Publizist Fabian Scheidler / Warum die Natur kein Lego-Bausatz ist, den man beliebig wieder zusammenstellen kann
Bei Fabian Scheidler geht es um die Zukunft unseres Zusammenlebens. Denkmuster infrage zu stellen, treibt den Publizisten an. 2009 gibt er mitten in der Finanzkrise eine Fake-Ausgabe der deutschen Wochenzeitung „Die Zeit“ heraus, mit positiven Aussagen zur Zukunft. Dafür gibt es den Otto-Brenner-Medienpreis für kritischen Journalismus. Um die Zukunft geht es auch in seinem neuen Buch „Der Stoff, aus dem wir sind“. Der Titel klingt unauffällig, der Inhalt liefert Sprengstoff.
Tageblatt: In Ihrem Buch stellen Sie das gängige Weltbild infrage und fordern einen Systemwechsel. Das stellt vieles auf den Kopf, oder?
Fabian Scheidler: Wir haben das größte Artensterben seit 65 Millionen Jahren, wir haben die Klimakrise, die gesellschaftlichen Ungleichheiten zwischen Arm und Reich nehmen jeden Tag zu. Es ist eine Zivilisationskrise. Deshalb brauchen wir einen systemischen Wandel.
Sie haben ein falsches Verständnis von Natur als Ursache dafür identifiziert, dass bis Ende des Jahrhunderts weite Teile des Planeten unbewohnbar werden könnten. Was ist denn so falsch?
Das kapitalistische Wirtschaftssystem beruht darauf, Natur in einem immer schnelleren Rhythmus in Waren zu verwandeln. Ob Erdöl, das man aus der Erde reißt und verbrennt, oder Lebewesen, die man genetisch manipuliert und patentiert: Man glaubt, die Natur wie ein Objekt behandeln zu können, das sich beliebig zerlegen und neu zusammenbauen lässt. Aber die Natur ist kein Lego-Bausatz. Sie funktioniert in Kreisläufen, die in der gängigen Betrachtung völlig außen vor bleiben.
Und der Mensch? Sie schreiben, der Mensch ist bis heute eine Ware …
Nicht umsonst erreichte die Sklaverei mit dem Frühkapitalismus ihren Höhepunkt. Heute haben wir Leiharbeiter, die man ausleihen kann wie ein Fahrrad.
Eine weitere wichtige Ursache für den Klimawandel ist unser Wirtschaftssystem. Wie hängt in dieser Logik beides zusammen?
Wir haben bis jetzt 27 Klimakonferenzen gehabt. Sie hatten auf den CO2-Ausstoß kaum Einfluss, er ist immer weiter gestiegen. Das Einzige, was einen nennenswerten Einfluss hatte, waren die Finanzkrise und die Covid- Pandemie. Da ist der Ausstoß unfreiwillig geschrumpft. Wir können versuchen, durch Elektrifizierung und erneuerbare Energien den Ausstoß nach unten zu bekommen. Wenn wir aber gleichzeitig immer mehr Produkte herstellen, wird es sehr schwierig, rechtzeitig aus den fossilen Energien auszusteigen. Das gelingt nur, wenn man auch aus dem Wachstum aussteigt.
Woher kommt der Zeitdruck?
Das Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung hat 16 Kipppunkte im Klimasystem identifiziert. Wenn sie überschritten werden, gibt es kein Zurück mehr. Dann beschleunigt sich der Anstieg des Meeresspiegels, dann beschleunigt sich die Erderwärmung.
Sie entzaubern die modernen Naturwissenschaften, den Glauben an Kontrolle durch Zahlen, Messungen und Berechnungen. Warum?
Die Naturwissenschaften haben sowohl menschlichen Fortschritt ermöglicht als auch extrem zerstörerische Technologien, von der Atombombe bis zu fossilen Energien. Heute ist es an der Zeit, uns von der Idee zu verabschieden, dass wir die Natur beherrschen können.
Bei einem Meeresanstieg von 50 Zentimeter bis einem Meter wäre eine Stadt wie New York nicht mehr zu retten. Da wird der Klimawandel real. Sie sagen, wir brauchen einen Aufstand gegen den Kollaps. Wie sieht der aus?
Das machen ja gerade einige Aktivisten vor – viel gescholten und sehr kontrovers diskutiert. Das ist der verzweifelte Versuch, einen Weckruf an die Gesellschaft zu schicken. Dieses Jahrzehnt ist das entscheidende, um Hebel umzulegen. Ein ernsthafter „Green New Deal“ kostet 4,5 Billionen Dollar jedes Jahr, das sind ungefähr 5 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung weltweit, um das Wirtschafts- und Landwirtschaftssystem umzustellen.
Also Verteilung von Reichtum vor Wachstum?
Ja, genau. Wir brauchen ein Wachstum der erneuerbaren Energien, der ökologischen Landwirtschaft, der Bildung und Kultur verbunden mit einem Schrumpfen destruktiver Branchen wie Flugverkehr, Automobilbranche und Militär.
Der EU-Kommissar für Klimaschutz Frans Timmermans hat prophezeit, dass in 15 Jahren die EU-Landwirtschaft zusammenbricht, wenn nichts unternommen wird. Viele Bauern zögern, auf Biolandwirtschaft umzustellen …
Das hat etwas mit den Anreizen zu tun. Wir haben ein Subventionssystem, das sehr stark große Flächen und intensive Landwirtschaft fördert. Der Weltagrarbericht sagt, Kleinbauern sind Teil der Lösung. Der halbe Regenwald wird abgeholzt, damit wir hier Tierfutter haben. Das ist keine rein lateinamerikanische Angelegenheit, sondern hat etwas mit unserer Esskultur zu tun.
Sie favorisieren andere Bilanzen für Unternehmen. Eine am Gemeinwohl orientierte statt der rein finanztechnischen. Wie soll sie aussehen?
Eine am Gemeinwohl orientierte Bilanz für Unternehmen zeigt vom Rohstoff bis zur Verschrottung den Einfluss auf die Öko- und Sozialsysteme. Wenn sie bei einem Unternehmen gut ist, dann zahlt es weniger Steuern, bekommt günstige Kredite und wird bei der Vergabe von Aufträgen bevorzugt. Eine schlechte Gemeinwohlbilanz bedeutet hohe Steuern, teure Kredite und keine öffentlichen Aufträge. Der Internationale Währungsfonds belegt, dass aktuell die fossilen Energien mit über 5.000 Milliarden Dollar jährlich subventioniert werden. Eine Gemeinwohlwirtschaft würde dieses absurde Subventionssystem vom Kopf auf die Füße stellen.
Alle schielen auf das Bruttoninlandsprodukt, dabei blendet es zu viel aus, sagen Sie. Wie meinen Sie das?
Wir sind süchtig nach einem Wachstum des Bruttoinlandsproduktes. Eine Aktiengesellschaft hat qua ihres Zwecks keinen anderen Sinn, als das Geld der Aktionäre immer weiterzuvermehren. Auch Regierungen sind süchtig nach Wachstum. Mit Wachstum kann man alle ein bisschen zufriedenstellen, dann muss man sich nicht mit mächtigen Interessengruppen anlegen. Wachstum beschert Staaten Steuern. Nun weiß man aber aus der Glücksforschung, dass immer noch mehr Geld den Einzelnen nicht glücklich macht.
Glücksforschung?
Sie ist kein Hokuspokus, sondern etabliert. Sie sagt: Wenn alle Grundbedürfnisse mit dem Einkommen gestillt werden können, dann nimmt die Zufriedenheit mit noch mehr Geld nicht zu. Das heißt, wir zerstören den Planeten für etwas, das uns ab einem gewissen Punkt gar nicht glücklich macht.
Gibt es Hoffnung auf eine enkeltaugliche Welt?
Die Welt wird irgendwann ein neues Gleichgewicht finden. Dafür wird die Natur sorgen, weil sie am längeren Hebel sitzt. Aber sie wird radikal anders aussehen, wenn wir es nicht schaffen, die Kipppunkte zu vermeiden. Das kann nur gelingen, wenn wir die Illusion aufgeben, man könnte auf einem begrenzten Planeten immer weiterwachsen.
The Green New Deal
Der „Green New Deal“ ist eine Bezeichnung für Konzepte, die den ökologischen Umbau eines Wirtschaftssystems einleiten sollen, um gesellschaftliche Herausforderungen (insbesondere den Klimawandel) zu bewältigen. Der „Green New Deal“ für Europa wurde im Dezember 2019 vorgestellt und sieht ein klimaneutrales Europa bis 2050 vor.
Über den Autor
Fabian Scheidler (54) hat Philosophie, Geschichte und Theaterregie studiert. Er lebt als Journalist und Publizist in Berlin und hat lange Jahre ehrenamtlich für die Umweltorganisation „Attac“ gearbeitet. Auf Einladung des „Mouvement écologique“ hat er gerade sein neues Buch „Der Stoff, aus dem wir sind“ präsentiert. Das Buch ist 2021 im Piper-Verlag erschienen (304 Seiten, EAN 978-3-492-07060-7). Weiteres zum Autor gibt es unter www.fabian-scheidler.de.
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