Ereignisbericht aus dem Sauertal / Wie Bollendorferbrück das Jahrhunderthochwasser durchlebte
Luxemburg wurde vergangene Woche von einem Jahrhunderthochwasser heimgesucht. Tageblatt-Journalist Raffael Wilmes hat die Flut vor Ort selbst miterlebt und berichtet von den Ereignissen aus seinem Heimatdörfchen Bollendorferbrück nahe Echternach.
Bollendorferbrück ist für gewöhnlich ein kleines, verschlafenes Dörfchen an der Sauer. Das in der Nähe von Echternach gelegene Dorf besteht auch gefühlt aus nur zwei Straßen: der etwas höher gelegenen Hauptstraße und der „Gruusswiss“, die sich näher am Flussbett befindet. Dass die paar Höhenmeter einen großen Unterschied machen können, wissen die eingefleischten Bollendorfer nur zu gut. Erst kürzlich Zugezogene werden beim ersten Hochwasser jedoch im wahrsten Sinne des Wortes ins kalte Wasser geschmissen.
Mittwoch
Tagelanger Dauerregen und graue Wolken kündigen die bevorstehende Naturkatastrophe unheilbringend an. Besorgt beobachten die Bewohner der Gruusswiss den Wasserpegel der Sauer – der langsam immer weiter steigt und steigt. Akribisch werden die sozialen Medien nach Hochwassermeldungen, Prognosen und Warnungen durchforstet. Und da ist er endlich: ein informativer Facebook-Post von der Stadt Echternach. Um 15.39 Uhr schreibt Echternach, dass das Risiko bestehe, dass „Bäche überlaufen können“. Die Feuerwehr sei informiert und stehe mit Sandsäcken bereit, um die Menschen vor übergetretenem Wasser zu schützen. Wenngleich das auch beunruhigende Nachrichten sind, so sind es doch Informationen, die etwas Licht ins Dunkel bringen. Derzeitiger Wasserstand: 181 Zentimeter.
Die Anspannung der Bollendorfer wächst. Normalerweise sieht man kaum Menschen auf der Straße, abgesehen von gelegentlich durchfahrenden Radlern oder Anwohnern, die mit ihren Hunden spazieren gehen. Doch am Mittwochabend ist es anders: Hier und da kleine Gruppierungen von Menschen, die besorgte Blicke in Richtung Fluss werfen. Ein kurzer Spaziergang zur Brücke, die Luxemburg und Deutschland miteinander verbindet, liefert neue Informationen. Der Wasserpegel ist weiter angestiegen. Die tiefer gelegenen Teile einiger Gärten stehen bereits unter Wasser. Die Wiese auf der deutschen Seite des Flusses, in der voriges Wochenende noch Zelte und Campingwagen standen, ist schon nicht mehr zu sehen und ganz unter den braunen Wassermassen verschwunden. Trotz des weiter andauernden Regens haben sich einige Schaulustige auf zur Brücke gemacht und beobachten gespannt die Lage.
Die Anspannung und Nervosität steht den alten Bollendorfern ins Gesicht geschrieben: Sie wissen – zumindest ansatzweise –, was ihnen die nächsten Tage bevorsteht. Der Mittwoch ist geprägt von einem ewigen Warten, einem Warten auf die Flut und der Ungewissheit, wie hoch das Wasser schließlich steigen wird. Hinzu kommt das ständige Aktualisieren der inondation.lu-Internetseite und jener des Hochwassermeldedienstes von Rheinland-Pfalz. Wie viele Zentimeter ist das Wasser in den letzten 15 Minuten gestiegen? Sind es „nur“ vier? Fünf? Sieben? Oder noch mehr? Meine Nachbarin, Sonja Steffen, erwähnt in einem Gespräch: „2003 war es am schlimmsten.“ Damals hatte das Wasser mit einem Wasserstand von 615 Zentimetern sogar die Gruusswiss-Straße erreicht.
Der sich anbahnende Abend bringt weitere Schwierigkeiten mit sich: Bei Tageslicht konnte man sich noch Referenzpunkte setzen und so den Anstieg des Wasserstandes beobachten. Mit der eintretenden Dunkelheit gehen diese Punkte verloren. Erschwerend kommt hinzu, dass auf der deutschen Seite bereits der Strom ausgefallen ist und somit diese Seite des Flusses nicht mehr beleuchtet wird.
Mittwochabend 21.45 Uhr: Der Wasserstand der Sauer beträgt mittlerweile 337 Zentimeter. Beim viertelstündigen Abchecken der sozialen Medien stoße ich auf den bereits laufenden Facebook-Livestream vom privaten Wetterdienst Météo Boulaide mit über 200 Zuschauern. Der Wetterexperte erklärt diesen die aktuellen Wettermodelle und kommentiert den Niederschlag: „Der Osten kriegt momentan ziemlich viel ab und wird wahrscheinlich auch den größten Teil abkriegen.“
Donnerstag
0.30 Uhr: Blaulichter vor dem Fenster und eine von der Straße kommende Stimme reißen die Bewohner der Gruusswiss aus ihrem ohnehin leichten Schlaf. Die durch ein Megafon verstärkte Stimme ist nur schwer zu verstehen, doch einige Wortfetzen kann man heraushören – und die reichen: Auto und Hochwasser. Das CGDIS fordert die Bewohner der Grusswiss auf, ihre Fahrzeuge an einen höher gelegenen Ort zu bringen – das Wasser kommt!
Die Bollendorfer springen aus ihren Betten, ziehen sich noch schnell Schuhe und Regenjacken an und steigen in ihre Autos. Äußerst diszipliniert wird die Straße innerhalb von nur wenigen Minuten freigeräumt. Die Autos werden auf dem Busstreifen der höher gelegenen Hauptstraße, bei der Tankstelle und auf einem kleinen Parkplatz vor dem Wasser in Sicherheit gebracht.
Auf dem kurzen Weg nach Hause überprüfen die Grusswiss-Bewohner, ob auch wirklich alle Nachbarn die CGDIS-Warnung gehört und ihr Auto weggefahren haben oder ob ältere Menschen Hilfe brauchen. Und tatsächlich, eine englischsprachige Familie hat von all dem nichts mitbekommen, beziehungsweise nicht verstanden, was gerade passiert. Die hilfsbereiten Nachbarn versuchen der Familie die Situation zu verdeutlichen: Erschrocken springt der Familienvater in seinen Wagen und versucht noch irgendwo eine Parklücke an der Hauptstraße zu finden.
Frau Steffen lebt schon seit mehreren Jahren in Bollendorferbrück und hat bei der Feuerwehr gearbeitet. Darum kennt sie die Warnzeichen für Hochwasser ganz genau. „Dort hinten, das rote Haus trifft es immer als Erstes“, erklärt sie mir vor unserer gemeinsamen Haustür und zeigt mit dem Finger in die Richtung des roten Hauses. Wenn das Wasser im Keller des roten Hauses stehe, dann dauere es nicht mehr lange, bis auch andere Keller volllaufen. Bei der Rückkehr in die Gruusswiss wird eines deutlich: In vielen der an der Flussseite gelegenen Häuser laufen bereits die Wasserpumpen auf Hochtouren – und befördern das Sauerwasser aus den Kellern. Derzeitiger Wasserstand: 429 Zentimeter.
Frau Steffen verkündet überzeugt, dass sie sich für die Nacht einen stündlichen Alarm setzt, um die Lage weiter im Auge zu behalten. Aufgrund der Dunkelheit lässt sich die Entwicklung des Wasserstandes jedoch nur noch schwer beobachten. Darum versuchen die Bollendorfer nach der nächtlichen Aufregung noch eine Mütze Schlaf zu kriegen, um möglichst ausgeschlafen in den nächsten und noch anstrengenderen Tag zu starten.
6 Uhr: Frau Steffen und einige Nachbarn haben sich auf der Straße versammelt und staunen über den Anblick, der sich ihnen bietet. Das Wasser ist weiter gestiegen. Und noch während sie sich unterhalten und Vergleiche zu früheren Hochwasser-Ereignissen ziehen, erreicht die braune Brühe die Straße und umkreist innerhalb von wenigen Sekunden Frau Steffen, die auf einem Kanaldeckel steht. Sie überspringt das sich ausbreitende Wasser und beobachtet dessen rasante Vermehrung von der Treppe ihres Zuhauses aus. Spätestens jetzt sind auch die Bewohner der Gruusswiss, die nicht an der Flussseite der Straße wohnen, in höchster Alarmbereitschaft. Derzeitiger Wasserstand: 554 Zentimeter.
14 Uhr: Der Wasserstand hat den bisherigen Rekordwert von 2003 erreicht – 615 Zentimeter. Der Wasserspiegel steigt jedoch weiter an. Die zum Teil voneinander abweichenden Prognosen der beiden Internetseiten tragen auch nicht unbedingt zur Beruhigung der Gemüter bei. Hinzu kommen Gerüchte von gebrochenen Staudämmen, die sich die Nachbarn über die Mauern des Eigenheims zurufen.
Es ist aber nicht nur das immer weiter ansteigende Wasser, das einem zu schaffen macht: Auch die Stärke des Wasserstroms ist beängstigend. Immer wieder sieht man Äste durch die Straßen schwimmen. Etwas weiter entfernt, dort, wo der Fluss eigentlich sein sollte, sieht man sogar ab und zu herausgerissene Bäume, Camping-Anhänger – ja sogar ein Auto – die der Strom mit sich gerissen hat. Und dann der ohrenbetäubende Lärm, als die Camping-Anhänger gegen die Brücke krachen! Es ist traurig, mitansehen zu müssen, wie die Gartendeko der ganzen Nachbarschaft nach und nach einfach weggespült wird.
Doch das ist noch nicht alles: Nicht nur die Menschen suchen Zuflucht an höher gelegenen und trockenen Orten, sondern auch Mäuse und Ratten. Immer wieder sieht man kleine Nager, die versuchen, eine Treppe oder eine Mauer hochzuklettern, oder versuchen, gegen den Strom anzukommen, und dabei kurz vor dem Ertrinken piepsende Angstlaute von sich geben. Und dann der Gestank! Das braune Wasser hat sich inzwischen mit allen möglichen Substanzen vermischt. Die ganze Nachbarschaft riecht nach Heizöl. Irgendwo muss wohl ein Heizöltank umgekippt sein. Etliche Bewohner klagen über Kopfschmerzen, die durch den Geruch des Wassers hervorgerufen werden.
Auch die Tierwelt tut sich schwer, zu begreifen, was gerade passiert. Die beiden Hunde von Frau Steffen und ihrer Mutter, Frau Hartz, stehen sichtlich irritiert vor der geschlossenen Gartentür des noch nicht überschwemmten Gartens und blicken auf das, was gestern noch ihre übliche Spazierroute war.
Um 15 Uhr erreicht der Wasserstand der Sauer in Bollendorferbrück seinen neuen Rekordwert von 635 Zentimetern. Und mit dem Rekord geht Bollendorferbrück auch der Strom verloren. „In der Nacht wird es stockdunkel sein“, sagt Frau Steffen genervt. „Und das Schlimmste steht uns noch bevor.“ Gemeint sind die Putz- und Aufräumarbeiten, sobald der Wasserspiegel wieder gesunken ist.
Eine erste kleine Erleichterung tritt ein, als klar wird, dass die Wassermassen ab 15 Uhr nicht mehr zunehmen und ganz langsam wieder zurückgehen.
Freitag
Freitagmorgen – die Straße ist wieder frei. Einige Bollendorfer wagen ihre ersten Schritte auf die braun verfärbte und mit Heizöl verschmierte Straße und machen sich ein Bild von der Verwüstung: Vollgelaufene Keller und Wohnungen, herumliegende Äste und Gartendeko, zerstörte Blumen. Das wahre Ausmaß der Zerstörung wird aber erst mit den beginnenden Aufräumarbeiten deutlich. Das ganze Wochenende über schleppen die ohnehin schon übermüdeten Bollendorfer sämtliche durchnässten Gegenstände auf die Straße und werfen sie auf einen Haufen vor ihren Haustüren. Die Straße gleicht mittlerweile einem eintönig braunen, fauligen Materialfriedhof. „Ich könnte bittere Tränen weinen, wenn ich das sehe“, sagt Frau Hartz mit zitternder Stimme und erzählt von Nachbarn, die sie vor den Müllhaufen in der Straße hat weinen sehen. „Es gibt Dinge, die kann man nicht durch Geld ersetzen.“
Eine Familie berichtet, dass ihr ganzer Keller praktisch bis unter die Decke unter Wasser stand. Den Nachbarn und gleichzeitig guten Freunden von Frau Steffen ist es nicht viel besser ergangen. Ihr Haus wurde vor kurzem erst renoviert, doch das Hochwasser hat das ganze Erdgeschoss und den Garten befallen. Und das sind nur zwei von zahlreichen traurigen Einzelschicksalen aus Bollendorferbrück.
Doch der Tag bringt auch Gutes. Es dauert nicht lange, bis die ersten freiwilligen Helfer erscheinen und den Bollendorfern wo es nur geht unter die Arme greifen. Auch Frau Steffen, deren Wohnung sich im ersten Stock befindet und daher nicht von der Flut betroffen ist, stürzt sich energisch in die Arbeit und hilft ihren Nachbarn und Freunden. Unter den freiwilligen Helfern ist auch ein Bauer, der mithilfe einer Pumpe und eines Wassertanks mehrere Keller in kurzer Zeit von dem stinkenden Wasser befreit. Gegen 16 Uhr dann die Erleichterung: Wir haben wieder Strom.
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Brücken leben nicht, auch nicht ‚durch‘.