LuxFilmFest / Wie die Tiere
Der 83-jährige Sergio lässt sich von einem Privatdetektiv in ein Altenheim einschleusen, um dort über mutmaßliche Missstände nachzuforschen: „The Mole Agent“ nutzt den erzählerischen Rahmen eines Neo-Noir-Pastiche für ein berührendes Porträt über die Menschen, die von ihren Familien weggesperrt werden. In „Songs of Repression“ kommen die heutigen Einwohner der damaligen deutschen Colonia-Dignidad-Sekte zu Wort – und liefern eine erschreckende Studie über menschlichen Selbstbetrug.
Ein chilenischer Privatdetektiv wird von einer Kundin damit beauftragt, eventuelle Missstände in einem Altenheim, in dem ihre Mutter verpflegt wird, aufzudecken. Um seinen Job zu erledigen, castet Rómulo den 83-jährigen Sergio, der mithilfe von Lo-Fi-James-Bond-Gadgets (wie als Brille oder als Stift getarnte Kameras) und WhatsApp-Sprachnachrichten den Alltag im Altenpflegeheim einfangen und dem Detektiv eine tägliche Berichterstattung liefern soll. Nicht nur erweist sich der Umgang mit der Technik als schwierig – Sergio ist eben kein geschulter Agent, weswegen ihm die für den Job so zentrale Distanz zum Ermittlungssujet fehlt. Schnell nimmt sich der charmante Sergio den Alltagssorgen der Insassen an: Er hört die Verse einer Poetin an, bremst begeisterte Annäherungsversuche aus – und stellt fest, wie einsam diese verlassenen Menschen im Heim eigentlich sind.
Das Setting von „The Mole Agent“ klingt so abgefahren, dass man sich während des Films immer wieder vor Augen halten muss, dass es sich dabei um einen Dokumentarfilm handelt – weswegen Maite Alberdi den Zuschauer zu Beginn des Films durch die Linse von Sergios Spionagebrille auch das Filmteam erblicken lässt. Schnell stellt sich heraus, dass der Neo-Noir-Pastiche – neben Agenten-Brimborium gibt es auch die für solche Filme typische, jazzige Soundkulisse – eine erzählerische Fassade darstellt, hinter der sich ein einfühlsames Porträt vereinsamter Menschen, die oftmals von ihrer Familie verlassen sind, aufmacht. Auch wenn der Film aufgrund seiner Verspieltheit und dem Charme Sergios den Ernst der Lage etwas zu sehr aufhebt, so erlaubt es die gewählte Form, sein Thema ohne Pathos aufzugreifen.
Sauna im Folterkeller
Genauso unglaubwürdig wie die Prämisse von „The Mole Agent“ möchte einem das Geschilderte hinter „Songs of Repression“ erscheinen, das den Alltag der heutigen Einwohner der „Villa Baviera“ – ehemals Colonia Dignidad (genannt) – dokumentiert. Die Fakten sind spätestens seit dem Spielfilm mit Emma Watson auch dem Mainstream bekannt: 1961 gründet Prediger Paul Schäfer in einem unbefleckten chilenischen Naturparadies eine Sekte, deren Urmitglieder allesamt den Zweiten Weltkrieg miterlebt haben – „das hat definitiv geholfen“, erklärt später einer der Zeugen. Sexueller Kindesmissbrauch und Tortur waren an der Tagesordnung, die Sekte hat die Diktatur Augusto Pinochets aktiv unterstützt und nicht nur die eigenen Mitglieder, sondern auch Regime-Dissidenten in einem Keller gequält: Colonia Dignidad wiederholte und exemplifizierte auf der Ebene eines Mikrokosmos die Konditionierungsmechanismen, die bereits in Nazideutschland funktioniert hatten.
Die Menschen, die noch heute dort leben, arbeiten teilweise im Hotel – eine frühere Folterkammer wurde zur Sauna umfunktioniert, es gibt sogar eine Suite für Hochzeitsfeiern –, verpflegen die erste Generation der Sektenmitglieder im Altenheim oder führen Touristen durch eine Gräueltour. Im Laufe des Films schält sich ein erschreckendes Porträt menschlichen Selbstbetruges heraus: Viele erklären, Paul Schäfer habe ihnen trotz allem zu verstehen gegeben, wo die Grenze zwischen Gut und Böse verläuft, und der Zusammenhalt der Gemeinschaft, verdichtet durch das gemeinsame Singen, sei eine unvergleichliche Erfahrung gewesen. Ein sichtlich traumatisierter Einwohner schwingt mit kindischem Lachen auf einer Schaukel und findet, das Schlimme an den sexuellen Missbräuchen, denen er erlag, sei weniger die Pädophilie als die Homosexualität gewesen. Er fürchtet Gottes Strafe, erklärt aber mit einem befremdlichen Lachen, mit Schäfer hätten sie es „wie die Tiere getrieben“.
Estephan Wagner und Marianne Hougen-Moragas Kamera ist schonungslos, der Zuschauer fassungslos. Der Film gibt weniger Antworten als Lösungsvorschläge auf die zentrale Frage: Wieso haben diese Menschen nach Schäfers Verhaftung diesen furchtbaren Ort – so manche bezeichnen ihn heute noch als ihr Paradies – nicht sofort verlassen? Einige, wie Imker Horst – der ehrlichste unter den befragten Zeugen –, bleiben vor Ort, weil sie selbst wissen, dass sie – psychologisch wie wirtschaftlich – den Alltag unter „normalen“ Menschen nicht überstehen würden: Dort würde die Fassade des Selbstbetrugs schneller bröckeln.
Um sich einer solchen Auseinandersetzung nicht stellen zu müssen, bleiben sie vor Ort: „Songs of Repression“ zeigt eindrucksvoll, wie lange menschliche Konditionierung anhält und was die psychischen Folgen eines kollektiven Traumas sind: Wenn diese Menschen weiterhin zusammenleben, dann ist es, weil kollektiver Selbstbetrug und Handlungsreflexe, die aus Gewalt und Denunziation bestehen, internalisiert sind, dass sie mittlerweile den einzig möglichen Lebensweg darstellen. „Songs of Repression“ ist ein unangenehmer, dafür aber wesentlicher Festivalbeitrag.
Info
„The Mole Agent“, im Dokumentarwettbewerb, 3/5. Läuft: online bis heute 10.00 Uhr und am Freitag um 10.00 Uhr im Ciné Utopia
„Songs of Repression“, im Dokumentarwettbewerb, 4/5. Läuft: online bis morgen 10.00 Uhr und am Freitag um 16.30 Uhr in der Cinémathèque
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