Lebensmittelallergien bei Kindern / Wenn die Ernährung den Alltag bestimmt
Ob bei Eiern, Weizen, Milch oder Nüssen: Während Nicht-Betroffene kein Gedanke an diese Nahrungsmittel verschwenden, kann für Allergiker ein Fehler schnell lebensgefährlich werden. Bei Kindern nimmt die Zahl von Nahrungsmittelallergien stetig zu. Betroffene Eltern und eine Allergologin erzählen, wie sich das Leben mit einem polyallergischen Kind gestaltet.
Lenny ist erst zwei Wochen alt, als er einen schweren Hautausschlag am ganzen Körper entwickelt. Seine Eltern Jessy und Thierry Winckel-Steffen aus Düdelingen haben sofort den Verdacht, dass dies nicht normal ist. Doch die Ärzte halten es zunächst für Babyakne. „Es hieß zuerst, wir würden ihn nicht genug waschen, und danach, dass wir ihn zu viel waschen würden“, erinnert sich Lennys Mutter. Außerdem sei er noch zu klein für eine Allergie, auch da er gestillt werde. Diese Situation zieht sich hin, bis Lenny ein halbes Jahr alt ist. Danach besteht die Mutter darauf, anhand eines Bluttestes nach Allergien zu suchen.
Dabei kommt heraus, dass der Kleine unter anderem auf Nüsse und Tierhaare allergisch reagiert. Zwei Tage später wird die Familie zu einer Fachärztin in der „Kannerklinik“ überwiesen. Dort wird ein größeres Blutbild veranlasst und auf spezifischere Allergien getestet.
Heute ist Lenny zweieinhalb Jahre alt und seine Eltern haben viel über sein Krankheitsbild gelernt. Bei ihrem jüngsten Sohn wurden verschiedene Lebensmittelallergien diagnostiziert. Dazu gehören Milch von Säugetieren, Eier, Erdnüsse und andere Schalenfrüchte, Gluten, Huhn und Soja. Außerdem reagiert er allergisch auf Hunde- und Katzenhaare, Hausstaubmilben wie auch Birkenpollen und Nickel. Aufgrund dieses Krankheitsbildes wird er als polyallergisches Kind bezeichnet. Seine Eltern wissen mittlerweile, was diese Diagnose mit sich bringt. Lennys Geschwister im Alter von sechs und zehn Jahren haben keinerlei Allergien. Nach der Diagnose macht sich die dreifache Mutter online auf die Suche nach anderen Eltern, die sich in einer ähnlichen Situation befinden. Bei einer deutschen Vereinigung findet sie ebenfalls einiges an Informationen.
Eine Allergie- und kindgerechte Ernährung zusammenzustellen, war für die Eltern zu Beginn eine echte Herausforderung. „Als wir anfangen wollten, ihn mit Brei zu füttern, standen wir erst mal vor einer Mauer.“ Anfangs sei die Verunsicherung groß gewesen, erzählt Mutter Jessy. Sie hätten gar nicht mehr gewusst, was sie noch durften und was nicht. Gestillt wird Lenny, bis er 20 Monate alt ist. Während dieser Zeit muss Jessy auf alles verzichten, was Lenny nicht verträgt. Dies sei nicht gut für ihre Moral gewesen, erzählt die Mutter heute.
Bei Lenny ist das Risiko für einen anaphylaktischen Schock sehr hoch. Demnach kann die Reaktion seines Immunsystems auf eines der genannten Allergene innerhalb weniger Minuten lebensbedrohlich werden. Darin besteht auch die größte Angst seiner Eltern, mit der sie täglich zu kämpfen haben – und doch müssen sie damit leben.
Durch die Krankheit benötigen sie einen größeren Zeitaufwand für die Pflege des Sohnes. Dazu gehört das tägliche Duschen, Ölbäder und das Eincremen. Lennys Allergien führen dazu, dass er sich blutig kratzt – oft auch nachts. Das Schwierige daran ist, dass seine Eltern nicht herausfinden können, welche der Allergien den Juckreiz verursacht. Das Einkaufen gestaltet sich ebenfalls komplizierter: Die Familie muss in verschiedenen Läden einkaufen, um alle nötigen und geeigneten Lebensmittel zu bekommen.
Angst als ständiger Begleiter
Die Eltern müssen noch besser auf der Hut sein als sonst, dass Lenny nichts Verbotenes in den Mund nimmt. Im eigenen Zuhause darf nichts liegen gelassen werden, nicht mal Krümel auf dem Boden. Auch auf dem Spielplatz herrscht zusätzlicher Stress, dass er nichts Essbares von anderen Kindern bekommt. Es sei nicht einfach gewesen, eine Kita zu finden, die sich der Problematik annehmen wollte. Doch Lenny musste auch lernen, nichts anzufassen, aber eigentlich verstehe er bereits sehr gut, was er dürfe und was nicht, sagt die Mutter weiter.
Eine Erklärung, warum die Allergien bei ihrem dritten Kind so ausgeprägt sind, haben die beiden bis heute nicht. Allgemein ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass der Nachwuchs eine Allergie entwickelt, wenn die Eltern Allergiker sind. Doch dies scheint bei der Familie Winckel nicht zuzutreffen.
Luxallergy.net
Die Vereinigung „Luxembourg Allergy Network“ möchte Allergikern und Eltern mit Kindern, die an Allergien leiden, Unterstützung anbieten. Weitere Informationen sind auf der Homepage Luxallergy.net oder Facebookseite zu finden. Ihre E-Mail-Adresse lautet: luxallergynetwork@gmail.com.
Bei manchen Allergien ist eine Heilung möglich. Deswegen steht als Nächstes für die Familie eine sogenannte Provokation mit Milch an. Das heißt, dass Lenny eine minimale Quantität an Milch verabreicht und die Reaktion darauf abgewartet wird. Das alles findet zur Sicherheit im Krankenhaus statt. Doch danach wird die Familie zu Hause weitermachen – auch mit anderen Lebensmitteln, und dies monatelang. Lenny muss dabei unter ständiger Beobachtung bleiben. Deswegen war es nötig, dass Jessy ihre Arbeitszeiten ändert.
Damit ihr die Situation etwas leichter fällt, wünscht sich die Familie vor allem mehr Entgegenkommen und „Versteesdemech“. Die Öffentlichkeit müsse besser aufgeklärt werden, sagt Thierry Winckel. Eine zusätzliche Unterstützung vom Gesundheitssystem und den Krankenkassen hält er für notwendig – vor allem, da in den letzten Jahren immer mehr Kinder an Allergien leiden würden.
Richtige Erklärungen gibt es (noch) nicht
Dies bestätigt die Allergologin Françoise Morel, die auch Lenny behandelt. Auch die Fälle von polyallergischen Kindern häufen sich. „Eine Lebensmittelallergie ist eine chronische Krankheit, die viel häufiger auftritt als Diabetes oder eine Zöliakie“, so die Ärztin im Gespräch mit dem Tageblatt.
Bei 4 bis 8 Prozent der Kinder im Grundschulalter trete eine Allergie auf. Die Statistiken würden zeigen, dass sich die Krankenhausaufenthalte von Kindern wegen schwerer allergischer Reaktionen häufen. In den letzten zehn Jahren habe sich diese Zahl verfünffacht. „Die Zahlen steigen aufgrund unserer westlichen Lebensweise“, erklärt Morel. Zu den Gründen gehören die steigende Anzahl von Kaiserschnittgeburten, der massenhafte und häufig unnötige Einsatz von Antibiotika und die oft sterile und keimfreie Umgebung, in der wir leben, sagt sie.
Die Wissenschaft wisse jedoch nicht, warum immer mehr Kinder auf Lebensmittel allergisch reagierten, so die Ärztin weiter. „Wir werden mit Kindern konfrontiert, die unter ständigen Hautproblemen leiden und vieles nicht essen können.“ Es sei schwierig, ein Kind zu ernähren, das keine Milch, Eier, Weizen oder Schalenfrüchte vertrage. Solche Kinder würden nur schwer zunehmen oder zusätzlich ein allergisches Asthma entwickeln, das behandelt werden müsse. Für die Eltern sei es dazu schwer, ihre Kinder mit ruhigem Gewissen in eine Kita abzugeben oder zur Schule zu schicken, erklärt Françoise Morel.
Bei dieser Entwicklung spielt auch die Genetik eine wichtige Rolle, führt die Ärztin weiter aus. „Wir gehen davon aus, dass im Jahr 2025 die Hälfte der Bevölkerung eine Allergie haben wird. Das wird sich später auf genetischer Ebene auf die Kinder auswirken.“
Kinder wie der kleine Lenny, und auch deren Familien, verdienen es, ein Leben zu führen, das sich so normal wie möglich gestaltetAllergologin
Für die Behandlung fehlt es bereits jetzt an Allergologen. „Wir haben nicht genug Mittel, um auf die richtige Art und Weise arbeiten zu können. Lebensmittelallergien müssen zu einer nationalen Angelegenheit erklärt werden“, betont Françoise Morel. Seit 15 Jahren ist die Allergologie in Luxemburg als medizinisches Fachgebiet anerkannt. Hierzulande gebe es nur ein paar Fachärzte, die sich um Lebensmittelallergien bei Kindern kümmern. „Das reicht nicht, um die steigende Anzahl neuer Patienten adäquat betreuen zu können.“ So versuchten die Ärzte, sich zuerst den dringlichen Fällen anzunehmen. „Ansonsten beträgt die Wartezeit bis zu einem Jahr.“
Besonders die ärztliche Unterstützung nach der Diagnose sei elementar. Für eine angemessene Betreuung dieser Patienten und deren Familien werden zusätzliche „menschliche Mittel“ und Material, gut strukturierte Teams mit Pflegekräften und Ernährungsberatern sowie Psychologen benötigt, die auf solche Fälle spezialisiert sind. „Dazu brauchen wir die Unterstützung von und die Kooperation mit den Autoritäten.“ Wichtig sei es zudem, Strukturen zu schaffen, die sich der Prävention widmen.
Françoise Morel hat den Eindruck, dass die Allergien in der Gesellschaft oft nicht als gravierend wahrgenommen werden. Dabei habe diese Diagnose einen enormen Einfluss auf den Alltag. „Kinder wie der kleine Lenny, und auch deren Familien, verdienen es, ein Leben zu führen, das sich so normal wie möglich gestaltet.“ Auch wenn ein ganz normales Leben nie möglich sein werde, sollten diese Kinder nicht ungehört und ungesehen bleiben, findet die Ärztin.
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