwischen 50 und 75 die Zahl der Ansteckungen so stark steigt, dass von einer hohen Beanspruchung von Intensivbetten auszugehen ist, müssen allgemeinere Maßnahmen getroffen werden, da es einen größeren Teil der Bevölkerung betrifft, der auf Intensivbetten angewiesen sein könnte. Bei diesem Personenkreis und besonders bei solchen mit chronischen Krankheiten liegt eine hohe Eigenverantwortung für den Selbstschutz. In der Gruppe der 50- bis 75-Jährigen gibt es rüstige Menschen und solche, die sich unbedingt schützen müssen. Die Jungen dagegen fallen dem Gesundheitssystem wenig zur Last. Jene im hohen Alter ohne berufliche und mit geringerer persönlicher Mobilität können leichter geschützt werden, ohne dass die Gesellschaft als Ganzes leiden muss.
Aber wie könnten sich diese Menschen individuell schützen?
Sie müssen auf gezielte, persönlich angepasste Lösungen zurückgreifen, zusätzlich zu allen anderen Schutzmaßnahmen. Sie können natürlich weiter im Lockdown bleiben. Der wirtschaftliche Schaden wäre anders, als wenn die gesamte Bevölkerung im Lockdown verharrt. Aber da lässt sich auch sonst viel Kreatives machen. Eine simple Maßnahme: Betroffene könnten eine rote Mütze aufsetzen – dann weiß jeder, dass diese Person besonders vulnerabel und auf die Rücksicht und Solidarität der Mitmenschen angewiesen ist. Immerhin könnten diese Menschen dann mit weniger Bedenken wieder raus vor die Tür.
Das klingt alles schön und gut. Nun werden aber viele Großeltern in den Familien erstens gebraucht und zweitens wollen viele auch wieder zu ihren Enkeln. Ist das in Einklang mit den Vorsichtsmaßnahmen zu bringen?
Das ist wirklich kein einfaches Problem, das sich aber unabhängig von dem bisher Besprochenen stellt. Diesen Knoten muss das Erziehungsministerium lösen, etwa mit entsprechenden Aufnahmeeinrichtungen für solche Kinder. Es bleibt aber für viele auf familiärer Ebene schwierig. Wir haben in Luxemburg wenige Haushalte mit drei Generationen.
Wie ist es denn mit Kindern und der Ansteckungsgefahr?
Kinder haben weniger Symptome als Erwachsene. Zehn Prozent scheinen keine Symptome zu haben und mindestens 50 Prozent Fieber. Digitales Fiebermessen in der Schule könnte eine zusätzliche Maßnahme sein. Ob Kinder weniger ansteckend sind, ist noch unklar. Es gibt eine Reihe von epidemiologischen Publikationen zu dem Thema. Ausländische Studien kommen zum Teil zu unterschiedlichen Schlüssen, wer wen in einem familiären Cluster infiziert. Daneben gibt es Untersuchungen zur Viruslast. Da wird aber oft nicht berücksichtigt, dass bei einem Kind gegebenenfalls weniger Testmaterial entnommen wird und deshalb die Viruslast niedriger erscheint. Nachtestungen an derselben Probe könnten hier Aufschluss geben.
Wie stehen Sie zur Maskenstrategie der Regierung – erst gab es keine, dann fünf, bald 50?
Zu Beginn hieß es, es bringe nichts. Dann, die Masken seien kontraproduktiv. Dann, wir bräuchten sie trotzdem, aber jeder könne egal was als Maske benutzen. Dabei ist die Maske, wenn sie richtig benutzt wird, ein sehr wichtiger Teil der Lockerungen.
Da könnte immer etwas Zweckoptimismus mitschwingen. Es kann noch ein Jahr oder mehr dauern bis zu einer Impfung. Wir sollten uns auch darauf einstellen, dass wir so lange mit den verschiedenen Schutzmaßnahmen leben müssen.
Ein wichtiger Teil, aber nicht alles. Was sehen Sie als weitere zentrale Punkte?
Wir müssen auch das Profil unserer Patienten besser kennen: ihr Alter, wo sie sich angesteckt haben, von wie vielen gefährdeten Personen wir in Luxemburg überhaupt sprechen, welche Kollektive in welchen Lebensumständen besonders betroffen sind. Da sehe ich Defizite, mindestens in der Kommunikation.
Wie lange werden wir noch Masken tragen müssen?
Masken gehören ab jetzt zu unserer täglichen Ausstattung, bis wir eine ausreichend große Herdenimmunität oder einen der Allgemeinheit zugänglichen Impfstoff haben.
Und wann dürfen wir mit einer Impfung rechnen?
Da gibt es sehr unterschiedliche Signale. Einige sind bereits in klinischen Tests, was beruhigend ist. Trotzdem sollten wir vorsichtig mit solchen Berichten umgehen. Da könnte immer etwas Zweckoptimismus mitschwingen. Es kann noch ein Jahr oder mehr dauern bis zu einer Impfung. Wir sollten uns auch darauf einstellen, dass wir so lange mit den verschiedenen Schutzmaßnahmen leben müssen. Je besser wir das hinkriegen, umso geringer sind die wirtschaftlichen Folgen.
Gegen andere Coronaviren wie MERS oder SARS gibt es bislang keine Impfung, oder?
Für MERS gibt es klinische Studien.
Sind Coronaviren dafür zu kompliziert?
Das neuartige Coronavirus bringt eine ganz neue Notwendigkeit mit sich in Sachen Impfung. SARS wurde eingedämmt, MERS tritt nur in einer Handvoll Ländern auf, mit überschaubaren Zahlen von Neuinfektionen. Der Markt für einen Impfstoff ist klein. Das lässt sich nicht mit SARS-CoV-2 vergleichen.
Könnte es auch keinen Impfstoff geben?
Tja. Bei Impfstoffen ist es so: Die besten sorgen für eine sterile Immunität, sie schützen vor der Infektion, nicht nur gegen die Krankheit. Wenn der Impfstoff in einem Teil der Geimpften zwar keine sterile Immunität induziert, aber zu einem leichteren Verlauf der Krankheit führt, ist das auch ein Erfolg. Im Fall von Covid wäre eine Impfung, die vor einem schweren Krankheitsverlauf schützt, bereits ein sehr großer Erfolg. So gibt es also unterschiedliche Formen von Impfschutz. Schlimmer wäre, wenn der Impfstoff daran scheitern würde, dass er die Krankheit verschlimmert. Jedoch wissen wir in der Zwischenzeit immunologisch so viel, dass das nicht passieren sollte. In den 1960er-Jahren schützte der Masern-Totimpfstoff zwar die meisten Geimpften, aber bei einigen wenigen kam es zu atypischen Masern. Das war vor mehr als 50 Jahren und ist mit dem heutigen Lebendimpfstoff nicht mehr der Fall.
In Iran oder Singapur gibt es bereits eine zweite Welle – wie wahrscheinlich ist ein solches Szenario bei uns?
Wenn wir das gut handhaben und alle mitmachen, ist eine zweite Welle nicht zwingend. Trotzdem: Es wäre gut, mehr über die rund 4.000 Kranken zu wissen, die wir die vergangenen Wochen hatten. Da haben wir eine Chance auf eine bessere Analyse verpasst, um daraus Leitlinien abzuleiten.
Die wichtigste Frage dann vielleicht zum Schluss, Herr Claude P. Muller – wofür steht dieses P?
Pierre. Ich brauche es, um in den wissenschaftlichen Datenbanken eindeutiger identifiziert werden zu können: Muller CP.
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Schuster bleib bei deinen Leisten! Herr Muller soll sich bitte schön um sein Fachgebiet, die Viren, kümmern und sich aus der Diskussion um den Datenschutz heraushalten. Zum Glück ist die Regierung kein Verfechter der sog. Covid19-App, die von Herrn Muller über den grünen Klee gelobt wird, während er die Bedenken über den Datenschutz herunterhespielt. Würde hierzulande eine solche App eingeführt, würde sie bei mir sofort dort landen, wo sie hingehört – nämlich im digitalen Mülleimer.
Wenn die Regierung samt der Taskforce (Wilmes, Krüger + Co)
ein ganzes Volk durchtesten wollen, was nicht mal im Promillebereich der Erdbevölkerung steht, oder was die Grösse des Landes zum Rest der Welt angeht, so ist die Nummer doch ziemlich
KRANK!!!! Naja der Horst öffnet ja zum 15. Mai die Grenzen, dann können Wilmes, Krüger, Nehrbass IHRE Landsleute willkommend testen. Sprachbarrieren entstehen höchstens bei unseren französich sprechenden Grenzgängern.
Zitat : „Einer relevanten Herdenimmunität sind wir nicht wesentlich näher gekommen.“ Wei soll een och, wann all Mensch huet missen doheem bleiwen.
Zitat „Betroffene könnten eine rote Mütze aufsetzen“ – gab es soetwas ähnliches nicht schon in der Geschichte ?
Zu den Masken : Die WHO rät vom Gebrauch von Masken in der Bevölkerung ab. Sin daat lauter Clownen bei der WHO ?
Herr Müller… selbst ein Defizit?
Ech hunn de Fernseher ausgemach wéi den Dr Muller gesot huet hien hät säin Buff un fir laafen ze goen. Si solle sech mol informéieren firwat dassen d’Asiaten eng Mask undoen.
Gerade wegen der niedrigen Bevölkerungszahl genügt es hierzulande 2-3 Datenbanken miteinander abzugleichen, um schnell alle ‚anonymen‘ Datensätze mit Namen zu versehen.