Kunstprojekt / „Wee bass du?“
Mit dem Kunstprojekt „Wee bass du?“ will die Fotografin Jessica Theis ein Zeichen setzen: Ein Handicap ist nur eins von vielen Persönlichkeitsmerkmalen. Ein Gespräch mit Eric Heimermann, Projektteilnehmer, und der Fotografin.
„Ich werde bald zum ersten Mal Onkel“, verkündet Eric Heimermann stolz, als er sich dem Tageblatt vorstellt. Der Mitte 30-Jährige sitzt in einem Versammlungsraum der Résidence Nico Kremer, einer Wohneinrichtung für Menschen mit körperlicher Beeinträchtigung. Er lebt seit zwei Jahren hier; arbeitet im Ministerium für Bildung, Kinder und Jugend. Nebenbei ist er Hobbyfotograf. Sein liebstes Motiv: die Natur, denn sie habe eine beruhigende Wirkung auf ihn. „Ich habe eine seltene Krankheit, die meine Muskelkraft einschränkt“, offenbart er unaufgefordert. „Oft bin ich auf einen Rollstuhl angewiesen.“ Auf das Kunstprojekt „Wee bass du?“ der Fotografin Jessica Theis machten ihn seine Verwandten aufmerksam.
Theis rief via Social Media zur Teilnahme auf. Anfangs zögerte Eric, dann suchte er den Kontakt zur Fotografin. „Eric war die erste Person aus der Résidence Nico Kremer, die ich fotografiert habe“, wirft Theis, die an dem Tag neben ihm sitzt, ein. Mittelpunkt ihres Projekts sind der Alltag, die Abneigungen und die Wünsche von Menschen mit Beeinträchtigungen. Hierfür verbindet sie in einem halbstündigen Kurzfilm Schwarz-Weiß-Porträts von 25 Betroffenen mit Audioaufnahmen, die im Zuge der Fotoshootings entstanden sind. Letzteres ist neu für Theis, die sich sonst nur ihres Fotoapparates bedient. „Porträts schienen mir dieses Mal unzureichend“, sagt sie. Ihr war es wichtig, dass die Betroffenen in dem Projekt zu Wort kommen, sich selbst erklären können. Jedes Gespräch begann mit der Frage „Wee bass du?“.
Gemeinsame Nenner
Eine ernst gemeinte Frage, denn Theis kannte die Teilnehmenden vor dem ersten Fototermin nicht. Auswahlkriterien hatte sie nicht festgelegt. Es ist demnach dem Zufall geschuldet, dass in dem Kunstprojekt unterschiedliche Generationen aufeinandertreffen. Der Fotografin fällt auf: Manche Erfahrungen überschneiden sich trotzdem, vor allem im Hinblick auf Diskriminierungen – jene reichen von unangenehmen Blicken bis zu körperlicher Gewalt und Cybermobbing.
Es geht um den Menschen, nicht um die BeeinträchtigungFotografin
Eric bestätigt diesen Eindruck. In der Arbeitswelt fühle er sich als Mensch mit Beeinträchtigung manchmal unwohl. Mit Adapto, dem Transportdienst für Menschen mit eingeschränkter Mobilität, machte er schlechte Erfahrungen. „Einer der Fahrer weigerte sich, mein Gepäck in den Bus zu laden“, erinnert er sich. Als er den Mann auf seine Beeinträchtigung hinwies, zog der über ihn her. Ein schmerzhafter, aber einmaliger Fall, wie Eric betont.
Solche Erfahrungen sind zweifelsfrei Teil der Lebensrealität von Menschen mit einer Beeinträchtigung, sagen aber nichts über ihre Persönlichkeit aus. Das will Theis vorführen, indem sie die Projektteilnehmenden zu allen möglichen Themen befragt. „Es geht um den Menschen, nicht um die Beeinträchtigung“, unterstreicht sie. Zu oft würden diese Personengruppen nur in Bezug auf ihr Handicap gezeigt. Mit diesem Narrativ will Theis brechen, während Eric sich nicht zur Repräsentation von Menschen mit Beeinträchtigung in der Kultur äußern möchte.
Einer der Fahrer von Adapto weigerte sich, mein Gepäck in den Bus zu ladenProjektteilnehmer „Wee bass du?“
Stattdessen spricht Theis über die Gemeinsamkeiten zwischen Menschen mit und ohne Handicap. „Mit Anfang 20 wollen alle ausgehen und Freunde treffen“, gibt sie ein Beispiel. Trotzdem seien Menschen ohne Beeinträchtigung unsicher im Umgang mit Betroffenen. Dies fiel Theis besonders zwischen 2016 und 2019 auf, als sie ein Fotoatelier für Menschen mit Beeinträchtigung gründete sowie leitete. „Manche wussten nicht, wie sie sich den Teilnehmenden gegenüber verhalten sollen“, berichtet sie. „Dabei gibt es immer Gemeinsamkeiten, durch die man ins Gespräch kommt.“ Sie führt Fußballklubs an und weckt damit sofort Erics Interesse. Die beiden schweifen kurz ab und debattieren über Bayern Münchens neuen Trainer.
Barrierefreie Kulturvermittlung
Ein ungezwungener Austausch wie dieser war Theis nicht nur inhaltlich, sondern auch von der Form her wichtig. Bei „Wee bass du?“ verfolgte sie einen dokumentarischen Ansatz: Es kamen weder Studiolicht noch Make-up zum Einsatz; die Orte für das Fotoshooting durften die Teilnehmenden sich selbst aussuchen. „Damit wollte ich den Stressfaktor für alle Beteiligten reduzieren und Hürden beim Transport vermeiden“, erklärt Theis diese Entscheidung.
Auch bei der Kulturvermittlung bemühe sie sich um Barrierefreiheit. Sie schiebt ein Buch über den Tisch, frisch aus der Druckerei. „Ich habe die Bücher heute Morgen abgeholt“, freut sie sich. Es ist der Begleitkatalog zum Projekt, der bald kostenfrei bei Vorführungen des Kurzfilms verteilt werden soll. Das Format ist für Menschen mit Rollstuhl konzipiert – es bleibt offen auf dem Schoß liegen, ohne zuzuklappen. Doch Theis hat noch mehr im Gepäck: Zur Bewerbung des Projekts hat sie Aufkleber hergestellt. Neben Porträts der Teilnehmenden leitet ein QR-Scan auf ihre Website (jess.lu) weiter, wo der Kurzfilm bald zu sehen ist.
Eric erkennt sich auf einem der Aufkleber und greift zu – er will sie auf den Hobbymärkten verteilen, bei denen er Produkte, bedruckt mit seinen Naturfotografien, verkauft. Auf die Frage, warum Theis in Aufkleber investiert, erwähnt die Fotografin das Publikum. „Ich will möglichst viele Menschen erreichen“, sagt sie. „Dafür braucht es unterschiedliche Formate.“
So gibt es auch verschiedene Wege, das Kunstprojekt zu sehen. An diesem Dienstag, 18. Juni, präsentiert Theis es als Fotoausstellung auf der place de Strasbourg in Luxemburg-Stadt. Die Vernissage beginnt um 16 Uhr. Es folgt eine Filmvorführung am Mittwoch, 19. Juni, um 12.30 Uhr, im Auditorium des Cercle Cité – ebenfalls in Luxemburg-Stadt. Der Kurzfilm wird dort im Zuge der Veranstaltungsreihe „Screenings On Inclusion“ gezeigt. Im Anschluss findet eine Diskussionsrunde mit Theis und den einzelnen Teilnehmenden in luxemburgischer Sprache statt. Der Eintritt ist frei, eine Anmeldung nicht nötig. Über weitere Vorführmöglichkeiten würde sich Theis freuen – sie ist offen für Angebote.
Im Laufe des Gesprächs wiederholt sie immer wieder, dass sie mit ihren Kunstprojekten Zeichen setzen und Menschen zum Nachdenken bewegen will. Die Frage drängt sich auf, inwiefern das auch für sie selbst gilt. Was hat „Wee bass du?“ in ihr ausgelöst? Welches Zusammentreffen hat sie besonders geprägt? Die Fotografin lehnt es ab, ein einzelnes Interview zu benennen. Jede Lebensgeschichte habe sie berührt. Beeindruckt ist sie vor allem von der Positivität der Betroffenen und ihrem starken Wunsch nach Harmonie. „Davon können wir uns alle eine Scheibe abschneiden“, sagt Theis.
Und wie empfand Eric die Zusammenarbeit mit der Fotografin? Er erwähnt, dass „Wee bass du?“ die erste Kunstaktion ist, an der er sich beteiligt. Es fehlen ihm Vergleichswerte, doch für Theis hat er nur Lob übrig: „Es ist ein großartiges Projekt. Ich finde es schön, dass es zeigt, wie Personen mit einem Handicap leben.“
Hobbyfotograf Eric Heimermann
Wer einen Blick auf Eric Heimermanns Naturfotografien werfen will, sollte seine Website (photography-by-eric.com) besuchen: Dort präsentiert der Hobbyfotograf seine Werke und nimmt Bestellungen entgegen, etwa für seinen Jahreskalender.
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