/ Von Stürmen und Keksen: Tools „Fear Inoculum“ zwischen Erwartungen und Anspruch
Was lange gärt, wird endlich Wut: Nach 13 Jahren war der einzige Grund, weshalb die neue Tool-Platte noch nicht in einem Atemzug mit Guns N’Roses’ „Chinese Democracy“ genannt wurde, der Respekt, der nach dem Meisterwerk „10.000 Days“ immer noch nachhallte. 4.868 Tage hat es gedauert, bis die Fans „Fear Inoculum“ hören und in den Händen halten konnten. Jeff Schinker und Tom Haas unterhalten sich darüber, ob das Warten sich gelohnt hat.
Tom Haas: Hat die Welt dir schon mal ein schöneres Geburtstagsgeschenk bereitet?
Jeff Schinker: Diese Frage zu beantworten, könnte uns ganz schön vom Thema abbringen – vor sechs Jahren feierte ich meinen Geburtstag auf dem Arc Tangent Festival. Aber da sogar auf der Facebook-Seite vom Arc Tangent – dem Festival für Post-, Math- und Noise-Rock – für das neue Tool-Album geworben wird, sind wir dann trotzdem wieder beim Thema. Weil für Musikkenner heute alle Wege zum neuen Tool-Album führen. Weswegen ich mit einer Gegenfrage antworte: Wie vermeidet man eine Enttäuschung, wissend dass nach 13 Jahren der Erwartungshorizont so enorm geworden ist, dass Fans sich von einer neuen Tool-Platte einen sofortigen „Eargasm“ erhoffen? Vergleiche mit Becketts Godot kamen auf, auf Facebook gedenkt man sogar Tool-Fans, die in der Wartezeit auf das Album verstorben sind – da ist die Desillusionierung ja fast vorprogrammiert …
T.H.: Ich finde, das wurde durch die Single-Auskopplung „Fear Inoculum“ sehr gut, wenn auch möglicherweise unbeabsichtigt gelöst. Das Lied ist meines Erachtens das schwächste Stück der Platte, dadurch erhielten alle Erwartungen erst mal einen Dämpfer. Im Anschluss folgte dann die Überwältigung nach dem Antäuschen, die ganze LP ist ein qualitatives Crescendo und „7empest“ gehört für mich zu den genialsten Tracks, die Tool jemals komponiert hat. Damit will ich auf keinen Fall sagen, dass „Fear Inoculum“ ein schlechtes Lied ist, aber gerade die Drumparts von Daniel Carey klingen teilweise wie Samples von „10.000 Days“. Mir war etwas zu viel Recycling vorhanden, das Gefühl war allerdings spätestens mit „Invincible“ gestorben.
J.S.: Ganz einverstanden bin ich mit deiner strukturellen Analyse nicht. Die Platte bewegt sich in der Tat immer mehr in Richtung Neuland – was ihr durchaus guttut, denn die vier ersten Tracks erinnern mich zum Teil dann doch sehr an die vergangenen Tage der Band. Für mich bleibt aber „Pneuma“, auch wenn es teilweise stark an „Lateralus“ erinnert, eines der Highlights der Platte. Hier finde ich vor allem den Einsatz der Drums und der Perkussion von Carey äußerst beeindruckend – im Gegensatz zu „Chocolate Chip Trip“: Der Track hat es wohl nur auf die Platte geschafft, damit Carey zeigen kann, was für ein Ausnahmeschlagzeuger er ist. Der Song bricht mit dem Flow der Platte, hat aber abgesehen von den Drum-Parts nur wenig zu bieten. Dass „Fear Inoculum“ im Gegensatz zur gleichnamigen Single-Auskopplung dann doch vollends überzeugt, liegt in meinen Augen mehr daran, wie die Band ihre Stärken innerhalb dieser sehr lang gezogenen Kompositionen (fast jeder Track sprengt die 10-Minuten-Grenze) auslotet. Und da punktet „Pneuma“ durchaus: Maynard James Keenan singt wie ein Schamane, das Schlagzeug steigert sich in ein komplexes, jedoch intuitives Drum-Muster, der Song baut sich langsam auf, jeder Part wirkt zwingend, da wo ein Track wie „Descending“ mir manchmal zu ausufernd daherkommt. Neben „Pneuma“ hat mich vor allem noch „Culling Voices“, das auf einer sehr perkussiven Platte erst mal fünf Minuten ohne Drums auskommt, gepackt.
T.H.: Würde ich deine Ansichten weniger schätzen, zöge deine Aussage bezüglich „Chocolate Chip Trip“ wohl ausschließlich Verachtung nach sich. Für mich war das Lied die Überraschungsnummer der Platte, und klar, Carey zeigt hier vor allem, dass er Drummer wie John Bonham maximal als Snack zwischen zwei Mahlzeiten konsumiert. Ich finde übrigens die Theorie, dass das Album so lange auf sich warten ließ, weil Carey sich zwei zusätzliche Arme wachsen lassen musste, nach dem Lied durchaus überzeugend. Aber Scherz beiseite, in der Struktur des Albums ergibt der Track Sinn, es ist das Luftholen vor dem nachfolgenden Sturm und webt den Zuhörer in ein Netz des träumerischen Innehaltens. Gerade auf einer guten Anlage kommt der Mix auch brillant zur Geltung, die einzelnen Schläge kommen aus jeder Richtung des Raumes und man wendet unwillkürlich den Kopf auf der Suche nach dem Ursprung des Geräusches. Und wenn man’s mit Humor nimmt: Carey war beim Einspielen von „Culling Voices“ wohl gerade auf dem Klo und als er zurückkam, wurde der „Chocolate Chip Trip“ zu seiner Rache, weil man ihn zuvor vernachlässigt hat. Wie fandest du „Invincible“?
J.S.: „Invincible“ gehörte mit „Descending“ zu den beiden neuen Liedern, die Tool während seines Auftrittes auf „Rock Werchter“ vorstellte. Für mich resümiert „Invincible“ sowohl die Struktur als auch die eingeschlagene stilistische Richtung der Platte am besten – der Track ist intelligent aufgebaut, Maynards Melodieführung ist betörend, der tiefe Bass fräst sich in die Gehörgänge und die zu Beginn delikaten Gitarren steuern auf einen zwar vorhersehbaren, dennoch sehr wirkungsvollen Ausbruch zu. Dennoch ist mir der Song vielleicht ein klein wenig zu berechenbar. Wenn Maynard „A warrior / struggling / to remain / relevant“ singt, thematisiert er vielleicht auch den Status, den eine Band wie Tool nach 13 Jahren Abwesenheit verteidigen muss. Auf jeden Fall ist „Invincible“, wie auch der Rest der Platte, äußerst konsequent – das Album verlangt eine maximale Aufmerksamkeitsspanne, hier ist nichts, was man einfach mal im Hintergrund hören könnte. Und eine fast 90-minütige Platte muss man im heutigen Kontext auch mal wagen. Meine anfänglichen Ängste, die Platte würde nicht gut klingen – wie ich nach dem ersten Hören der Single dachte –, waren glücklicherweise auch unbegründet.
T.H.: Die „Szene“, in der Tool sich bewegt, hat in den letzten 13 Jahren ja durchaus einiges an Wandlungen erfahren und meine Befürchtung nach der Single war primär, dass die Gruppe immer noch klingen würde wie 2006. Das hat sich nicht bewahrheitet. Die Vorhersehbarkeit ist für mich indes kein Manko – die Band überrascht viel eher im Großen als im Kleinen und sie schafft meiner Ansicht nach in allen Songs den Spagat zwischen technisch-verkopftem Anspruch und melodiöser Eingängigkeit. Tool war für mich immer eine musikalische Verdichtung der kulturellen Einflüsse, die in den letzten 60 Jahren das heutige Amerika entstehen ließen und in ihrem Nihilismus gleichsam eine Demaskierung der Simulation, die eine heile Welt verkaufen will, quasi das Gegenstück zu Disney. Tool labt sich an den offenen Wunden, die unsere westliche Gesellschaft gerne hinter bunten Pflastern versteckt und die Musik fordert einen auf, zuzuhören – wie du sagst, die Aufmerksamkeitsspanne, die das Album braucht, ist heutzutage fast eine Seltenheit geworden.
J.S.: Betrachtet man Maynards andere Projekte, ergibt sich so ein sehr schlüssiges Porträt amerikanischer Kultur. Der kritische Nihilismus von Tool findet so mit Puscifer, das mit seiner lächerlichen Wrestling-Ästhetik und politisch geladenen B-Movie-Clips der amerikanischen Welt ein verzerrtes Spiegelbild hinhält, ein humorvolles Pendant. Die Band Tool weiß sehr wohl um ihren popkulturellen Ausnahmestatus – und lotet dies seit jeher aus. Ich erinnere mich an ein Interview mit Maynard, im Laufe dessen ein eingeschüchterter Visions-Journalist dem Sänger die steigenden Preise für eine Tool-Show vorwarf. Maynard meinte, weil der Metalfan 50 Euro für ein Korn-Konzert dahinblättern würde und man objektiv behaupten könnte, Tool wäre 100 Mal relevanter als Korn, müsste man die Preise für ein Tool-Konzert eigentlich noch viel stärker erhöhen. Als der Tool-Backkatalog vor kurzem online gestellt wurde, befand sich plötzlich jedes Tool-Album in den iTunes-Top-Ten, dem Song „Sober“ gelang es fast, Ariana Grandes „Boyfriend“ vom Pop-Thron zu werfen. Dass die dunklen, nihilistischen Tracks, die mit ungewöhnlichen Rhythmen und für heutige Verhältnisse unbequemer Spielzeit daherkommen, es vermögen, die Menschheit so sehr zu bewegen, dass sogar jemand seinen Job für einen Leak riskiert, ist irgendwie beruhigend.
In einem Interview meinte Paul Wolinski von 65daysofstatic, das digitale Zeitalter würde der Musik so viele neue Möglichkeiten geben – und trotzdem würde die Industrie immer noch drei- bis vierminütige Tracks ermutigen und so die musikalische Entwicklung eindämpfen. Dass die digitale Version der neuen Tool-Platte mit 87 Minuten das bespielbare Limit einer klassischen CD (80 Minuten) sprengt, ist da schon rein symbolisch eine kleine Revolution.
T.H.: Bemerkenswert finde ich immer noch, dass Tool ein Massenphänomen geblieben ist: Menschen, die ansonsten höchst repetitiven Metal-Mischmasch hören, können sich plötzlich für Polyrhythmik begeistern und stellenweise auf eine Doublebass verzichten. Was für ein Schock muss für einige Ersthörer der Autotune-Einsatz in „Descending“ gewesen sein, ich hätte die Gesichter gerne gesehen. Tool bleibt mit dem neuen Album der lebende Beweis, dass eine andere musikalische Landschaft möglich ist, ohne sich in die E-Musik flüchten zu müssen. Die Band hält die Flagge gegen den musikalischen Einheitsbrei hoch. Klischee hin oder her, für mich ist „Fear Inoculum“ jetzt schon das Album des Jahres.
Die Diskografie im Überblick
Vor 29 Jahren gründeten vier Musiker in Los Angeles eine Band. Was in L.A. eigentlich nicht mal ein Schulterzucken hervorruft, ließ die Leute, die ein Ohr am Boden der Musikwelt haben, jedoch schon ein Jahr später aufhorchen.
Die EP 72826, heute in der Diskografie fast als Apokryphe behandelt, zeigte schon die Grundzüge des charakteristischen Sounds, der Maynard Keenan, Adam Jones, Danny Carey und Justin Chancellor (der früh Paul d’Amour ersetzte) ins Pantheon der progressiven Musik befördern sollte.
Bereits im November 1991 nahm Lou Maglia von Zoo Entertainment die Band unter Vertrag – es sollte der größte Wurf des Labels werden, das 1996 von Volcano Entertainment geschluckt wurde. In die Zeit bei Zoo fällt der Aufstieg der Band, die noch stark metallastige EP Opiate war ganz klar darauf ausgerichtet, die Truppe als härtere Alternative zum populären Grunge zu vermarkten.
Erst mit dem ersten Album Undertow (1993) rissen die meisten Ketten und Tool fand den Weg zum eigenen Sound, der noch einige Spuren nihilistischer und düsterer geriet als der zeitgenössische Seattle-Sound. Mit „Prison Sex“ findet sich auf der Platte auch schon einer der größten Klassiker.
Ænima erschien 1996. Das Kofferwort aus dem lateinischen „Anima“ (Seele) und dem englischen „Enema“ (Einlauf) garantierte schockierte Reaktionen von Eltern und Presse und festigte den Ruf der Band als progressive Punkmutanten mit intellektuellem Anspruch und technischer Brillanz. Die Single-Auskopplung „Stinkfist“ wurde landesweit in den USA zensiert, sogar der Titel fiel den Sittenwächtern zum Opfer – bei MTV lief das Video unter der Bezeichnung Track #1.
Das Live-Album Salival von 2000 setzte den aufkeimenden Gerüchten um eine Auflösung der Band ein prononciertes Ende. Es erschien als limitiertes Boxset, enthielt neben vielen Live-Aufnahmen ebenfalls alle bis dato erschienenen Musikvideos, den neuen Track „Merkaba“, Cover-Versionen von Led Zeppelin und Peach und nicht zuletzt eine alternative, unumstritten bessere Version von „Pushit“.
Der Nachfolger Lateralus erschien erst am 15. Mai 2001, verzögert durch einen Rechtsstreit mit dem Label – und war das erste Album der Band, das die Billboard Top 100 anführte. Die DVD-Single „Schism“ brachte Tool auch den ersten Grammy. Auf „Lateralus“ tritt die Ästhetik des Mathematischen stärker in den Vordergrund, der Titeltrack nutzt beispielsweise die Fibonacci-Folge als kompositorische Grundlage.
Noch mal fünf Jahre später brachte das Quartett schließlich 10.000 Days auf den Markt, das den bislang größten kommerziellen Erfolg hatte und von den Kritikern die schwächste Bewertung erhielt – zu sehr sei Tool inzwischen im eigenen Universum gefangen. Trotzdem sind auch auf dieser Platte mit „The Pot“ und „Right in Two“ Stücke enthalten, die ohne Zweifel zu dem Besten gehören, was das Jahrzehnt in dem Genre hervorgebracht hat – wenn man bei Tool denn noch von einem Genre sprechen möchte.
Trump als Godzilla und Billy Corgans netter Bruder
Dem allgemeinen Narrativ zufolge unterlag das Voranschreiten der letzten Tool-Platte dem Gutdünken und Zeitplan des viel beschäftigten Sängers Maynard James Keenan. Wenn Keenan nicht gerade an einer neuen Tool-Platte arbeitet – und das hat er im letzten Jahrzehnt oftmals relativ wenig – oder seine Energie in Weinbau investiert, werkelt er an seinen beiden musikalischen Nebenprojekten, die gemeinhin nur so genannt werden, weil das musikjournalistische Fachjargon ohne solche Hierarchisierungen nicht auszukommen scheint. Denn eigentlich sind A Perfect Circle und Puscifer viel zu geschliffen, interessant und wichtig, um als reine Side-Kicks im Universum von Keenan zu fungieren.
A Perfect Circle wurde vom Gitarristen und Songwriter Billy Howerdel, der wie der nette Bruder von Billy Corgan aussieht, gegründet. Die Band veröffentlichte Anfang der Jahrtausendwende die Platten „Mer de Noms“ (2000) und „13th Step“ (2003) und war keineswegs bloßes Ersatzfutter für hungrige Tool-Jünger. Durch Maynards markanten Gesang erinnert A Perfect Circle zwar deutlich an Tool, die Band verankert sich stilistisch aber viel mehr im progressiven Alternative Rock, ist weniger rifflastig und kommt mit meist kürzeren, eingängigeren Songs auf.
Auf die zweite Scheibe folgten ein Cover- und ein Remix-Album, dann wurde es mit Ausnahme einer Live-Platte und einigen Konzerten ruhig um das Projekt, bis die Band letztes Jahr mit dem ruhigeren, teilweise leicht jazzigen, vielfältigen „Eat the Elephant“ reaktiviert wurde.
Klingt Puscifer auf dem ersten Album „V is for Vagina“ (2007) teilweise wie eine akustisch-elektronische Solo-Platte von Maynard, so hat das dritte Projekt vom Tool-Sänger im Laufe der zwei folgenden Alben „Conditions of my Parole“ (2013) und „Money Shot“ (2015) seine düster-tribalen Klanggerüste mit dichterer Instrumentalisierung vervollständigt.
Charakteristisch für Puscifer sind, neben einer etwas weniger progressiven, minimalistischeren Ausrichtung der Songs, das Verzahnen von Maynards unverkennbarer Stimme mit dem Gesang von Carina Round und eine gewollt lächerliche Ästhetik: Maynard gibt sich sowohl auf dem Cover-Artwork der Platten wie auch während der Konzerte seinem Penchant für dämliche Verkleidungen hin, mal sieht man ihn als koksenden Puffbesucher mit blonder Mähne, mal als aggressiven Sergeant.
Im Videoclip zu „The Arsonist“ vermischt sich der bizarre Humor mit politischem Engagement – der Clip zeigt, wie eine zum Godzilla mutierte Version von Präsident Trump Ziegelsteine kotzt, um drei Mexikaner zuzumauern, bevor das Monster von Wrestling-Kämpfer(innen) und Superheldinnen vermöbelt wird.
Mit drei Platten in neun Jahren ist Puscifer bei weitem das produktivste aller Maynard-Projekte. Beide Bands konnte man in den letzten Jahren in der Rockhal live erleben. Während des Puscifer-Konzertes stand ein riesiger Boxring auf der Bühne, die Musik wurde von schrägen Clips unterbrochen. Beim A-Perfect-Circle-Konzert ging es szenografisch ernster zu, inmitten der schönen Bühne sang Keenan erst mal aus der Dunkelheit des Bühnenhintergrundes, um den Blitzern der Fotografen zu entkommen.
Bei beiden Konzerten waren Handyfotos streng verboten, Wachmänner sorgten dafür, dass das Verbot eingehalten wurde und löschten gebenenfalls auch die Amateur-Snapshots der Konzert-Smombies. So konnte man sich auch weitestgehend ungestört in den Sog der Musik ziehen lassen.
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