Campus / Von der Ukraine in die Luxemburger Schulen: So wurden die Flüchtlingsschüler verteilt
Mit der Ankunft der Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine wurden nicht nur neue Unterkünfte notwendig, sondern auch Plätze an Luxemburgs Schulen. Insgesamt 1.167 Einschreibungen von ukrainischen Flüchtlingsschülern zählt das Luxemburger Bildungsministerium am Ende des Schuljahres 2021/22 – eine große Umstellung und ein nicht zu unterschätzender Arbeitsaufwand, wie die Rektorin des Lycée Michel Lucius gegenüber dem Tageblatt mitteilt.
Mit dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs am 24. Februar wurde Luxemburg zur neuen Heimat vieler Menschen – provisorisch, über längere Zeit oder vielleicht sogar dauerhaft. Die Flüchtlingswelle traf das Großherzogtum unvorbereitet und so kostete es das Zufluchtsland so einiges an Mühe, um die Neuzugänge unterzubringen und zu integrieren. Und auch knapp ein halbes Jahr nach Kriegsausbruch ist die Lage alles andere als ideal. Auch der Luxemburger Bildungsbereich stand vor einer gewaltigen Herausforderung.
Insgesamt 1.273 Flüchtlingsschüler aus der Ukraine wurden seit Kriegsausbruch an Luxemburgs öffentlichen Schulen aufgenommen, schreibt das Bildungsministerium auf Nachfrage des Tageblatt. Da einige Familien das Land inzwischen wieder verlassen haben, sind am Ende des Schuljahres 2021/22 noch 1.167* Schüler an Luxemburgs Schulen eingeschrieben gewesen.
Das Bildungsangebot für ukrainische Flüchtlinge wurde laut Ministerium vorrangig in den fünf öffentlichen Europaschulen sowie im Lycée – International School Michel Lucius organisiert. So hätten sechs staatliche Schulen mit internationalem Bildungsangebot sowie weitere Schulen auf regionaler Ebene Aufnahmeklassen für diese Schüler geschaffen – sowohl in den Grund- als auch in den Sekundarschulen.
Insgesamt 846 Schüler wurden in englischsprachigen Aufnahmeklassen unterrichtet worden, die speziell für ukrainische Schüler eröffnet wurden. Die Wahl der Unterrichtssprache sei auf Englisch gefallen, da Schüler in der Ukraine üblicherweise ab dem dritten Schuljahr Englisch lernen. Je nach Bedarf und Anfrage würden aber auch Kinder in den kommunalen Grundschulen unterrichtet werden. Das trifft auf insgesamt 320 Schüler zu. Bei diesen Kindern wird im Zyklus 1 der Akzent auf die Sprachförderung im Luxemburgischen gelegt. „In den Zyklen 2 bis 4 besuchten die Kinder Sprachförderungskurse in deutscher oder französischer Sprache“, heißt es in dem Schreiben des Bildungsministeriums.
Auf nur sechs Schulen hierzulande verteilt
Mit insgesamt ukrainischen 272 Schülern hat die Michel-Lucius-Schule die meisten aufgenommen. Das sind fast doppelt so viele wie die an zweiter Stelle stehende Lënster Lycée International School. 134 von ihnen besuchen die Grundschule, 138 das Lyzeum. In Junglinster sind von insgesamt 166 Schülern 78 in der „Primärschoul“ und 88 im „Enseignement secondaire“. An dritte Stelle kommt die Ecole internationale Mersch Anne Beffort (143), gefolgt von der Ecole internationale Differdange & Esch-sur-Alzette (130). Die Ecole nationale pour adultes hat 51 Schüler ab 17 Jahren aufgenommen.
Dass, wie im Falle des Michel-Lucius-Campus, ein so großer und nicht vorgesehener Zuwachs viel Aufwand und Umstellung mit sich bringt, liegt auf der Hand. Die Direktorin Pascale Petry teilt auf Tageblatt-Nachfrage mit, dass ihre internationalen Grundschulklassen durchschnittlich 14 bis 20 und ihre Sekundarschulklassen 22 bis 24 Schüler fassen. Diese Normen wurden mit der Ankunft der ukrainischen Kinder und Jugendlichen überschritten. Darum hat die Schule weitere Klassen für das kommende Schuljahr vorgesehen. Unter normalen Umständen entsprächen 134 Grundschüler sechs bis neun ganzen Schulklassen, 138 Sekundarschüler ungefähr sechs.
Damit ist allerdings die Aufnahmekapazität der Schule an ihre Grenzen gestoßen: „Weitere ukrainische Flüchtlinge aufzunehmen, ist nicht möglich. Dies hat nichts mit dem Statut als Flüchtling zu tun, sondern mit der Herausforderung der sprachlichen Immersion und der Integration in die Regelklassen. Des Weiteren ermöglicht unsere Infrastruktur keine Organisation weiterer Klassen“, sagt Petry. So war der Campus Michel Lucius bereits im Schuljahr 2021/22 auf die Räumlichkeiten der Universität angewiesen – vor allem auf jene in den Bereichen der Naturwissenschaften und der Computer Science. Petry zufolge ist das Bildungsministerium für die Verteilung der Flüchtlingsschüler zuständig.
Kein Bedarf, um auf andere Schulen zurückzugreifen?
Die fünf öffentlichen Europaschulen und die Michel-Lucius-Schule haben bereits vor der Ankunft der Flüchtlinge große Erfahrung im Unterrichten von Schülern mit sehr unterschiedlichen Sprachprofilen gehabt. Diese Einrichtungen haben zudem „aufgrund einer Sonderregelung in Bezug auf die Sprachkenntnisse eine größere Flexibilität, um z.B. englischsprachiges Lehrpersonal einzustellen“, schreibt das Bildungsministerium. Privatschulen könnten im Rahmen ihrer Autonomie selbst darüber verfügen, ob und wie viele Schüler sie aufnehmen.
Das Athénée de Luxembourg hingegen, das auch das englischsprachige International Baccalaureate (IB) im Sekundarbereich anbietet, hat bisher keine ukrainischen Schüler bei sich aufgenommen. Warum das so ist, bleibt vom Bildungsministerium im Grunde unbeantwortet: Das Ministerium sagt lediglich, dass das Athenäum einerseits kein Angebot für Grundschüler hat und andererseits, dass die Schüler des IB dort nur einen sehr geringen Anteil der Gesamtanzahl ausmachen.
Claude Heiser, der Direktor des Athénée, sagt gegenüber dem Tageblatt, dass die ukrainischen Schüler zuerst in den internationalen Schulen – zu denen seine Schule nicht gehört – untergebracht wurden. Das Athénée biete lediglich das IB sowie eine ACCU-Klasse (Aufnahmeklassen für Schüler, die aus dem Ausland kommen) an. Zudem sei die Aufnahmekapazität des Athenäums inzwischen „sehr begrenzt, da die Infrastrukturen quasi alle belegt sind“.
Dennoch habe die Schule nach Ausbruch des Krieges (noch während des Schuljahres 2021/22) ein Klassenzimmer freigeräumt, um Platz für ukrainische Flüchtlinge zu schaffen und dem Bildungsministerium auch ihre Bereitschaft, Schüler aufzunehmen, mitgeteilt. „Bis jetzt gab es keinen Bedarf, auf unsere Schule zurückzugreifen“, sagt Heiser. Das Angebot bleibe jedoch auch für kommende Schuljahre bestehen. So könnte das Athénée künftig noch 20 bis 25 ukrainische Schüler aufnehmen.
Psychologische Betreuung spielt eine Rolle
„Die Aufnahme einer großen Anzahl von ukrainischen Flüchtlingen innerhalb kürzester Zeit hat das Luxemburger Bildungssystem vor große Herausforderungen gestellt“, heißt es in dem Schreiben. Doch die langjährigen Erfahrungen des Großherzogtums in der Schulung von neu zugewanderten Schülern – rund 2.000 jährlich – habe erheblich zur Bewältigung dieser „beispiellosen Flüchtlingswelle“ beigetragen.
Es sei nichts Neues für die internationale Schule, dass im Laufe des Schuljahres weitere Kinder und Jugendliche aufgenommen werden, auch Schüler aus Kriegsgebieten – etwa aus Syrien, Afghanistan oder Jemen. „Aufbauend auf diesen Erfahrungen konnten wir uns in sehr kurzer Zeit vorbereiten. Wir waren uns aber auch der Komplexität der Aufgabe bewusst“, sagt Rektorin Petry. Neben den infrastrukturellen Hürden mussten auch dringende Fragen rund um die Unterrichtsprache, das Curriculum, den pädagogischen Ansatz, die kulturelle Integration sowie die psychologische und sozio-emotionale Betreuung geklärt werden.
Doch „besonders die große Anzahl der neuen Schüler war und ist auch jetzt noch eine Herausforderung für unsere ganze Schulgemeinschaft“, betont Petry. Zugleich lobt sie „die sehr hohe pädagogische und fachliche Kompetenz sowie das bemerkenswerte Engagement“ ihres Personals – insbesondere der Lehrkräfte der internationalen Klassen – und bedankt sich für die „aktive Willkommenskultur“ ihrer Schüler und deren Eltern.
Das Michel Lucius rekrutiere bereits seit April neues Personal, um die zusätzlichen Klassen zu unterrichten. Einige davon hätten zeitnah ihre Posten antreten können. Andere würden im September oder im Laufe des ersten Trimesters ihre Arbeit aufnehmen können.
Gesetze mussten geändert werden, damit die sechs internationalen öffentlichen Schulen zusätzliches Lehrpersonal für die ukrainischen Schüler einstellen konnten, so das Bildungsministerium – insgesamt 107 Personen an den öffentlichen und 209 an den lokalen Grundschulen. Zudem wurden 54 ukrainischsprachige Personen mit Erfahrung im Bildungsbereich als interkulturelle Mediatoren für die Begleitung und Betreuung der ukrainischen Schüler rekrutiert. Ihre Aufgabe ist es, die ukrainischen Schüler zu begleiten und zu betreuen. Darunter befinden sich sowohl Flüchtlinge als auch bereits vor dem Krieg in Luxemburg ansässige Ukrainer. Diese Mediatoren sind je nach Bedarf und zu betreuender Schüleranzahl auf die verschiedenen Schulen verteilt worden.
Demnach wurden im Laufe des Schuljahres insgesamt 372 Personen eingestellt, um das gestiegene Arbeitspensum zu kompensieren. Im Herbst soll zusätzliches englischsprachiges Lehr- und sozio-edukatives Personal eingestellt werden.
Fokus liegt auf Sprachkompetenzen
Die Situation der Flüchtlingsschüler ist sehr unterschiedlich, so das Ministerium. Einige hätten das Großherzogtum bereits verlassen, andere würden das noch tun und wiederum andere werden wahrscheinlich dauerhaft bleiben. Unabhängig von ihrer künftigen Schullaufbahn sollten die ukrainischen Schüler bestmöglich begleitet werden: Ziel der Regierung ist es, die Sprachkenntnisse dieser Schüler so zu fördern, dass sie in reguläre internationale Klassen öffentlicher Schulen integriert werden können.
So könnten die Schüler ein offizielles internationales Programm absolvieren und einen entsprechenden Abschluss erwerben. „Die Schulen und der ‚Service de la scolarisation des enfants étrangers‘ des Ministeriums haben die Situation der betroffenen Schüler individuell geprüft“, heißt es in dem Schreiben. Je nach Profil würden die Schüler ein weiteres Jahr in einer Aufnahmeklasse absolvieren oder aber in eine reguläre (internationale) Klasse platziert werden.
Viele Schüler sind erstaunt, dass es wichtig ist, Fehler zu machen, um zu lernen, und loben die ungewohnt positive Unterstützung durch ihre LehrerDirektorin des Lycée – International School Michel Lucius über ihre Schüler aus der Ukraine
Auch Petry meint, dass es nicht ratsam ist, zu pauschalisieren, und es schwierig ist, eine Aussage zu machen, die allen Schülern gerecht wird. Im Großen Ganzen sehe sie jedoch „eine hohe Resilienz, eine große Motivation und Arbeitsbereitschaft, Stärken in Mathematik, Physik und in den Computerwissenschaften“. Auch in der Kunst, der Musik und dem Tanz besäßen ihre ukrainischen Schüler große Fähigkeiten.
Das neue Schulklima bzw. die Unterrichtsmethoden seien allerdings noch ungewohnt für die ukrainischen Flüchtlingsschüler: So sei Englisch als Hauptunterrichtssprache ein Novum für die meisten. Aber auch beispielsweise an Praktika in den Naturwissenschaften müssten sich diese Schüler gewöhnen. „Viele Schüler sind erstaunt, dass es wichtig ist, Fehler zu machen, um zu lernen, und loben die ungewohnt positive Unterstützung durch ihre Lehrer“, streicht Petry hervor.
Wir dürfen im Interesse der Schüler die Realität des Arbeitsmarktes nicht außer Acht lassen
Zurzeit gibt es für internationale Studenten hierzulande nicht sonderlich viele Alternativen zur regulären „Première“. „Das Ministerium ist bestrebt, auch die Berufsausbildung an die sprachliche Vielfalt des Landes anzupassen“, antwortet das Bildungsministerium auf Nachfrage des Tageblatt. In den letzten Jahren sei das Angebot an englisch- und französischsprachiger Ausbildung – neben den bereits bestehenden deutschsprachigen Möglichkeiten – ausgeweitet worden. Ziel sei es, „das Angebot an englischsprachigen Ausbildungen fortlaufend zu erweitern, insbesondere für Schüler, die internationale öffentliche Schulen besuchen“, so das Ministerium.
Andererseits sei die Ausweitung englischsprachiger Ausbildungen im Handwerksbereich nur begrenzt sinnvoll, meint das Ministerium: „Wir dürfen im Interesse der Schüler die Realität des Arbeitsmarktes nicht außer Acht lassen.“ Demnach sind englischsprachige Berufsausbildungen auch nur in Branchen wirklich sinnvoll, in denen diese Sprache tatsächlich auch als Arbeitssprache benutzt wird, behauptet das Bildungsministerium. Deshalb würden neu zugewanderten Schülern Berufsausbildungen mit konkretem Spracherwerb (Immersion) in Französisch und Deutsch angeboten werden.
* Addiert man die Zahl der Schüler, die an den kommunalen Grundschulen unterrichtet werden (320), mit jenen aus den englischsprachigen Aufnahmeklassen (846), ergibt das insgesamt 1.166 Schüler. Aus den vom Ministerium erhaltenen Informationen geht nicht klar hervor, wie diese Differenz von einem Schüler zustande kommt.
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Respekt fir all di vill Proffen, di sech gutt këmmeren!
„große Fähigkeiten im Tanz“ …, dann ist ja alles bestens
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