Großbritannien / Wer steckt hinter den schweren Ausschreitungen in englischen Städten?
Eine Woche nach dem Amoklauf von Southport und den anschließenden schweren Ausschreitungen in Dutzenden englischer Städte kommt Großbritannien nicht zur Ruhe. In London tagte am Montag der Krisenstab unter Leitung von Premierminister Keir Starmer. Fragen und Antworten zum Thema
Wie ist die Lage?
Weiterhin unübersichtlich. Bis zum Montagmittag zählten die Polizeibehörden 420 Festnahmen, längst haben die Gerichte mit der Aburteilung von Straftätern begonnen. Wer sich an „rechtsextremer Brutalität“ beteilige, sagte der frühere Staatsanwalt Starmer, werde „mit der ganzen Härte des Gesetzes“ behandelt. Dafür stünden nicht nur 4.000 speziell ausgebildete Polizeibeamte bereit, sondern auch die örtlichen Gerichte, die sich auf Sonderschichten vorbereiten.
Ausdrücklich wandte sich der Labour-Premier auch an jene, die keine Pflastersteine werfen, sondern online zur Gewalt aufrufen. Auch für solche Straftäter werde es kein Pardon geben. Zuvor hatte der Milliardär und Besitzer der Plattform X, Elon Musk, über einen „Bürgerkrieg“ in Großbritannien gemutmaßt.
Auch für die kommenden Tage rufen anonyme Accounts auf TikTok, Telegram oder X zu sogenannten Protestveranstaltungen auf. Dazu gehören auch Angriffe auf 39 namentlich genannte Zentren für Immigranten sowie die Kanzleien von Rechtsanwälten, die sich auf Asylverfahren spezialisiert haben.
Was hat die Unruhen ausgelöst?
Ein schreckliches Verbrechen. Am vergangenen Montag stürmte ein knapp 18-Jähriger Brite mit ruandischem Migrationshintergrund in der Stadt Southport, 30 Kilometer nördlich von Liverpool, in ein Nachbarschaftszentrum, wo Kinder zur Musik von Taylor Swift tanzten, und stach offenbar wahllos auf die Anwesenden ein. Drei Mädchen im Alter von sechs, sieben und neun Jahren starben, acht weitere Kinder sowie zwei Erwachsene wurden teils schwer verletzt. Der mutmaßliche Täter sitzt in Haft, sein Motiv bleibt unklar. Die Bluttat nutzten Online-Hassprediger zur Verbreitung von Falschmeldungen: Der Täter sei Muslim und „illegal“ ins Land gekommen, habe zudem unter Beobachtung des Geheimdienstes gestanden. Tags darauf kam es in Southport selbst, seither in Dutzenden anderer englischer Städte zu den schweren Ausschreitungen.
Wer steckt hinter den Krawallen?
Offenbar ein diffuses Netzwerk rechtsextremer Agitatoren. Sie sind online aktiv. Namentlich genannt wird Tommy Robinson, der Gründer der sogenannten English Defence League (EDL). An dessen Kultstatus gibt es keinen Zweifel: Vor der Downing Street skandierten rechtsradikale Protestler vergangene Woche seinen Namen.
Seine Organisation selbst sei inzwischen aufgelöst, betont Robinson, um etwaigen Verbotsforderungen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Diese Behauptung sei schön und gut, argumentiert der Politologe Colin Talbot von der Uni Manchester: „Das heißt ja nicht, dass dies der Wahrheit entspricht.“ Auch der bekannte islamistische Hassprediger Anjem Choudary wurde erst kürzlich zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, obwohl seine berüchtigte Organisation Al-Muhajiroun als aufgelöst gilt.
Gegen Robinson liegt ein Haftbefehl des Londoner High Court vor. Der Agitator mit mehr als einer Million Kontakten auf den unsozialen Netzwerken hatte vergangenen Monat auf einer Demonstration in London einen Film gezeigt, der falsche Behauptungen über einen syrischen Flüchtling wiederholte. Umgehend verschwand der 41-Jährige aus dem Land; er sei aber keineswegs auf der Flucht, beteuerte Robinson gegenüber dem indischen Nachrichtensender CNN-News18, „sondern im Urlaub mit meinen Kindern“.
Wer beteiligt sich an den Ausschreitungen?
Offenbar gibt es einen harten Kern von organisierten Rechtsextremen, die sich zur Randale verabreden und teilweise per Bus oder Bahn anreisen. So waren unter den am Dienstag bei den schweren Krawallen in Southport Festgenommenen keine Menschen mit Wohnsitz in der Stadt. Dies würde erklären, warum sich in den bisher betroffenen Städten die Ausschreitungen nicht an zwei oder mehreren Tagen hintereinander wiederholt haben. Offenbar war die mobile Rassistentruppe schon unterwegs zum nächsten „Einsatz“.
Hingegen trafen die Festnahmen in anderen Städten auch örtliche Krawallos. In Hartlepool landeten vier Männer vor Gericht, gegen zwei von ihnen wurde wegen schweren Landfriedensbruchs Haftbefehl erlassen. In Sunderland wurde ein 29-Jähriger durch die Bilder einer Überwachungskameras überführt; zwar hatte sich der Steinewerfer vermummt, war aber anhand seiner „markanten Tattoos“ leicht zu identifizieren.
Sprachlos macht die Polizei immer wieder die Sorglosigkeit, mit der Schaulustige mitten ins Kampfgeschehen spazieren. In Sunderland mischten sich Familien mit Kleinkindern in Buggies unter die Randalierer. Vielen bieten die aufregenden Konfrontationen eine willkommene Ablenkung von ihrem sonst eher eintönigen Leben. Das gilt auch für gelangweilte Teenager, die ihre Schulferien daheim verbringen müssen, anstatt wie Millionen von Briten an den Stränden Spaniens und Italiens herumzuliegen.
Die Unterscheidung zwischen Krawallmachern und Gaffern gehört zu den schwierigsten Aufgaben der Polizei. Platzverweise werden auf der Insel nur restriktiv angewendet, sind zudem schwer durchzusetzen. Zusätzliche Probleme bereiten den Ordnungshütern auch linke Gegendemonstranten und Gruppen junger Muslime, die zur Verteidigung ihrer Moschee zur Gegenoffensive übergehen. In Stoke-on-Trent mussten zwei Rechtsextreme nach einer Auseinandersetzung mit einer Muslim-Schutztruppe ärztlich behandelt werden.
Woher rührt die Brutalität gegen die Polizei vor Ort?
Den Ordnungshütern wird von Rechtsaußen unterstellt, sie messe mit zweierlei Maß: Die weiße Bevölkerung werde schlechter behandelt als Menschen, die in Einwanderervierteln leben. Das widerspricht auf groteske Weise den Erfahrungen junger Schwarzer und Asiatisch-Stämmiger in den Großstädten: Sie werden viel häufiger von der Polizei auf der Straße angehalten und nach Waffen oder Drogen durchsucht.
Als jüngstes Beispiel der „Bevorzugung“ ethnischer Minderheiten zitieren die Extremisten die Ausschreitungen im vergangenen Monat im Armenviertel Harehills der nordenglischen Metropole Leeds. Dort hatten sich Angehörige eines Roma-Clans gegen das örtliche Jugendamt gewehrt, das vier Kinder einer Familie in Gewahrsam nehmen wollte. Die Proteste eskalierten zu Krawallen, ein Doppeldecker-Bus wurde in Brand gesteckt, ein Polizeiauto beschädigt.
Weil die örtliche Polizei die Brisanz der Situation komplett unterschätzt hatte, mussten sich die Ordnungshüter vor Ort zeitweilig zurückziehen – ein taktischer Fehler, keine Bevorzugung. Nach Durchsicht der Überwachungskameras gab es 27 Festnahmen, vier Männer wurden angeklagt, bei einem anderen wurde die Bewährung widerrufen. Dennoch reden Politiker wie der Nationalpopulist Nigel Farage (Reform-Party) hartnäckig von einer „Zwei-Klassen-Polizei“.
- Drogenboss des kolumbianischen Golf-Clans in Portugal verhaftet - 25. November 2024.
- „Gladiator II“ knüpft an einen Filmklassiker an, doch gelingt die Fortsetzung? - 25. November 2024.
- Im Nahen Osten droht Trump’sches Chaos - 25. November 2024.
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können.
Melden sie sich an
Registrieren Sie sich kostenlos