Gendermedizin / Warum Männer und Frauen unterschiedliche medizinische Versorgung brauchen
Gleiche Behandlung für alle? In der Medizin führt das zu mehr Ungerechtigkeit zwischen den Geschlechtern, sagt Vera Regitz-Zagrosek, Expertin für Gendermedizin. Ein Gespräch darüber, warum Herzinfarkte bei Frauen oft später erkannt werden, die gleichen Medikamente unterschiedlich wirken – und was das mit männlichen Mäusen zu tun hat.
Tageblatt: Auf welchen Ebenen bestehen Geschlechterungleichheiten in der Medizin?
Vera Regitz-Zagrosek: Wir haben Unterschiede in der Wahrnehmung des einzelnen Menschen, zum Beispiel wie Männer und Frauen einen Herzinfarkt erleben. Auch wie häufig Männer und Frauen einen Herzinfarkt bekommen und wie häufig sie daran sterben. Im Zentrum der Medizin steht der Patient oder die Patientin. Wir müssen uns besser und spezifischer an Männer und die Frauen wenden, damit wir mit möglichst wenigen Untersuchungen ans Ziel kommen und sie besser und gezielter behandeln können.
Wie genau sehen diese Unterschiede aus?
Der Herzinfarkt ist ein klassisches Beispiel. Männer erleiden Herzinfarkte in der Regel acht Jahre früher als Frauen. Es fragt sich übrigens auch niemand, warum das so ist oder warum das so sein muss. Es gibt also dieses traditionelle Bild von Männern, die mit 60 ihren Herzinfarkt hatten, und dieses Bild hat unsere Lehrbücher geprägt. Jetzt werden die Menschen älter und wollen auch 80 werden und da sehen wir plötzlich, dass auch Frauen viele Herzinfarkte haben – nur oft zehn Jahre später. Und wir sehen, dass es vor allem bei jüngeren Frauen zum Teil andere Mechanismen gibt als bei den Männern. Das ist eine Lücke, die wir schließen müssen. Für diese Frauen haben wir keine wirklich adäquaten Behandlungen.
Sterben Frauen deshalb eher an einem Herzinfarkt, weil er nicht rechtzeitig erkannt wird?
Zum Teil schon. Die Infarkte bei Frauen werden später erkannt, aber auch weil die Mechanismen möglicherweise anders sind als bei den Männern. Und weil die ganzen Strategien, die wir entwickelt haben, auf die Herzinfarkte der Männer abzielen.
Welche Mechanismen sind das?
Körperliche Prozesse, die einen Herzinfarkt auslösen. Dass sich zum Beispiel Fette und Kalk in den Herzkranzgefäßen ablagern und diese verstopfen. Da haben wir relativ gute Strategien, wenn wir diese frühzeitig einsetzen. Bei Frauen passiert das später. Da haben wir vor allem bei den jüngeren Frauen häufig Verkrampfungen, wir haben Einrisse in den Kranzgefäßen, wir haben das Problem, dass die sich nicht richtig erweitern. Das alles können wir viel schlechter medikamentös behandeln.
Die männliche Maus ist das Maß aller DingeExpertin für Gendermedizin
Das gleiche Medikament kann bei Männern und Frauen ganz unterschiedlich wirken. Woran liegt das?
Weibliche und männliche Zellen und Organe, in denen die Arzneimittel angreifen, unterscheiden sich zum Teil erheblich, wegen unserer Gene und Hormone. Unsere ganze Arzneimittelentwicklung war immer auf die Männer fokussiert. In die großen klinischen Studien wurden früher überwiegend Männer eingeschlossen. Auch unsere Tierversuche an Mäusen finden überwiegend an jungen männlichen Mäusen statt. Die männliche Maus ist das Maß aller Dinge. Die Forscher haben relativ früh festgestellt, dass auch weibliche Mäuse einen Zyklus haben. Es gibt hier eine geistige Unlogik, die muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: Die Forscher wissen ziemlich genau, dass der weibliche Zyklus die Medikamentenwirkung beeinflussen kann. Also klammern sie den Zyklus aus der Arzneimittelentwicklung möglichst aus, indem sie nur männliche Mäuse nehmen. In den Anfangsphasen der klinischen Studien haben wir auch fast nur Männer. Aber dann werden die Medikamente auch an Frauen verabreicht und man macht sich keine Gedanken darüber, ob das vielleicht gar nicht auf die Frauen passt.
Gender Health Gap in Luxemburg: Ernüchternde Ergebnisse
Um zu untersuchen, welche geschlechtsspezifischen Unterschiede im luxemburgischen Gesundheitswesen bestehen, hat das Ministerium für Gleichstellung (MEGA) zusammen mit dem Luxembourg Institute of Health (LIH) die Studie „Gender Inequalities in Health“ (GHealth) initiiert. Als Grundlage dienen die Daten der Europäischen Gesundheitsbefragung (EHIS), bei denen es sich jedoch um Selbsteinschätzungen der Befragten handelt – nicht um medizinische Daten. Für das Großherzogtum sind die ersten vorläufigen Ergebnisse ernüchternd. Die Forscher des LHI stellen fest, dass sich der Gender Gap in Luxemburg – anders als zum Beispiel im Nachbarland Deutschland – in der Periode zwischen den beiden letzten Befragungen nicht geschlossen hat, sondern stagniert. Zurückgegangen seien die Geschlechterunterschiede lediglich beim Zugang zur Gesundheitsversorgung. Das jedoch nicht, weil sich die Wartezeit von Frauen auf einen Termin oder eine Behandlung verkürzt habe – sondern weil sich die Situation der Männer auf das Niveau der Frauen verschlechtert habe.
Sie führen auch ökonomische Argumente ins Feld, wenn es darum geht, die medizinische Versorgung von Frauen zu verbessern. Weniger Kranke kosten das Gesundheitssystem weniger Geld. Funktionieren solche Argumente auch gegenüber der Pharmaindustrie? Für die bedeuten spezifische Medikamente mehr Arbeit und damit mehr Kosten.
Jede Pharmafirma optimiert sich erst mal selbst. Sie verkaufen ihr Medikament jetzt schon an beide Geschlechter. Das Problem ist eher volkswirtschaftlich. Die einzelne Pharmafirma optimiert ihr Medikament. Wenn aber dieses Medikament zu viele Nebenwirkungen erzeugt oder bei Frauen nicht gut wirkt, dann ist das ein Schaden, der das ganze Volk betrifft, also die gesamte Gesundheitsökonomie. Es gibt in den USA die Bestrebung, Förderprogramme aufzulegen, damit Start-ups anfangen, medizinische Entwicklungen für Frauen voranzutreiben. Also dass man zum Beispiel den Zyklus stärker berücksichtigt, die Menopause, die Menarche (Anm. d. Red.: die erste Menstruation), aber auch Gesundheitsprobleme rund um die Schwangerschaft und frauenspezifische Verläufe wie bei Herzinfarkt. Endometriose zum Beispiel ist ein häufiges Gesundheitsproblem bei Frauen, dafür gibt es aber überhaupt keine medikamentösen Ansätze.
Staatliche Akteure sollten also mit solchen Programmen auf die Industrie einwirken?
Genau. Es geht darum, der Industrie Anreize zu setzen. Häufig werden bestimmte Sachen gar nicht entwickelt. Mehr und mehr Länder sehen, dass es auch Geld kostet, wenn man alle Menschen, die offensichtlich nicht gleich sind, gleich behandelt. Eine gleich gute Behandlung von Männern und Frauen verlangt eigentlich, dass ich sehe, dass Männer und Frauen unterschiedlich sind und dass ich diese unterschiedlichen Bedürfnisse verstehe.
Möglicherweise diagnostizieren wir Depressionen bei Männern zu wenig, haben falsche Kriterien
Bei Geschlechterungleichheiten, auch in der Medizin, spielen unterschiedliche Dimensionen von Geschlecht eine Rolle: das biologische Geschlecht, das soziokulturelle Geschlecht und auch noch weitere Diversitätsmarker wie Ethnie oder sexuelle Orientierung. Macht das die Suche nach Lösungen sehr kompliziert?
Als Medizinerin versuche ich pragmatisch zu sein: Wie kann ich tatsächlich Patientinnen und Patienten besser und gezielter helfen? Da muss ich diese unterschiedlichen Formen des Geschlechtes berücksichtigen. Das macht es tatsächlich ziemlich kompliziert. Aber als Medizinerin versuche ich immer, den Patienten oder die Patientin nicht aus dem Fokus zu verlieren.
Ein klassischer Geschlechterunterschied: Auch in Luxemburg ist die Suizidrate unter Männern höher als unter Frauen. Gleichzeitig werden Frauen häufiger mit Depression diagnostiziert.
Viele Kollegen und Kolleginnen aus der Psychologie haben den Verdacht, dass die Männer sich selbst nicht eingestehen, dass sie unter Stress oder Depressionen leiden, und dass sie dann vermehrt körperliche Symptome entwickeln und letztlich kränker werden oder gar einen Suizid begehen. Ärzte wissen, dass man an die psychischen Erkrankungen bei Männern sehr schlecht rankommt. Möglicherweise diagnostizieren wir Depressionen bei Männern zu wenig, haben falsche Kriterien. Ein anderer Fall ist Osteoporose, das gilt vielen als eine typische Frauenerkrankung. Männer wollen die absolut nicht haben, die ist bei ihnen aber gar nicht so selten. Weshalb unbehandelte Männer dann häufig Beckenfrakturen oder ähnliche Brüche haben. Das alte Bild: Frauen sind minderwertig und wenn man Frauenkrankheiten hat, ist man minderwertig als Mann.
Um all das zu verändern, müsste Gendermedizin nicht Teil jeder medizinischen Ausbildung sein?
Wir arbeiten in der Schweiz daran, da haben wir schon fast ein nationales Ausbildungsprogramm fertig. In Deutschland gab es früher nur eine Fakultät, die Gender wirklich im Lehrplan hatte, das war die Charité in Berlin. Mittlerweile gibt es auch noch Bielefeld und Magdeburg, die relativ viel tun. Wir sind schon drei in Deutschland – von 40.
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