Wirtschaftskrieg / Wer hat die besseren Karten: Russland oder Europa? – Ein Expertengespräch
Auf den russischen Überfall der Ukraine hat Europa mit ungewöhnlich scharfen Wirtschaftssanktionen reagiert. Zwischen beiden Blöcken entwickelte sich ein regelrechter Wirtschaftskrieg. Doch es stellt sich die Frage des Erfolges. Erreichen die Sanktionen ihr Ziel? Wer wird den Wirtschaftskrieg gewinnen? Das Tageblatt hat sich mit François Rimeu, Investmentstratege von La Française AM, über diese Fragen unterhalten. Seine Schlussfolgerungen sind ernüchternd.
Als Russland seinen Angriff auf die Ukraine im Februar dieses Jahres startete, wurden zügig Sanktionen beschlossen. Als beispiellos wurden sie von Europas Politikern bezeichnet. Gleich mehrere Ziele sollten mit ihnen erreicht werden: Man wollte „dem Kreml die Mittel zur Finanzierung des Krieges zu kappen; der für die Invasion verantwortlichen politischen Elite in Russland spürbare wirtschaftliche und politische Kosten auferlegen – und die russische Wirtschaft schwächen“.
Innerhalb von Tagen brach der Kurs des Rubel deutlich ein, Transportwege wurden gekappt und die russische Wirtschaft rutschte in eine heftige Rezession. Die dortige Zentralbank sah sich gezwungen, den Leitzins auf 20 Prozent zu erhöhen. Reihenweise verließen westliche Unternehmen, wie auch gut ausgebildete Russen, das Land.
Nun, fast fünf Monate nach Kriegsbeginn, hat sich der Wechselkurs des Rubel erholt und das Land verbucht absolute Rekordeinnahmen mit seinen Energieexporten. Die Zentralbank hat den Leitzins wieder gesenkt. In Europa und in den USA macht man sich derweil Sorgen über hohe Preissteigerungen, teure Energie und um das wachsende Risiko einer Rezession.
„Putin war besser vorbereitet“
„Vor zwei Jahren haben wir noch über Donald Trump gelacht, als dieser Deutschland vor einer zu großen Energieabhängigkeit von Russland warnte“, so François Rimeu, Senior Strategist beim Vermögensverwalter La Française AM, gegenüber dem Tageblatt. „Aber er hatte recht. Heute zahlen wir den Preis dafür. Wir waren blind. Deutschland hat sich übers Ohr hauen lassen.“
„Putin war besser vorbereitet. Er hat seine Wirtschaft während Jahren auf exakt die heutige Situation getrimmt. Er hat die Staatsschulden abgebaut, um widerstandsfähig gegen jegliche möglichen Sanktionen zu sein. Und er hatte viele Jahre Zeit dafür. Er hat seine Pläne mit einer langfristigen Vision erstellt.“ Da habe er Europa etwas voraus, so Rimeu. Nicht umsonst waren es gerade die Gasspeicher von Gazprom, die Ende 2021 nicht aufgefüllt waren. „Europas Politiker denken höchstens ein paar Jahre in die Zukunft. Da war Russland intelligenter.“
Russland schwimmt im Geld
„Falls das Ziel der Sanktionen war, Russland den Geldhahn zuzudrehen, um das Land so zu einem Stopp des Krieges zu zwingen, dann sind die Sanktionen gescheitert“, so der Investmentstratege. „Russland geht das Geld nicht aus. Da die Exporte deutlich über den Importen liegen, erwirtschaftet das Land einen riesigen Überschuss.“ Bis Ende Mai habe es sich um 110 Milliarden Dollar gehandelt. „Das sind 3,5 Mal mehr als letztes Jahr.“ Russland scheint seine Öl-Exporte effizienter diversifiziert zu haben, als erwartet worden war. Zwar ist das Volumen gesunken, dank der höheren Preise sind die Einnahmen aber gestiegen.
Mit einer Trendwende bei den Milliardeneinnehmen rechnen die Analysten bei La Française AM auch im Rest des Jahres nicht. Russland, mit seiner sehr niedrigen Staatsschuld, braucht die internationalen Märkte nicht, um sich zu finanzieren. Nicht 2022 und auch nicht 2023.
Und dennoch: Es sei nicht alles „schwarz und weiß“, so Rimeu. „Russland wird von den Maßnahmen auf breiterer Front getroffen. Wir erwarten einen Einbruch der Wirtschaftsleistung um zehn Prozent. Die Exporte sind eingebrochen, die Importe ebenfalls. Die Inflationsrate legt stark zu. Die russische Wirtschaft bricht zusammen.“ Man könne also auch sagen, dass die Sanktionen funktionieren, so der Senior Strategist.
Europa vor „sozialem Risiko“
Im Gegensatz dazu hält sich Europas Wirtschaft deutlich besser. Die Wirtschaft wächst weiter, wenn auch langsamer. Dennoch sieht Rimeu bei den demokratischen Ländern ein „soziales Risiko“. „Das politische System ist sehr unterschiedlich. Und die Schwelle dessen, was die Bürger in der EU akzeptieren, liegt deutlich niedriger als bei der leiderprobten russischen Bevölkerung.“ Immerhin seien, wegen der hohen Inflation, auch in Europa die realen Gehälter am Fallen. „Das erzeugt Druck auf die Politik. Und dieser Druck wird auch in den nächsten Monaten nicht verschwinden“, ist er überzeugt. „Das Problem sei sehr schwer zu lösen.
Die Sanktionen seien ein „schwieriger Balanceakt“, so der Investmentstratege weiter. „Sind sie zu stark, treiben sie die Preissteigerungen an. Sind sie zu schwach, finanzieren wir Russlands Krieg weiter.“ Hinzu komme, dass Europa es derzeit nicht fertigbringe, sofort auf russisches Gas zu verzichten. „Es erzeugt zu viel Druck auf die Preise. Vielleicht können wir es später? Aktuell stecken wir noch in der Mitte fest. Für die USA ist es ein anderes Thema. Die sind weniger abhängig von russischen Energieimporten als die EU.“
Wir geben Putin Zeit, um seine Wirtschaft anzupassen. Gleichzeitig benötigen wir auch die Zeit, um unsere Wirtschaft anzupassen.Senior Strategist
Weiter weist er darauf hin, dass Russland auch heute noch (für die Hälfte) seiner Öl-Exporte auf europäische (vornehmlich griechische) Tankschiffe zurückgreift. „Wir geben Putin Zeit, um seine Wirtschaft anzupassen. Gleichzeitig benötigen wir auch die Zeit, um unsere Wirtschaft anzupassen.“ Rimeu vergleicht die Lage mit einem Spiel: Der, der sich am schnellsten an die neue Lage anpassen kann, gewinnt.
Kurzfristig sieht er keine Möglichkeit, wie die EU einfach aus dieser selbst verschuldeten Lage herauskommen könne. „Wir müssen weniger Energie verbrauchen. Sie effizienter nutzen. Neue Lieferanten finden.“ Es mache die Situation nicht einfacher, dass in den letzten Jahrzehnten zu wenig in den Ausbau der fossilen Energien investiert wurde, so der Investmentstratege. Das lasse sich nun nicht so schnell wieder aufholen. Das brauche Zeit und Geld. Sehr viel Geld. Und wenigstens fünf bis zehn Jahre.
Die einzige Lösung, die es jetzt sofort gäbe, wäre „dreckige Energie“, namentlich Kohle. „Man kann halt nicht alles (saubere und billige Energie) haben“, so Rimeu. „Der Westen braucht jetzt einen langfristigen Plan.“
Auch Russland ist nicht autark
Abhängig ist jedoch nicht nur Europa, so der Investmentstratege weiter. Auch Russland sei für einen großen Teil seiner Wirtschaft von Importen abhängig. Etwa im Automobilsektor, bei Chips oder im Bauwesen. Oftmals kommen diese Waren zwar nicht aus der EU, dafür aber aus Ländern wie Korea oder Taiwan, wo die Importe ebenfalls gestoppt wurden.
Am Ende sind beide Seiten Verlierer. Europa ist heute schwächer als vor sechs Monaten. Und Russland auch.Senior Strategist
Selbst wenn der Staat im Geld schwimmt, habe das Land, die Menschen, einige Sektoren, einige Firmen hohe wirtschaftliche Kosten zu schultern, so Rimeu. Auch 2023 rechnen die Analysten von La Française AM noch mit keiner Erholung, sondern mit einem weiteren Rückgang der Wirtschaftsleistung (um etwa 2 Prozent; Grundlage: Market Consensus, Bloomberg). Auch mit dem vielen Geld, das Russland für seine Ölexporte bekommt, und das zu einem steigenden Rubel geführt hat, „kann man eigentlich nicht viel anfangen“, die Einkaufsmöglichkeiten im Ausland sind begrenzt. Am Ende „sind beide Seiten Verlierer“, so sein Fazit. „Europa ist heute schwächer als vor sechs Monaten. Und Russland auch.“
Langfristig viele gute Gründe für Zusammenarbeit
Langfristig gesehen sei die Lage noch viel komplexer, so Rimeu weiter. „Europa wird versuchen, weniger abhängig von Russland zu werden. Setzt somit mehr auf den Mittleren Osten.“ Russland hingegen werde mehr auf Indien, und vor allem auf China setzen. „Ob dieses neue Gleichgewicht aber wirklich funktionieren kann? Ich bin mir da nicht sicher.“
Kurzfristig ergebe es für Russland wohl Sinn, mehr auf China zu setzen. „Wenn das Land aber langfristig abhängig von China für all seine Importe wird, was passiert dann im Falle eines Konflikts mit China? Das gäbe China sehr viel Macht über Russland, und Moskau weiß das.“
Auch den Rückzug westlicher Unternehmen aus dem kriegstreibenden Land sieht er mit einem skeptischen Blick. „Wenn Russland wieder aufgeht, kommen die Firmen zurück.“ Langfristig gebe es sowohl für Russland als auch für Europa „sehr viele gute Gründe“, um zusammenzuarbeiten, hebt er hervor. „Aber dann gibt es da noch die Politik … ich weiß nicht, wie sich das entwickeln wird.“ Vielleicht sind wir ja in drei Jahren wieder Freunde? Vielleicht auch nicht …“
Wer hat den längeren Atem?
Auch Europa habe erkannt, dass es einen Wirtschaftskrieg nicht einfach so gewinnen kann, so Rimeu weiter. „Und wie wird der Kampf gegen den Klimawandel da reinspielen?“ Die neuen Abkommen zur Lieferung von Gas seien überaus langfristig angelegt, gibt er zu bedenken. Das Abkommen für Lieferungen aus Katar habe einen Zeitrahmen von 40 Jahren – das mit den USA von 20 Jahren. Damit werde es nicht einfach werden, zur ursprünglichen Situation zurückzukehren.
Bei der schlussendlich alles entscheidende Frage „Wer hat den längeren Atem?“ setzt Rimeu jedoch auf Russland. „Das aber vor allem aus politischen Gründen. Der Regierung ist es egal, wenn die Wirtschaft einbricht. Er wird einfach nicht aufhören.“ In Europa sei das alles komplizierter. Nicht alle EU-Staaten haben die gleichen Interessen. Nicht jedes Land ist gleich aufgestellt. Nicht jeder verfolgt die gleichen Ziele. Und nicht jedes Land hat eine Grenze mit Russland. „Es wird schwierig, das alles unter einen Hut zu bringen.“
Rezession könnte zu einem Gamechanger werden
„Die EU muss sehen, wie sie die hohen Preissteigerungen angeht, und wie sie die Energiepreise senkt, ohne die Wirtschaft in eine Rezession zu treiben“, so der Investmentstratege. Doch das sei sehr schwer zu erreichen. Die Möglichkeit einer Rezession bezeichnet er als „hoch“.
Klar sei, dass die Regierungen den Preis der hohen Inflation nicht ewig zahlen können. Europa sitzt bereits jetzt auf sehr hohen Staatsschulden. Und immerhin sorgen eben gerade diese Anti-Inflations-Hilfspakete dafür, dass die Nachfrage – und damit auch die Preissteigerungen – weiter hoch bleiben.
Gleichzeitig könnte es aber auch anders kommen als gedacht, so François Rimeu. „Eine hohe Inflationsrate kann helfen, die Verschuldungsquoten der Staaten zu senken. Und vielleicht führen die höheren Preise irgendwann zu einem Rückgang der Nachfrage. Vielleicht fallen dann auch die Ölpreise? … Das würde das Gleichgewicht für Russland verändern. Eine Rezession in Europa könnte so zu einem Gamechanger werden. Das könnte sein, wie es endet.“
Zudem hat Europa immer noch die Möglichkeit zum Investieren, sagt er. Wenn sich der Kontinent einen neuen Energie-Mix gibt, leuchtet die Zukunft wieder heller. In Russland hingegen verlassen viele Fachkräfte das Land, die Bevölkerung schrumpft bereits seit Jahren … „Es wird immer schwieriger werden, Wachstum zu haben“, so Rimeu. „Zudem ist Europa der wichtigste Handelspartner – und die Abhängigkeit vom chinesischen Markt nicht ohne Risiken. Auch ist eine geschlossene Wirtschaft nie gut für Wachstum.“ Über die kommenden 20 bis 30 Jahre spielen somit auch viele Fakten gegen Russland als langfristigen Gewinner.
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Sehr guter Artikel,
EU hat alles verpennt.
Ich habe wenig Lust auf eine 17-19° kalte Wohnung! Warm schaffen kann und will ich mich nicht mehr denn das habe ich bereits hinter mir.
Europa soll endlich der „Klügere sein, der nachgibt“, befürchtet aber, sein Gesicht zu verlieren oder ist zu stolz dazu (falscher Stolz). Diese Macht-Spielchen bringen was wem?
Wenn sich zwei streiten, freut sich der Dritte… in dem Fall die USA, welche in diesem Konflikt wahrlich nicht unschuldig ist… wie bei so manchen in der Vergangenheit auch!
„die Bevölkerung schrumpft bereits seit Jahren“
Und Putin verheizt gerade die Jugend.
@ Leila
Es gibt nichts nachzugeben, denn nicht wir, sondern die Ukrainer entscheiden. Natürlich, wir könnten die Waffenlieferungen aussetzen, dann könnten die Ukrainer sich nicht mehr verteidigen – aber wollen Sie wirklich Schuld sein an einem Völkermord? Denn das russische Gemetzel wird weitergehen.
DanV, ich denke mehr an Sanktionen
…natürlich an Unterlassen der Sanktionen!
@Hagar,
und wieder ein Ami-Hasser. Aber die Lebensweise dieser Schurken gerne übernehmen. Die weissen Kreuze in Sandweiler stehen über den verwesten Körpern dieser „Profiteure“.
Aber im ersten Weltkrieg waren sie auch schon hier.Aber niemand hat sie gerufen.Die kamen aus wirtschaftlichen Interessen.Natürlich.
Lasst uns also die NATO auflösen und uns unter das sozialistische Joch des Diktators Putin begeben. Wie gesagt; Mit vollem Magen lässt sich gerne über Hunger reden.
@JJ…und wieder so ein lupenreiner, amerikanischer Befürworter. Eine Streicheleinheit extra @JJ
„Es mache die Situation nicht einfacher, dass in den letzten Jahrzehnten zu wenig in den Ausbau der fossilen Energien investiert wurde, so der Investmentstratege.“
Entweder die Wörter dieses AM wurde falsch wiedergegeben oder er hat keine Ahnung.
Abbau dagegen
wäre das richtige Wort.