Handwerk in Luxemburg / Volle Auftragsbücher - unsichere Zukunft: eine paradoxe Situation
Der Lockdown hat uns gelehrt, dass ein gemütliches Zuhause Gold wert ist. Während des „Bleift doheem“ ist Renovierungsstau besonders aufgefallen. Das könnte zu der Fantasie führen, Handwerker hätten alle Hände voll zu tun und die Branche sei gut durch die Krise gekommen. Im Gespräch mit dem Generaldirektor der Handwerkskammer Tom Wirion (51) zeigt sich, dass das so nicht stimmt.
„Das Handwerk ist nach wie vor in der Krise“, widerspricht der Hauptgeschäftsführer der „Chambre des métiers“, Tom Wirion (51), Vorstellungen wie diesen. Nicht nur der Lockdown, sondern auch der anschließende „congé collectif“ haben vor allem dem Bauhandwerk schwer zugesetzt. Genauso geht es den Mitarbeitern in den Berufen, die bei Großveranstaltungen ihr Geld verdienen, beispielsweise „traiteurs“, Veranstaltungstechniker oder Eventagenturen.
„Diese beiden Branchen leiden am meisten“, sagt Wirion, ohne dabei den Friseur um die Ecke, die Kosmetikerin oder die Fußpflegerin aus dem Blick zu verlieren. Geschlossen ist geschlossen und der Umsatz unwiederbringlich verloren. Die Krise hat eine Branche getroffen, die in Luxemburg ein Schwergewicht in Sachen Beschäftigung ist. Knapp 100.000 Menschen arbeiten nach Angaben der „Chambre des métiers“ in dem Berufsstand.
7.778 Betriebe gibt es insgesamt, das ergibt einen Anteil von neun Prozent am Bruttoinlandsprodukt. Mit 60 Prozent der Betriebe von 100 Prozent aller Handwerksbetriebe stellt die Baubranche den Löwenanteil. Von der ersten Mauer über Haustechnik und Fliesen bis zum Innenanstrich, Schreinerarbeiten oder dem Fassadenputz sind es knapp 2.400 Betriebe. Die Zahlen stammen von den „Chambre“-eigenen „chiffres-clés“ für das Jahr 2019.
Wirions Aussagen über den Zustand des Berufsstandes belegt die „Note de conjuncture“ für das zweite zusammen mit den Aussichten auf das dritte Semester 2020, die die „Chambre des métiers“ in Eigenregie herausgibt. Mit 27 Prozent und fast einem Drittel weniger betrieblichen Aktivitäten sprich Erledigen von Aufträgen für das zweite Semester und einem erwarteten weiteren Rückgang auf nur noch 43 Prozent betrieblicher Aktivitäten im dritten Semester sind die Prognosen düster. 71 Prozent der Chefs der Betriebe rechnen damit, obwohl die Auftragsbücher voll sind. Sie waren schon vor der Krise voll, denn Handwerker braucht jeder – vom Banker bis zur Reinigungskraft.
Nachwuchssorgen plagen schon seit Jahren
Die paradoxe Situation erklärt sich durch die aktuellen Sicherheitsmaßnahmen, weswegen die Betriebe nicht mit der gleichen Personalstärke und damit der gleichen Geschwindigkeit arbeiten. Rückstände durch den Lockdown kommen hinzu. „Die arbeiten sie momentan auf“, sagt Wirion und erklärt damit die gute Auftragslage. Seit Jahren profitiert das Bauhandwerk vom rasanten Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum des Landes.
Ob das in Zukunft noch so sein wird, ist zum ersten Mal seit Beginn des Baubooms ungewiss und verunsichert die Branche. Zwar hat der Staat angekündigt, große öffentliche Bauvorhaben nicht zu stoppen, die Gemeinden stehen aber größtenteils auf der Bremse. Sie bekommen weniger Zuwendungen vom Staat und stellen zurück. Neuartige Erfahrungen aus der Covid-Krise kommen hinzu.
Was ist, wenn sich das Home-Office, das jetzt schon angesichts der enormen Mietpreise als Sparpotenzial erkannt ist, durchsetzt? „Es gibt Leerstände“, bestätigt Wirion. Ob zukünftig noch weiter in dem Umfang Büroflächen gebaut werden, ist genauso wenig abzusehen wie die Investitionslaune der Privatkunden. Ein Haus zu kaufen, ist eine Lebensentscheidung.
Die Corona-Krise täuscht im Übrigen nicht darüber hinweg, dass die Branche schon länger unter grundsätzlichen Problemen leidet. Es gibt nicht genug Nachwuchs. Gemeint sind junge Menschen, die sich für eine Ausbildung im Handwerk entscheiden. Wirion führt mangelnde Orientierung in den Schulen als einen der Gründe an. Ein Beruf im Handwerk hat den Geschmack von saurem Bier. „Es ist eine Wahl ‚par défaut’“, sagt Wirion. „Die Schüler werden nicht ganzheitlich betrachtet.“
Handwerker aus der Großregion
Hat jemand den Abschluss geschafft – gemeint ist ein Gesellenbrief –, kann er sich praktisch aussuchen, wo er arbeiten will. Aber selbst die mit dem „Diplôme de technicien“ oder einem vergleichbaren Abschluss sind zu wenig, um den Bedarf zu decken. Also hat das Handwerk doch ein Imageproblem? „Bürojobs sind für viele immer noch attraktiver“, sagt Wirion. Vor dem Hintergrund der Alterspyramide bekommen Aussagen wie diese noch mehr Brisanz.
2019 hatten 1.100 Chefs von Handwerksbetrieben in Luxemburg die Grenze von 60 Jahren überschritten. Bei einer durchschnittlichen Betriebsgröße von rund zehn Mitarbeitern betrifft das 11.000 Beschäftigte, für die in den nächsten Jahren ein neuer Chef gesucht wird. Ähnlich sieht es bei den Beschäftigten in der Branche aus. In den „chiffres clés“ ist von 20.000 bis 23.000 Angestellten im Handwerk die Rede, die in den nächsten zehn Jahren das Rentenalter erreichen werden. Die 20- bis 30-Jährigen stellen nur 17 Prozent aller Mitarbeiter, unter 20 Jahre alt sind gerade mal zwei Prozent.
Aufgrund dieser Probleme rekrutiert Luxemburg schon länger Handwerker aus der Großregion. 24.700 Handwerker kommen aus Frankreich, etwas mehr als 10.000 aus Belgien und rund 13.300 aus Deutschland. Knapp 30 Prozent der Mitarbeiter sind im Land lebende Portugiesen. Nur 15 Prozent sind Luxemburger. „Es wird aber auch in der Großregion immer schwieriger“, sagt Wirion. „Deshalb gibt es Überlegungen, den Radius Richtung Osteuropa, wo es eine Tradition im Handwerk gibt, auszuweiten.“
Wo diese Menschen dann allerdings untergebracht werden sollen, bleibt eine fast unlösbare Aufgabe angesichts der hohen Mietpreise und des sowieso schon knappen Wohnraumes. „Wenn man denen dann noch etwas zu den Lebenshaltungskosten sagt, dann ist es aus“, sagt Wirion. „Das lohnt sich nicht für sie.“
Wie im Horeca-Sektor befürchtet Wirion im Handwerk Konkurse. Zwar ist die Zahl derer, die aufgeben müssen, bislang zum Vergleichszeitraum 2019 gleich geblieben, was aber nichts heißen will. „Ich möchte derzeit nicht mit dem Chef eines jungen Handwerksbetriebes tauschen, der Kredite zurückbezahlen muss“, sagt er. Noch wirken die staatlichen Anreize zum Überstehen der Krise wie Kurzarbeit oder Stundung von Zinsen für Kredite. „Was danach kommt, weiß niemand“, sagt der Handwerkskammerchef.
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