Demokratie / Warum Demonstrationen gegen rechts wichtig sind
In Groß- oder Kleinstädten und mit Teilnehmern unterschiedlicher politischer Couleur: In Deutschland haben in den vergangenen Wochen landesweit Menschen gegen die AfD und den Rechtsextremismus und für Demokratie demonstriert. Eine Protestwelle ist ins Rollen gekommen, die längst nötig war.
Selbst die Kälte konnte ihnen nichts anhaben. Mehr als 3.000 Menschen, so die offizielle Zahl der Polizei, die ihre Angaben traditionell defensiv rechnet, waren auf den Leopoldplatz ins Zentrum von Pforzheim gekommen, um gegen die AfD und die rechtsextreme Gefahr zu demonstrieren. Das war weitaus mehr, als die Organisatoren erwartet hatten. Schließlich fand etwa gleichzeitig eine Protestkundgebung gegen rechts im nahen Karlsruhe statt.
So viele Leute seien schon lange nicht mehr in Pforzheim zusammengekommen, sagte Katja Mast, SPD-Abgeordnete aus dem zwischen Karlsruhe und Stuttgart gelegenen Enzkreis, zufrieden. Ein breites Bündnis um die „Initiative gegen rechts“ hatte zu der Demonstration aufgerufen. So waren auf der Rednerbühne neben SPD, Bündnisgrünen und Linken sowie Taoufek Mourad vom Jugendmigrationsdienst und Fatih Aygün vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) unter anderem Stadträtinnen der FDP und der CDU vertreten. „Ich will meine Heimatstadt nicht der AfD, den Rechtsextremen und Rassisten überlassen“, sagte Helmut Kuntschner (die Linke). „Pforzheim darf nicht braun werden. Pforzheim muss bunt bleiben.“ Der Redner, auch als Gitarrist der Pforzheimer Punkband The Lennons bekannt, weiß zu gut, dass die baden-württembergische Industriestadt nicht nur einen hohen Anteil an Migranten hat (30 Prozent; 60 Prozent der Einwohner haben einen Migrationshintergrund), sondern auch viele AfD-Sympathisanten. Nach einer Umfrage im September des vergangenen Jahres kam die Partei auf 23 Prozent der Wählerstimmen.
„Remigrations“-Fantasien mit Schockwirkung
Mittlerweile haben seit Mitte Januar in Deutschland bei etwa 400 Protestveranstaltungen mehr als 1,6 Millionen Menschen demonstriert. Auslöser war das Bekanntwerden eines konspirativen Treffens radikaler Rechter in einem Potsdamer Hotel im November, an dem neben AfD-Politikern auch Mitglieder der konservativen Werteunion, die zur CDU gehört, und andere Angehörige der rechtsextremen Szene wie etwa Martin Sellner, bis 2023 Sprecher der „Identitären Bewegung“ in Österreich, teilnahmen. Dabei ging es nicht zuletzt darum, dass Menschen ausländischer Herkunft das Land verlassen sollen. Die Enthüllungen der Rechercheplattform Correctiv besagen, dass drei Gruppen von der Deportation betroffen wären: Asylbewerber, Ausländer mit Bleiberecht und „nicht assimilierte Staatsbürger“.
Die menschenverachtenden „Remigrations“-Fantasien der Rechten schockieren, sind aber nicht neu. Trotzdem scheinen die Enthüllungen vielen Menschen die Gefahr erst richtig bewusst gemacht zu haben. Sie löste etwas aus bei einer bisher „schweigenden Mehrheit“, von der übrigens auf einem Plakat bei der Pforzheimer Demo zu lesen war. Von einem „Aufstand der Mitte“ sprach die Tagesschau, vom „Aufstand der Demokraten“ und der „Wehrhaften“ schreibt das Wochenmagazin Der Spiegel. Ein Knoten scheint geplatzt zu sein.
Oder ist es die Angst vor der AfD, die seit Monaten in Umfragen bei 20 Prozent oder mehr liegt, obwohl bereits drei ihrer Landesverbände als gesichert rechtsextrem eingestuft werden? Dieses Jahr finden in Deutschland nicht nur in mehreren Bundesländern Kommunalwahlen statt, sondern auch Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen – in allen drei Bundesländern liegt die AfD vorn. Ist es also die Angst vor einer Wiederkehr der braunen deutschen Vergangenheit, die viele Menschen dazu bringt, auf die Straße zu gehen? Ganz nach dem Motto „Runter vom Sofa gegen rechts“.
„Nazis sind ekelhAfD“
Der Spiegel wirft die Fragen auf, wie lange das aktuelle Bündnis „Hand in Hand“ gegen rechts hält, ob daraus eine echte Bewegung wird und ob sie den Aufstieg der extremen Rechten stoppen kann. Oder bleibt es bei einem Strohfeuer? „Oder kann aus dieser spontanen Bewegung trotzdem eine neue Kraft entstehen, etwas von Dauer?“, fragt das Magazin. Jedenfalls könnten die Teilnehmer der Demos nicht unterschiedlicher sein. Einige haben schon an unzähligen Demos teilgenommen, andere zum ersten Mal. Das zeigt sich nicht nur anhand der Parteien, sondern auch an Initiativen wie „Omas gegen rechts“ (wie etwa in Pforzheim) oder „Köln stellt sich quer“ bis hin zu „Dorfliebe für alle“ im Saale-Orla-Kreis. Nicht zuletzt blüht der Sponti-Humor der 70er Jahre wieder auf, wenn auf Plakaten zu lesen ist: „Nazis abschieben“ (mit Baustellenschild), „Kein Bier für Nazis“ oder „Nazis sind ekelhAfD“.
Den Autor dieser Zeilen, übrigens gebürtiger Pforzheimer, erinnern die Demos an die Lichterketten zu Beginn der 90er Jahre. Zu den bundesweiten Kundgebungen war es nach dem Brandanschlag von Neonazis in der schleswig-holsteinischen Kleinstadt Mölln am 23. November 1992 gekommen, bei dem drei Menschen, zwei türkische Kinder und deren Großmutter, ums Leben kamen. Danach fand die erste Großdemonstration gegen rechtsextreme Tendenzen in Politik und Gesellschaft am 6. Dezember 1992 in München statt. Vier engagierte Bürger um den Journalisten Giovanni di Lorenzo, heute Chefredakteur der Wochenzeitung Die Zeit, hatten die riesige Lichterkette organisiert, an der sich 400.000 Menschen beteiligten. Weitere Veranstaltungen dieser Art folgten in anderen Städten. Die Großdemos waren nicht nur eine Reaktion auf den Dreifachmord von Mölln, sondern auf eine ganze Reihe von fremdenfeindlichen Gewalttaten im wiedervereinigten Deutschland.
Daraufhin kam die Kritik auf, die Demos würden nichts bewirken. Die Proteste haben jedoch gezeigt, dass die deutsche Zivilgesellschaft die Anschläge nicht einfach hinnahm, sondern sich zur Wehr setzte. Manche Kritiker sagten, es sei bequem und opportunistisch, sich einer Großdemo wie im Dezember 1992 anzuschließen, ohne im Alltag etwas gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zu unternehmen. Doch die große Teilnehmerzahl damals wie heute zeigte nicht zuletzt: „Uns gehört die Straße“, so eine Teilnehmerin – und mit „uns“ sind all jene gemeint, denen die Demokratie mehr ist als der pflichtgetreue Gang zur Wahlurne, und denen der Erhalt einer liberalen, offenen Gesellschaft am Herzen liegt.
Rechte Gefahr ließ nicht nach
Die rechte Gefahr ließ in den Jahren nach 1992 nicht nach: Im Mai 1993 fand der rassistisch motivierte Brandanschlag im nordrhein-westfälischen Solingen statt, bei dem fünf Menschen starben; in den ostdeutschen Bundesländern wird heute über die Nachwendezeit bis in die Nullerjahre von den „Baseballschlägerjahren“ gesprochen, in denen sich Hass, Gewalt und Rassismus breit machten und Neonazis Jagd unter anderem auf Ausländer, Linke und Obdachlose machten – und in manchen Gegenden Angst und Schrecken verbreiteten. Die Rechtsradikalen hatten zu jener Zeit die Straße erobert – und die Köpfe von vielen Jugendlichen, nicht nur im Osten der Bundesrepublik. Drei rechte Gewalttäter tauchten ab und verübten als terroristische Vereinigung unter dem Namen „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) eine Reihe von Morden, Mordversuchen und Brandanschlägen vorwiegend an Immigranten. Die NSU flog erst im November 2011 auf.
Unterdessen waren in vielen Ländern Europas rechtspopulistische Bewegungen und Parteien erstarkt. Fremden- und islamfeindliche Organisationen wie die „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (Pegida) wurden gegründet und gingen demonstrierend auf die Straße. Nach der „Flüchtlingswelle“ 2015 und einer anfänglichen „Willkommenskultur“ brannten in Deutschland Asylbewerberunterkünfte. Bewegungen wie die Identitären und die Reichsbürger hatten schon vorher an Zulauf gewonnen. Parteien wie die deutsche AfD oder die spanische Vox wurden gegründet. Die Rechtspopulisten und -extremisten beanspruchten mehr und mehr die Hegemonie auf der Straße und eigneten sich – insbesondere die Identitäre Bewegung – mehr und mehr Protestformen an, die einst von Linken genutzt wurden. In den ostdeutschen Bundesländern gingen die meisten Demos seither von Rechtsextremen aus. Diese traten zu Beginn des Jahrzehnts zudem bei Impfgegner- und Coronaleugner-Demos auf. Sie haben sich mittlerweile in vielen Ländern auf den Marsch durch die demokratischen Institutionen begeben, und sind im Gewand der zumindest in Teilen rechtsextremen AfD in die Parlamente vorgedrungen.
Derweil sich antirassistische Initiativen wie „Unteilbar – Für eine offene und freie Gesellschaft – Solidarität statt Ausgrenzung“, 2018 gegründet, 2022 wegen fehlender Dynamik wieder aufgelöst haben. Unterdessen setzte die AfD in Umfragen und Wahlen ihren Vormarsch fort. „Die AfD ist der deutsche Ernstfall“, schreibt der Journalist und AfD-Experte Justus Bender in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und fügt hinzu: „Trotzdem herrscht eine gespenstische Ruhe im Land. Es gibt keine Großdemonstration, keine Vorkehrungen, keine ernst zu nehmende Verbotsdebatte.“ Mit der Ruhe dürfte nun Schluss sein. „Diese Protestwelle zeigt, dass die Mehrheit der Gesellschaft nicht mit Vertreibungsfantasien von Rechtsradikalen einverstanden ist“, schrieb unlängst das Tageblatt. Die Zivilgesellschaft hat die Straße zurückerobert. Es sollen noch mehr Demos folgen. „Da geht noch mehr“, titelte die taz am Wochenende.
„Hand in Hand“ gegen „braunen Alltag“
Dass die Proteste nicht nur in den Metropolen stattfinden, sondern auch in mittleren und kleinen Städten, ist ein gutes Zeichen. Denn gerade auf dem Land hat sich ein rechter Mainstream ausgebreitet und haben Neonazis „soziale Netzwerke aufgebaut, die alle Bereiche des Lebens umfassen“, schreibt der Historiker, Politologe und Neonazismus-Experte Friedrich Burschel in dem Buch „Brauner Alltag in der deutschen Provinz“ über regelrecht „verlorene Landstriche“.
Das „Hand-in-Hand“-Bündnis ist eine Wiedergeburt der „Unteilbar“-Initiative. Für den 3. Februar hat es zum Aktionstag aufgerufen – unter dem Hashtag „#WirSindDieBrandmauer“. Nach einer Großdemonstration soll eine „menschliche Brandmauer“ um das Gebäude des deutschen Bundestags in Berlin gebildet werden. Die bereits mehr als 160 Organisationen und Initiativen der Zivilgesellschaft wollen damit Demokratie und Menschenrechte gegen die rechte Ideologie verteidigen.
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