/ Wenn der Großherzog Politik macht: Eine Frage des Stils und der Interpretation des Amtes
Großherzog Jean hielt sich, genau wie seine Mutter Charlotte, aus dem politischen Geschehen heraus. Doch sein Nachfolger Henri brach mit dieser Tradition – und zeigte plötzlich, wie mächtig der Großherzog in Luxemburg eigentlich sein kann.
Ende 2008 herrschte Aufruhr in Luxemburg. Fast wäre das Land in eine Staatskrise gerutscht. Der Grund: Die Regierung hatte einen Gesetzentwurf vorgelegt, durch den in Luxemburg die Euthanasie legalisiert werden sollte. Das Parlament sollte wenig später über das Gesetz abstimmen. Aber dann kam es zum Eklat: Großherzog Henri weigerte sich, das Gesetz zu unterschreiben. Es gehe gegen seine moralischen Werte. Er berief sich auf einen Artikel in der Verfassung, der besagt, dass der Großherzog die Gesetze „billigen“, also gutheißen muss. Das war hier nicht der Fall.
Der damalige Premierminister Jean-Claude Juncker unternahm einen ungewöhnlichen Schritt. Er trat an die Öffentlichkeit und erklärte, was passiert war. Eigentlich laufen Gespräche zwischen dem Großherzog und Politikern unter vier Augen ab – und sollen vertraulich bleiben. „Wenn ich heute mit dieser Praxis breche, dann nur, weil wir uns in einer außergewöhnlichen Situation befinden“, sagte Juncker damals. Er hatte auch bereits eine Lösung parat: Es wurde beschlossen, kurzerhand die Verfassung zu ändern. Der Teil, in dem steht, dass der Großherzog ein Gesetz billigen muss, wurde entfernt. Ab jetzt musste er es nur noch „verkünden“, also das Gesetz durch seine Unterschrift rechtskräftig machen.
Der Vorfall löste heftige Diskussionen aus. Großherzogin Charlotte und Großherzog Jean hatten sich immer aus dem politischen Geschehen herausgehalten. Genau wie sein Sohn Henri hatte auch Jean Bedenken, als 1978 ein Abtreibungsgesetz im Parlament beschlossen wurde. Er griff trotzdem nicht ein – und unterschrieb. Doch Henri zeigte mit seiner Weigerung plötzlich, dass der Luxemburger Großherzog nicht nur Dekoration ist. Wenn der Monarch will, kann er tatsächlich in den Gesetzgebungsprozess eingreifen.
Vom Staatsorgan zur Person
Das Wort „Großherzog“ kommt in der Luxemburger Verfassung 49 Mal vor. „Die Frage, wie viel Macht er eigentlich hat, ist nicht so einfach zu beantworten“, sagt der Verfassungsrechtler Luc Heuschling. „Wenn man über den Großherzog spricht, muss man zwischen dem Staatsorgan und der Person unterscheiden.“ Als staatliches Organ hat der Großherzog laut Verfassung viele Kompetenzen. Theoretisch ernennt er „seine“ Regierung, reicht die Gesetze im Parlament ein und verkündet sie, nachdem die Abgeordneten die Texte gebilligt haben. „Wenn man die Verfassung liest, klingt es so, als würde der Großherzog herrschen und die Minister seien seine Assistenten“, sagt Heuschling.
In der Praxis sieht das natürlich anders aus: Der Großherzog als Person hat weitaus weniger Macht als die Institution. In der Verfassung steht, dass jedes Gesetz nicht nur vom Monarchen, sondern auch von einem Regierungsmitglied unterschrieben werden muss. Nun gibt es laut Heuschling mehrere Möglichkeiten, diesen Teil des Textes zu interpretieren. Die erste wäre eine Zusammenarbeit zwischen Regierung und Großherzog. Beide entscheiden über die Gesetze. Die zweite wäre, dass der Großherzog entscheidet und die Regierungsmitglieder ihm gehorchen und die Gesetze unterschreiben. Tatsächlich angewandt wird aber die dritte: Die Regierung entscheidet und der Großherzog gehorcht. Er muss unterschreiben, was entschieden wurde.
„In der Verfassung steht zwar, dass der Großherzog der Staatschef ist“, sagt Heuschling. „Der tatsächliche Chef ist allerdings die Regierung.“ Der Artikel kann auch nur so interpretiert werden: Denn im allerersten Artikel der Verfassung steht, dass Luxemburg eine Demokratie ist. Würde der Großherzog entscheiden und die Regierung nur unterschreiben, wäre Luxemburg kein demokratisches Land mehr.
Monarchen greifen ein
Der Fall von 2008 hat aber gezeigt, dass das Verfassungskonstrukt wackelig sein kann. Und es war nicht das erste Mal, dass in Europa ein Monarch in den Gesetzgebungsprozess eingriff. „Die Fälle sind selten, aber es gibt sie“, sagt Verfassungsrechtler Heuschling. So beispielsweise 1990 in Belgien. Damals wollte König Baudouin ein Abtreibungsgesetz nicht unterschreiben. Genau wie bei Henri im Jahr 2008 brachte er moralische Bedenken vor. Trotzdem wollte er nicht verhindern, dass das Gesetz in Kraft tritt. Die Lösung: Die Regierung behauptete einfach, er sei für die nächsten 24 Stunden unfähig, sein Amt auszuüben. Das Gesetz wurde ohne ihn verkündet. Danach hob das Parlament seine „Unfähigkeit zu regieren“ wieder auf.
Viel besorgniserregender stellte sich ein Fall aus dem Jahr 1972 in den Niederlanden dar. Die Regierung arbeitete damals an einem Gesetzentwurf, durch den das Königshaus reformiert werden sollte. Doch Königin Juliana erklärte, dass sie das Gesetz nicht unterschreiben werde. Also wurde das Vorhaben fallen gelassen. Der Fall kam erst Jahrzehnte später ans Licht, als Historiker einen Eintrag in einem Amtsblatt fanden. Ein Monarch hatte mit Erfolg einen demokratischen Vorgang verhindert.
Wäre das theoretisch auch in Luxemburg möglich? Ja, sagt Heuschling. Die Verfassung sieht vor, dass der Großherzog alle Gesetze verkünden muss. Tut er das nicht, sind sie nicht rechtskräftig. Der Großherzog könnte also theoretisch in das politische Geschehen des Landes eingreifen. „Natürlich würde dann sein Rücktritt gefordert werden“, sagt der Verfassungsrechtler. Würde er diesen aber nicht einreichen, könnten weder Regierung noch Parlament etwas dagegen unternehmen.
Eine neue Verfassung muss her
Das ist ein Problem, dem sich Luxemburgs Politiker spätestens seit der Euthanasie-Debatte 2008 bewusst sind. Deshalb arbeitet das Parlament an einer neuen Verfassung. „In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Rolle des Großherzogs in der Verfassung wenig geändert“, sagt Alex Bodry. Der LSAP-Fraktionschef gilt neben dem mittlerweile nicht mehr aktiven CSV-Politiker Paul-Henri Meyers als eine der treibenden Kräfte hinter der Verfassungsreform. Eine der wichtigsten Neuerungen soll sein, dass die Regierung in Zukunft ohne den Großherzog Gesetzentwürfe im Parlament einreichen kann.
Um zu verhindern, dass der Monarch alles blockieren kann, sieht die neue Verfassung drastische Maßnahmen vor: Das Parlament kann ihn in Zukunft nämlich absetzen, falls er der Politik in die Quere kommt. Mit einer Zweidrittelmehrheit kann die Chamber entscheiden, dass der Großherzog abgedankt hat. Sogar wenn er das eigentlich nicht will – dann wird einfach so getan, als hätte er es getan. „Eigentlich wird er in dem Fall abgesetzt“, sagt Heuschling. „Das wollten die Politiker aber so nicht reinschreiben.“
Als die Diskussionen über eine neue Verfassung vor zehn Jahren begannen, wollten die Politiker eigentlich noch viel weiter gehen. Einige plädierten für ein schwedisches Modell: Dem Großherzog werden alle Kompetenzen aberkannt und ihm wird nur noch eine repräsentative Rolle zugestanden. Das ging vielen jedoch zu weit und es wurde davon abgesehen. Doch Bodry sagt: „Durch die neue Verfassung soll den Realitäten Rechnung getragen werden.“ Der Großherzog habe keine politische Macht mehr. „Es geht also nicht darum, ihm Kompetenzen wegzunehmen, die er eigentlich gar nicht hat, sondern darum, die Fiktion von einem herrschenden Großherzog aus der Verfassung zu streichen.“
Die Regierung des Großherzogs
Trotz aller Änderungen wird es einen Moment geben, in dem der Großherzog auch in Zukunft eine politische Rolle spielt: bei der Regierungsbildung. Denn die Staatsregierung ist laut Verfassung die Regierung des Großherzogs. Nach den Wahlen ernennt der Staatschef einen Regierungsbildner. Hierbei handelt es sich um den späteren Premierminister, der seine Regierung zusammenstellen soll. Wenn das Wahlresultat klar ist, fällt die politische Rolle des Monarchen nicht wirklich ins Gewicht. Sollte aber eine Situation aufkommen, bei der mehrere Koalitionen in Frage kommen, ist die Ernennung eines Regierungsbildners ein bedeutender politischer Akt.
„Deshalb ist es so wichtig, dass der Großherzog überparteilich ist“, sagt Bodry. „Das ist eine Voraussetzung, damit die Institution nicht angreifbar wird.“ Problematisch wurde es 2013, als neben einer von der CSV geführten Regierung auch die Bildung der Dreierkoalition im Raum stand. Großherzog Henri beschloss, einen sogenannten „Informateur“ zu ernennen. Der sprach mit allen Parteien und erstattete dem Großherzog Bericht. Der ernannte daraufhin Xavier Bettel zum Regierungsbildner. Er hätte das aber nicht tun müssen – er hätte auch einfach Jean-Claude Juncker zum Regierungsbildner ernennen können.
Großherzog zu sein, ist eine Frage der Interpretation des Amtes. Das wird sich auch mit der neuen Verfassung nicht ändern. Als Henri Amt und Titel von seinem Vater Jean übernahm, trat er mit dem Wunsch an, den Stil zu ändern. Der Fall von 2008 hat eindrucksvoll gezeigt, was das bedeuten kann. Um ein Haar hätte er ungewollt den Anfang vom Ende der Monarchie eingeläutet. Ein Fauxpas, der seinem Vater in 36 Jahren Regentschaft nicht unterlief.
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