Kultfilm / Welcome … to a desert of a movie: Wieso der neue „Matrix“ enttäuscht
Eine Wiederbelebung, die eher einem taumelnden Lazarus als einem Retour de force entspricht: „Matrix Resurrections“ ist ein blutarmes und ideenloses Remake, das die philosophischen Grundsätze des Originals für zusammenhanglose Actionsequenzen nutzt. Wieso das Franchise zudem riskiert, von Verschwörungstheoretikern zweckentfremdet zu werden, lesen Sie hier. Eine Analyse.
„Ironie des Schicksals ist, dass man die blaue Pille schlucken muss, um den Film überhaupt in den Kinos sehen zu dürfen“, postete kürzlich ein User auf den sozialen Netzwerken unter ein „Matrix Resurrections“-Filmposter, auf dem schlicht eine blaue und eine rote Pille zu sehen sind. Wer das „Matrix“-Franchise kennt, weiß: Wer sich für die blaue Pille entscheidet, kehrt der Realität den Rücken und wird wieder in eine Scheinwirklichkeit eingegliedert, wer jedoch die rote Pille schluckt, dem wird die Wahrheit offenbart.
Laut „The Matrix“ ist unsere Wirklichkeit nämlich nur Trug – und wir alle sind duckmäuserische, manipulierte Schafe. Die Aussage dieses Users ist klar: Die „blaue Pille“, die man schlucken muss, um überhaupt erst ins Kino reinzukommen, ist der Impfstoff, die wahren, mutigen Rebellen, die in „Matrix“ der Wirklichkeit ins Auge sehen, das sind die Impfskeptiker und Verschwörungstheoretiker.
Was der Impfgegner oder Verschwörungstheoretiker bei seinem Vergleich aber zu vergessen scheint: Während die Rebellen in „The Matrix“ gegen einen digitalen Albtraum und einen ontologischen Trugschluss ankämpfen, widersprechen die Schwurbler einer medizinisch-biologischen Realität, an deren Aufrechterhaltung, im Gegensatz zur Matrix im Film, eigentlich niemand ein Interesse haben könnte. Dazu kommt: Die Wahrheit, in der all diejenigen eintauchen, die die rote Pille schlucken, ist keineswegs eine Welt der erträumten Freiheiten, welche viele Impfskeptiker ja fordern.
Sie ist ganz im Gegenteil, wie Morpheus es im Originalfilm mit Jean Baudrillard sagt, eine Wüste („le désert du réel“) und die im Film dargestellte Welt würde selbst den hartgesottensten Verschwörungstheoretiker, der wirre Theorien über Bill Gates und Reptiloiden von sich gibt, ungläubig lassen: Im Jahr 2199 hat die Menschheit einen blutrünstigen Krieg gegen mit KI ausgestattete Maschinen ausgetragen, der damit endete, dass kein Sonnenstrahl mehr die Erde erwärmt.
Die Menschen hofften so, den rechnerbetriebenen Feinden die Solarenergie zu nehmen – hatten aber nicht damit gerechnet, dass die Computer fortan die Menschheit selbst als Energie zum Selbsterhaltungszweck nutzen würden.
Während also fast die gesamte Menschheit wie leblose Riesenfötusse an riesige Maschinen eingestöpselt ist, die ihr das Simulakrum einer realen Welt projizieren, grasen einige Rebellen, die in der Stadt Zion – dem letzten Unterschlupf der nicht versklavten Menschen – leben oder die Menschenfarmen in Raumschiffen umfliegen, die Matrix ab, um den Auserwählten zu finden – jemanden, der die Matrix zerstört und die Menschheit von ihren Fesseln löst.
Baudrillard goes Sci-Fi
1999 war „The Matrix“ in aller Munde, der Film kombinierte die postmoderne Philosophie eines Jean Baudrillard – der einmal schrieb, die US-Amerikaner würden so gerne nach Disneyland fahren, weil ganz US-Amerika ein einziges Disneyland wäre und sie dort quasi kondensiert das Simulakrum, das sie mit der Wirklichkeit verwechseln, erleben – mit der Cyberpunk-Goth-Ästhetik von Filmen wie „Johnny Mnemonic“, wo der ausdruckslose Keanu Reeves bereits mitwirkte, und revolutionären Actionsequenzen, die mit einer damals gewagten Mischung aus Slo-Mo und Accelerando ungezählte Male kopiert wurden.
Die Theorie des Simulakrums führt eigentlich auf philosophiegeschichtlicher Ebene sowohl auf Platons Höhlengleichnis wie auch auf Pascales Theorie der Zerstreuung – alles weltliche Leben soll uns davon ablenken, dass unser Leben sinnlos ist – zurück und radikalisiert sie in einem postmodernen Duktus.
Gleichzeitig stellte „The Matrix“ den Gipfel einer Reihe an Sci-Fi-Fiktionen dar, die stets auf eine Hauptaussage reduziert werden konnten: Die Wirklichkeit ist nicht so, wie wir sie wahrnehmen, sie ist nicht nur, wie Kant es sagte, auf eine intrinsische Art subjektiv, sondern vor allem trügerisch, da wir, aus welchem Grund auch immer, im Glauben einer Wahrheit X gelassen werden, um uns Wahrheit Y vorzuenthalten. Diese Sci-Fi-Schule wurde unwissentlich von Philip K. Dick gegründet, der für die Textvorlagen hinter Filmen wie „Blade Runner“, „A Scanner Darkly“, „Minority Report“ oder Serien wie „The Man in the High Castle“, verantwortlich zeichnet – und ohne den es weder die „Truman Show“ noch „The Matrix“ geben würde.
In der ersten halben Stunde des vierten „Matrix“-Teils will man uns und Thomas Anderson aka Neo (Keanu Reeves) verklickern, dass die erste Trilogie eigentlich nur ein Videospiel war und Anderson aka Neo seinen eigenen Lebenslauf im Spiel verarbeitet hat. Neo besucht einen Therapeuten, weil er seit der Veröffentlichung des Spiels Wirklichkeit und Fiktion nicht mehr auseinanderhalten kann und sich so sehr mit seiner Figur und der geschaffenen Fiktionswelt identifiziert, dass er glaubt, übernatürliche Fähigkeiten zu besitzen und an der Textur der Wirklichkeit zu zweifeln.
Die Geschehnisse der vergangenen Filme, die ihn wie Flashbacks heimsuchen, stempelt der Therapeut (Neil Patrick Harris) als Hirngespinste ab und seine Geliebte Trinity (Carrie-Ann Moss), mit der er in der Trilogie die Matrix zerstört hatte, scheint er nicht wiederzuerkennen.
Als Warner Brothers ein neues Sequel verlangt, an dem Anderson mit seinem Rivalen und Businesspartner Smith (Jonathan Groff) arbeiten soll und zeitgleich ein Programm, an dem Neo arbeitete, gehackt wird, überstürzen sich die Ereignisse. Schnell stellt sich heraus, dass Neo in einer neuen Matrix lebt und sein Therapeut ihn glauben ließ, dass die vergangenen Ereignisse bloß psychopathologische Halluzinationen sind. Die Degradierung der ersten Filme als Fiktion innerhalb einer Fiktion entspricht dem, was Vincent Jouve einen „effet de fiction“ nennt: Innerhalb einer Fiktion stuft man Geschehnisse als fiktiv herab, um der eigentlichen Fiktionswelt eine zusätzliche Glaubwürdigkeit zu verleihen. Schnell trifft Neo doch erneut auf Morpheus und wird aus der Scheinwelt extrahiert.
Endlosschleifen oder endlose Langeweile?
Zu Beginn des Films staunt man nicht schlecht: Die ersten Sequenzen kopieren quasi 1:1 die Anfangssequenz des ersten Films. Als am Dienstagabend im Kinepolis „The Matrix“ vor dem vierten Film projiziert wurde, war der Effekt durchaus befremdlich: Es beschlich einen irgendwie das Gefühl, ein Déjà-vu zu erleben (1), gleichzeitig wurde auch klar, dass sich die Figuren in einer Endlosschleife befinden und der Film mit der Metaebene spielt, um diesem Reboot eine zusätzliche Tiefe zu geben und die postmoderne Ästhetik vollends anzunehmen.
Da die Redundanz in den ersten Szenen gewollt und einem ästhetisch-philosophischen Prinzip untergeordnet ist, stellt sich der Zuschauer begeistert vor, was Wachowski mit der Idee von sogenannten „Modals“ und Endlosschleifen wohl alles machen wird. Während der an Amnesie leidende Neo jedoch erneut Morpheus begegnet, sich erneut zwischen der blauen und der roten Pille entscheiden muss, erneut aus der Simulation ausbricht, um die schockierende Wüste des Realen zu entdecken, erneut mit Morpheus (Yahya Abdul-Mateen II) einen Kung-Fu-Kampf bestreitet, um die Fesseln der Gedanken zu befreien, merkt der Zuschauer irgendwann: Mit Loops und Déjà-vu hat all das nicht viel zu tun.
Weil Wachowski nicht viel eingefallen ist, erzählt die Regisseurin den ersten Film quasi nach: „Matrix Resurrections“ ist ein teures und schlecht gemachtes Remake, das weder spannend ist, noch irgendeine kohärente Story hat. Ging es damals noch um die Befreiung der Menschheit aus der Sklaverei, interessiert Neo jetzt nur noch, Trinity aus der Matrix herauszuholen.
Das ist umso bedauerlicher, weil es im Film einige spannende Ansätze gibt: Die Idee, eine gefährliche Wahrheit (die ersten drei „Matrix“-Filme) zum Videospiel, also im Volksmund reinem Entertainment zu degradieren, um so ihr subversives Potenzial zu entschärfen, erinnert nicht nur an Baudrillards Disneyland-Theorie, sondern inspiriert sich zudem an David Foster Wallaces Analyse der Konsumgesellschaft, in der jegliche Erkenntnisse rapide vermarktet werden, um a) Geld zu scheffeln und b) sie ohnmächtig zu machen.
Gleichermaßen ist das Wechselspiel zwischen Fiktion und Wirklichkeit, Wahnvorstellung und Hellsichtigkeit umso spannender, da der Film suggeriert, dass erst Drogenkonsum – Neo schluckt die rote Pille, während Jefferson Airplanes „White Rabbit“ läuft – einem die Augen öffnet. Bedenkt man, dass der Schriftsteller und eifrige Drogenkonsument Philip K. Dick – wie gesagt eine der großen Inspirationen des Films – selbst überzeugt war, dass wir alle im alten Rom der Christenverfolgung leben und unsere Realität nur eine trughafte Projektion ist, birgt die anfängliche Gratwanderung zwischen Erkenntnis und Wahnsinn interessante Aspekte, die der Film allerdings schnell über Bord wirft, um das Original noch mal zu erzählen. So scheitert der Versuch, der ontologischen Dimension der Trilogie eine psychoanalytische Komponente zu verleihen, weil Wachowski nach 40 Minuten das Interesse am eigenen Film verliert.
Simulakra und leere Hüllen
Schade, dass aus einem Franchise, das sich an den Theorien eines Jean Baudrillard und den Fiktionen eines Philip K. Dick inspiriert, im vierten Teil kaum oder wenig Neues schaffen kann und die philosophischen Grundsteine bloß nutzt, um Geld zu scheffeln oder einigermaßen spektakuläre Action-Sequenzen, die nie so nervenkitzelnd und spannend wie die des Originalfilms sind, zusammenhanglos aneinanderzureihen – so glaubt man den Machern kaum mehr, dass der Film eine Kritik an der Konsumgesellschaft sein soll.
Damals war der Film revolutionär, weil er es vermochte, eine Welt anzukündigen, in der Rechner und Künstliche Intelligenz den Alltag prägen sollten – eine Welt, die 1999 noch beängstigende Zukunftsmusik war und sich in den Jahren danach immer mehr verwirklichte. „Matrix Resurrections“ versucht, mittels der Ästhetik des Franchises neue Interpretationsschlüssel unserer Welt, die 2021 definitiv eine andere ist als 1999, zu finden (in einer Szene verdeutlichen Smartphones, wie sehr wir dabei sind, in eine virtuelle Welt zu flüchten), rennt so aber nur einer Realität hinterher, statt sie, wie gute Sci-Fi es vermag, zu extrapolieren.
Im ersten Teil des Franchises versteckt Neo eine Diskette in einem ausgehöhlten Exemplar von Baudrillards „Simulacre et Simulation“ und der gebildete Zuschauer verstand dieses Augenzwinkern als Referenz darauf, dass wir in einer Endlosschleife der Simulakra leben, in der selbst Baudrillards Essay nur Schein und Trug ist. Interpretiert man die Szene im Licht des neuen Streifens, wird klar: Die Philosophie, symbolisiert durch das Buch von Baudrillard, ist reiner Vorwand, und wer das Buch aufklappt, merkt, dass sich darin kein Text, keine Ideen mehr befinden.
Zu Beginn von „Matrix Resurrections“ heuert Smith ein neues Team an, das in einer mittelmäßig witzigen Cut-up-Szene die wildesten und teilweise dämlichsten Ideen für einen vierten „Matrix“-Output sammeln und erst mal verstehen will, wofür das Franchise eigentlich steht. Abrechnung mit dem Kapitalismus, meint einer, Ode an Transgender-Menschen, ruft ein anderer, eine Parabel auf den Faschismus, argumentiert ein Dritter, Kritik am Maschinenwerden der Gesellschaft, grübelt ein Vierter. Dazu gesellt sich dann mittlerweile: pseudophilosophische Plattform für Impfgegner und Möchtegernphilosophen und Beispielhaftigkeit für ein Franchise, das seine eigene Seele verkauft hat.
(1) In der Filmwelt von „The Matrix“ bedeutet ein Déjà-vu, dass jemand dabei ist, die Matrix umzuprogrammieren.
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