Luxemburg im Ausnahmezustand / Von den Vollmachtgesetzen bis zum „Etat de crise“
In Krisensituationen müssen Regierungen manchmal schnell Entscheidungen treffen. Um langwierige Gesetzesprozeduren zu umgehen, existieren in den meisten Demokratien Ausnahmeregelungen, die die Exekutivgewalt dazu befähigen, Maßnahmen ohne Zustimmung der Parlamente umzusetzen. In Luxemburg erteilte die Abgeordnetenkammer der Regierung diese Befugnis erstmals 1915 durch ein Gesetz. Nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte sich das sogenannte Vollmachtgesetz, das bis zur Jahrtausendwende quasi jährlich vom Parlament verlängert wurde. 2004 wurde der Krisenzustand in Luxemburg zum Verfassungsbestandteil erhoben. 13 Jahre später wurde der entsprechende Verfassungsartikel 32.4 im Zusammenhang mit den Terrorattacken von Paris erweitert und kam vor dem Hintergrund der Coronakrise am 18. März 2020 erstmals zur Anwendung. Ein kritischer Rückblick.
Am 11. März 1915, sieben Monate nachdem die ersten deutschen Truppen in Luxemburg einmarschiert waren, verabschiedete die Abgeordnetenkammer das erste sogenannte „Vollmachtgesetz“, das der Regierung die notwendigen Befugnisse zur Wahrung der wirtschaftlichen Interessen während des Ersten Weltkrieges erteilte. Alle Maßnahmen sollten durch Verordnungen umgesetzt werden können und dem Allgemeinwohl dienen. Das Escher Tageblatt sprach in einem Artikel vom 18. März 1915 von einem Gesetz, „das der Regierung diktatoriale Befugnisse für die Lösung des Ernährungsproblems überträgt“.
Ab dem Sommer 1914 waren die Lebensmittelpreise explodiert. Die Einfuhr von Nahrungsmitteln war wegen der Kriegssituation schwierig geworden. Ernteausfälle und die Präsenz mehrerer Tausend Soldaten, die zusätzlich ernährt werden mussten, führten dazu, dass insbesondere die Preise für Getreide und Mehl ins Unermessliche stiegen. Eine Mitschuld trugen laut Tageblatt die Bauern, „die ihr Getreide schon seit zwei Jahren aufgespeichert und in den letzten zwei Jahren noch kein Malter verkauft hätten“. Infolge des Gesetzes hatte die Regierung „die Beschlagnahme aller Getreide- und Mehlvorräte beschlossen“, hieß es im Tageblatt, das den interventionistischen Beschluss insgesamt begrüßte: „Wenn die Kinder des Volkes des Morgens ohne ein Stück Brot zur Schule müssen, wenn die Arbeiter nicht zur Arbeit gehen können, weil sie kein Brot bekommen können, dann ist es höchste Zeit, daß der Staat einschreitet und den Aushungerungspolitiken der Hamster ein Ende macht.“
Viel Raum für Interpretation
Das Gesetz sollte ausdrücklich nur bis Ende des Ersten Weltkrieges seine Gültigkeit behalten. Angewandt wurde es aber bis 1935. Insgesamt 618 Verordnungen haben die unterschiedlichen Regierungen auf der Grundlage des Vollmachtgesetzes von 1915 getroffen. Der Begriff „wirtschaftliche Interessen“ habe viel Raum für Interpretation zugelassen, schreibt der Historiker Vincent Artuso in einem Tageblatt-Beitrag vom 13. Juni 2019. Die gesamte Einwanderungspolitik in den Zwischenkriegsjahren sei durch großherzogliche Verordnungen geregelt worden. So hatte der Beschluss vom 7. Dezember 1929 beispielsweise zum Ziel, „aus Gründen wirtschaftlicher und sozialhygienischer Natur, sowie aus Gründen der öffentlichen Ordnung“ den „übermaßigen Zustrom, von Fremden in das Großherzogtum einzudämmen“.
Erst 1934 brachte die Arbeiterpartei zum ersten Mal eine Motion zur Aufhebung des Vollmachtgesetzes in der Abgeordnetenkammer ein. Neun Monate später erklärte das Strafgericht das Gesetz für hinfällig.
Im Januar 1935, nur vier Monate bevor die rechtsliberale Regierung das Projekt für das Maulkorbgesetz in der Abgeordnetenkammer hinterlegte, verabschiedete das Parlament ein weiteres Notstandsgesetz, das die Kompetenz der Regierung in wirtschaftlichen Fragen neu regeln sollte. Auf Grundlage dieses Gesetzes sollte der damalige Staatsminister Joseph Bech soziale Reformen beschließen, die Artuso zufolge den Arbeiterbewegungen des Jahres 1936 ein Ende setzten. Die Gründung des „Conseil national du travail“ war nur einer der 108 Beschlüsse, die die Regierung auf Basis dieses Gesetzes traf.
Das Gesetz vom 10. Mai 1935 zur Regelung der Kompetenz der Regierung in Wirtschaftsfragen lief am 1. Juni 1937 aus und wurde mit dem Gesetz vom 27. Dezember 1937 zur Ausweitung der Machtbefugnisse der Regierung („extension de la compétence du pouvoir exécutif“) verlängert. Nach dem politischen Debakel, das auf das gescheiterte Referendum zum Maulkorbgesetz folgte, wurde nach langen Verhandlungen eine neue Regierung gebildet, in der sich alle großen politischen Strömungen im Klima einer Nationalunion vereinten. Die Arbeiterpartei kam in die Regierung und stellte sechs Minister, die Opposition bestand nur noch aus sieben der 55 Abgeordneten. Mit der Erweiterung des Vollmachtgesetzes sicherte sich die Exekutivgewalt 1937 das Recht, die Organisation der gewerkschaftlichen Arbeitsbörsen und die Gewerbeaufsicht zu regeln, die Arbeitszeiten in Industrie und Handel festzulegen, die Funktionsweise des Arbeitsgerichts bei Streitfragen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern anzuordnen sowie Zuschläge für Bezieher der Kranken- und Altersrente zu bestimmen.
„Die Lage, in der wir uns befinden, ist nicht mehr normal“
Mit dem Gesetz vom 28. September 1938 wurden die Vollmachten der Regierung erneut erweitert. Es wurde einstimmig im Parlament verabschiedet. Hatte das Vollmachtgesetz vom Dezember 1937 noch vorwiegend der Klärung sozialer Fragen gedient, war die Tragweite nun eine andere. Im Angesicht des drohenden Krieges erlaubte es der Regierung, mit großherzoglichen Verordnungen die notwendigen Maßnahmen zu treffen, um die wirtschaftliche Ordnung und die Sicherheit des Staates und der Personen zu gewährleisten. „Die Tragweite des neuen Vollmachtgesetzes mochte auf den ersten Blick gewisse Bedenken rechtfertigen, – handelt es sich doch tatsächlich um eine sozusagen unbeschränkte Delegation der Legislativgewalt an die Regierung, d.h. um Selbstbestimmungen, die in normalen Zeiten von uns, als Verteidiger der parlamentarischen Demokratie kaum hätten in Betracht gezogen werden können. Aber die Lage, in der wir uns befinden, ist eben nicht mehr normal“, schrieb am 29. September 1938 das Tageblatt, das die Notwendigkeit dieser Ausweitung der Befugnisse durchaus anerkannte und versicherte, dass „die wesentlichen Prinzipien der parlamentarischen Demokratie unangetastet bleiben“ würden.
Am 29. August 1939, wenige Tage vor dem Angriff Hitlers auf Polen, wurde das Vollmachtgesetz ein weiteres Mal verlängert. Es habe der Regierung erlaubt, alle Wahlen zu vertagen, schreibt Vincent Artuso. Einige der schicksalhaftesten Entscheidungen der luxemburgischen Geschichte seien auf Grundlage der Vollmachtgesetze von 1938 und 1939 getroffen worden. Insgesamt waren es über 1.000 Beschlüsse. Während des Krieges hätten sie sowohl der Exilregierung als auch der Verwaltungskommission quasi freie Hand gegeben. Wie Artuso in dem nach ihm benannten und von der Regierung in Auftrag gegebenen Bericht im Jahr 2015 herausfand, trug diese Verwaltungskommission eine Mitschuld an der Judenverfolgung in Luxemburg.
25 Jahre „état de nécessité consécutif à la guerre“
Aus den ersten Wahlen nach dem Zweiten Weltkrieg ging im November 1945 eine Regierung der Nationalen Union hervor, in der die vier stimmmächtigsten Parteien CSV, L(S)AP, Groupement démocratique und KPL vertreten waren. Im Januar 1946 beschloss die Abgeordnetenkammer ein Gesetz, das einerseits die Vollmachtgesetze von 1938 und 1939 aufhob, andererseits der Regierung bis Ende des Jahres neue Sondervollmachten verlieh, um die Umsetzung wirtschaftlicher Maßnahmen im Rahmen des Wiederaufbaus des Landes zu beschleunigen.
Als rechtliche Grundlage wurde der „état de nécessité“ infolge des Krieges angeführt. Im Gesetzestext wurde festgehalten, dass die Regierung vor jeder großherzoglichen Verordnung, die sie erlässt, den Staatsrat und den Arbeitsausschuss der Abgeordnetenkammer in Kenntnis setzen muss. Darüber hinaus wurde festgelegt, dass die Sonderbefugnisse nicht für Änderungen an der Verfassung gültig sind. Dieses Habilitationsgesetz lief am 31. Dezember 1946 aus, wurde aber eine Woche zuvor vom Parlament um ein Jahr verlängert. Schon damals erkannten vor allem die Abgeordneten der KPL und der Arbeiterpartei die Gefahren, die diese Sondervollmachten trotz aller Kontrollmechanismen für die Demokratie bedeuten.
In den Folgejahren wurde die „Loi portant habilitation pour le gouvernement de réglementer certaines matières“ Jahr für Jahr verlängert. 1959 wurde der Begriff „Gouvernement“ durch „Grand-Duc“ ersetzt und unzeitgemäße Verordnungen wurden aufgehoben.
Ende der 1960er-Jahre war es im Parlament zu Diskussionen über die Verlängerung des Vollmachtgesetzes gekommen. 1969 arbeitete die damalige CSV-DP-Koalition einen neuen Gesetzestext aus, demzufolge Verordnungen der Regierung einem Gutachten des Staatsrats und der Zustimmung des Arbeitsausschusses (später der „Conférence des présidents“) des Parlaments bedurften. Die Regelung, dass die Regierung Verordnungen „sur le fondement de l’état de nécessité consécutif à la guerre“ treffen könne, wurde erst 1970 gestrichen. Fortan stand es der Regierung aber zu, nicht nur wirtschaftliche, sondern zusätzlich noch finanztechnische Maßnahmen per großherzogliche Verordnung zu ergreifen. Vor dem Hintergrund der Expansion der internationalen Hochfinanz und dem Aufstieg Luxemburgs zu einem der weltweit wichtigsten Bankenplätze hatte die Regierung diesen Zusatz für notwendig erachtet. Die Oppositionsparteien LSAP und KPL lehnten den Gesetzentwurf bei der Abstimmung im Parlament ab. Am 4. August 1970 trat diese neue Form des Habilitationsgesetzes in Kraft.
Krisenzustand wird Bestandteil der Verfassung
Bis 2003 wurde das Gesetz weiterhin Jahr für Jahr als letztes Projekt im Dezember verlängert. Es wurde selten angewandt. Beispiele für Beschlüsse sind Wirtschaftssanktionen gegen Kuwait oder Jugoslawien sowie die einmonatige Staatsgarantie für Fluggesellschaften, um die wirtschaftlichen Folgen der Anschläge vom 11. September 2001 abzufedern.
Zu dieser Zeit kam es im Parlament bereits regelmäßig zu Diskussionen über die Verlängerung des Vollmachtgesetzes. Im Dezember 2003 kritisierte der LSAP-Abgeordnete Alex Bodry, der damals bereits an der großen Verfassungsrevision mitarbeitete, die jährliche Verlängerung und bemängelte, dass im Regierungstext keine nachträgliche Genehmigung des Parlaments vorgesehen sei. Zudem vermisste Bodry eine präzisere Begründung des Anwendungsbereichs der Vollmacht.
2004 wurde die Verlängerungsprozedur hinfällig. Auf Anraten des Staatsrates unterbreitete der CSV-Abgeordnete und Verfassungsexperte Paul-Henri Meyers der Abgeordnetenkammer 2003 einen Gesetzesvorschlag, der den Krisenzustand zum Verfassungsbestandteil erheben sollte. Nach der Schaffung des Verfassungsgerichts im Jahr 1996 waren die Unzulänglichkeiten im Grundgesetz immer offensichtlicher geworden. Mit dem Gesetzesvorschlag sollte die reglementarische Rolle des Großherzogs klarer definiert und mehr Rechtssicherheit geschaffen werden. Die Abgeordnetenkammer nahm die Reform der Artikel 11.6, 32, 36 und 76 des Grundgesetzes 12. Mai 2004 einstimmig an.
Artikel 32.4 sah nun vor, dass der Großherzog im Falle von internationalen Krisen in allen dringenden Fragen Verordnungen erlassen kann, selbst wenn sie gegen geltende Gesetze verstoßen. Damit wurde der Anwendungsbereich seiner Vollmachten deutlich ausgeweitet. Fortan waren die Maßnahmen nicht mehr nur auf Wirtschaft und Finanzen begrenzt. Die Verordnungen hatten eine Gültigkeit von drei Monaten. Wenn sie danach nicht vom Parlament in geltendes Recht umgewandelt wurden, verfielen sie. 2008 und 2011 wurde der Artikel im Zuge der weltweiten Finanzkrise zur Rettung und Restrukturierung der Dexia-Bankengruppe angewandt.
Ausdehnung auf nationale Krisen
Im Juni 2017 haben die blau-rot-grüne Regierung und das Parlament dann gemeinsam beschlossen, Artikel 32.4 der Verfassung zu überarbeiten. Anlass zur Revision gaben die Terrorattacken vom 13. November 2015 in Paris und weitere Anschläge in anderen europäischen Staaten. Ziel war es, den Anwendungsbereich des „Etat de crise“ nicht mehr nur auf internationale Krisen zu beschränken, sondern auch auf nationale Krisen auszudehnen. Gleichzeitig sollte die parlamentarische Kontrolle in Krisenzeiten gestärkt werden.
Die Regierung kann den Krisen- oder Ausnahmezustand seitdem für eine Dauer von zehn Tagen ausrufen. Eine Verlängerung kann nur mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament erfolgen. Der Text, den Berichterstatter Alex Bodry im Januar 2016 in der Kammer deponierte, war aber umstritten. Ursprünglich war vorgesehen, die Regierung könne auch im Falle einer „Bedrohung der öffentlichen Ordnung“ ohne Zustimmung des Parlaments handeln. Die Gewerkschaften kritisierten diese Formulierung scharf und befürchteten, dass der Krisenzustand auch beispielsweise bei Streiks ausgerufen werden könne. Daraufhin wurde der Begriff „öffentliche Ordnung“ durch „öffentliche Sicherheit“ ersetzt. Die anfangs vorgesehene maximale Verlängerung von sechs Monaten wurde nach zahlreichen Einwänden auf drei Monate reduziert.
Die Kritiken des Staatsrats, der Berufskammern und der Zivilgesellschaft wurden schließlich zumindest teilweise berücksichtigt und der Text wurde nachgebessert. So wurden die Dringlichkeit und der Krisenbegriff klarer definiert und es wurde präzisiert, dass die Beschlüsse der Regierung nicht gegen die Verfassung und internationale Abkommen verstoßen dürfen. Im ursprünglichen Text war schon festgehalten worden, dass die Kammer während des Krisenzustands nicht aufgelöst werden darf und voll funktionsfähig bleibt. Die Verordnungen, die die Regierung während des Krisenzustands trifft, müssen notwendig, angemessen und verhältnismäßig sein. Mit dem Ende der Krise verlieren sie ihre Gültigkeit.
Nichtsdestotrotz bleibt die Erhebung des Krisenzustands in die Verfassung weiterhin in Teilen der Gesellschaft umstritten. Juristen sehen den Rechtsstaat in Gefahr, „déi Lénk“ und ADR lehnten die Verfassungsänderung 2017 im Parlament ab.
Am 18. März 2020, auf den Tag genau 105 Jahre, nachdem das erste „Vollmachtsgesetz“ in Luxemburg veröffentlicht wurde, rief Premierminister Xavier Bettel (DP) im Rahmen der Coronakrise erstmals den Krisenzustand aus. Nur drei Tage später stimmten alle Parteien im Parlament der Verlängerung um drei Monate zu.
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Le mal passé, l’homme sait-il en tirer les leçons? Est-il capable, après avoir vaincu la pandémie, de vivre après autrement qu’avant? Ya-t-il chez l’homme qui a frôlé la catastrophe, assez d’intelligence et de cœur pour tout mettre en œuvre afin qu’elle ne renaisse pas? L’héroïsme qui fut le sien face au fléau va-t-il persister pour que sa victoire ne soit pas le début d’une accalmie mais celui d’une paix définitive? L’homme saura-t-il être sage? Ne retourne-t-il pas trop vite à l’insouciance? N’est-ce pas une source du mal parmi tant d’autres, cette facilité d’oublier les souffrances , les peurs, les morts? ( Albert Camus, la peste )
@titi
Et si l‘Homme de l‘après Corona se choisissait pour la première fois de son existence un vrai chef !
Et qui serait ce chef?
@titi
À l Homme de l‘après Corona d‘en décider et non à un titi , non ?