Stoizismus / Wie ein römischer Kaiser mit der Pandemie umging – und was wir von ihm lernen können
Einer der bekanntesten Stoiker der Geschichte ist der römische Kaiser Marcus Aurelius Antoninus Augustus (121 bis 180 n. Chr.). Er erlebte Krieg, den Tod mehrerer Kinder und eine schlimme Pandemie, die heute seinen Namen trägt: die Antoninische Pest. Das Tageblatt hat sich mit dem Autor Donald Robertson darüber unterhalten, welche Parallelen es zwischen unserer Corona-Pandemie und der Antoninischen Pest gibt und wie Stoizismus dazu beitragen kann, alles erträglicher zu machen.
Das vorliegende Gespräch wurde bereits im Februar geführt. Ziel war es ursprünglich, eine neue Sicht auf die immer noch andauernde Pandemie zu gewinnen. Es lag dann einige Zeit auf einer Festplatte und reifte, bis schlussendlich der Krieg in der Ukraine ausgebrochen ist. Nach anfänglichem Zögern habe ich mich schließlich entschieden, das Gespräch doch niederzuschreiben. Zum einen, weil es die Pandemie ja immer noch gibt, und zum anderen, weil es auch darum geht, wie wir mit Krisen besser umgehen können.
Stoiker haben den Ruf, sich durch nichts aus der Ruhe bringen zu lassen und den Hindernissen im Leben mit einem kühlen Kopf zu begegnen. Anhänger der alten Schule des Stoizismus üben sich durch verschiedene Praktiken in Gleichmut. Zum Beispiel meditieren sie darüber, was ihnen Schlimmes widerfahren könnte, um sich nicht davon überraschen zu lassen, und sie machen sich klar, dass es Dinge gibt, die nicht in unserer Kontrolle liegen.
Staatliche Maßnahmen
Was genau war die Antoninische Pest? Donald Robertson ist Autor mehrerer Bücher und Aufsätze über Stoizismus, Verhaltenstherapie und Markus Aurelius. Seine neue Graphic Novel über den Kaiser erscheint am 14. Juni 2022 in englischer Sprache. Er sagt: „Markus Aurelius’ Leibarzt Galen war ein Vielschreiber und ein Besserwisser. Er hat die Symptome der Krankheit beschrieben. Wir wissen nicht mit Sicherheit, um welche Krankheit es sich gehandelt hat, aber die meisten Gelehrten glauben, dass es wahrscheinlich eine Pocken-Variante war. Es ist nicht klar, wie viele Menschen daran gestorben sind, aber eine Schätzung, die oft genannt wird, behauptet, dass es fünf Millionen Menschen waren.“
Diese Seuche war für die Römer damals viel sichtbarer, als es die Corona-Pandemie heute ist, beschreibt Robertson: „Historische Texte beschreiben, wie täglich Wagenladungen Leichen aus Rom herausgebracht wurden. Eine Quelle spricht davon, dass ganze Dörfer entvölkert wurden und dass die römische Armee in die Knie ging. Viele römische Beamte und Staatsmänner sind gestorben. Das löste soziale Unruhen in der römischen Gesellschaft aus, weil Leute kurzfristig in Positionen befördert wurden.“ Auch die Symptome waren sehr viel sichtbarer als die Symptome einer Covid-Erkrankung. „Die Körper der Kranken bildeten Schorf. Die Betroffenen waren schrecklich anzusehen. Wie in einem Horrorfilm“, so Robertson weiter.
Gelehrte versuchten damals der Krankheit rational zu begegnen und die Politik veranlasste Maßnahmen, um die Bevölkerung zu schützen. „Natürlich hatten die Römer keine Medizin“, erzählt Robertson und meint damit Schulmedizin im heutigen Sinne. „Sie hatten Ärzte wie Galen und waren klug genug, um einiges herauszufinden. Wahrscheinlich wussten sie, dass die Seuche ansteckend war. Sie waren besorgt über die Beseitigung von Leichen. Sie vermuteten, dass ein Verstorbener weiterhin andere anstecken kann. Markus Aurelius machte deshalb verschiedene Gesetze. Unter anderem wurden staatliche Mittel bereitgestellt, um die Begräbnisse der Armen zu bezahlen.“
Vermeintliche Wundermittel
Die Römer stellten auch Vermutungen über die Transmission an und lagen damit wahrscheinlich nicht falsch. Ihre Lösungen allerdings sind aus heutiger Sicht wirkungslos. „Sie wussten auch, dass die Krankheit durch die Luft übertragen wurde. Vermutlich, weil die Pusteln zuerst im Rachen erschienen und sich dann über den Körper ausbreiten. Es begann also dort, wo die Atemluft in den Körper kommt. Sie wussten natürlich nicht, was Viren und Bakterien sind. Sie dachten, die Luft ist irgendwie verschmutzt. Schlechte, vergiftete Luft. Sie dachten, logischerweise wäre die Lösung, die Luft zu reinigen, indem man jede Menge Räucherwerk verbrennt, z.B. Myrrhe und wohlriechende Hölzer. Das hat natürlich nichts geholfen. Aber der ganze Gestank davon hat die Atmosphäre verändert. Ihre Seuche war also viel offensichtlicher als unsere Pandemie.“
Mit der Pest gingen wie heute allerlei Verschwörungstheorien, Aberglauben und vermeintliche Wundermittel zur Heilung der Krankheit einher. Ein weit verbreiteter Glaube war der an einen wütenden Gott. Zu Beginn der Ilias beschreibt Homer, wie die griechischen Soldaten von einer Krankheit betroffen sind. Zuständig für Krankheiten war im griechischen Glauben der Gott Apollo. Die Menschen glaubten, man müsse ihn zufriedenstellen, um Krankheiten Herr zu werden. „Noch Jahrhunderte später, bis hin zu den Römern, war der Aberglaube weit verbreitet, dass die richtige Art und Weise, eine Seuche zu bekämpfen, darin bestand, Gold zu opfern und große, teure Rituale abzuhalten.“
Viele Leute, erzählt Robertson, waren überzeugt, Apollo bestrafe sie für irgendetwas. Es gab skurrile Verschwörungstheorien darüber, was das sein könnte. „Eine seltsame Geschichte besagt, dass angeblich einer von Markus Aurelius’ Generälen einen Tempel von Apollo geplündert hat. Dort hätten sie eine versteckte Kammer gefunden, in der sich eine Truhe befand. Als sie das Gefäß geöffnet haben, soll daraus verpestete Luft entwichen sein und die Soldaten hätten die Seuche mit nach Rom getragen.“
Antike Verschwörungstheorien
Es gab auch Theorien, dass Menschen absichtlich infiziert würden: „Andere Storys erzählten davon, dass Menschen umhergehen und Infizierte mit Nadeln stechen, um dann wiederum andere zu infizieren.“ Und: „Während einer Pandemie war es auch leichter, Attentate zu verschleiern. Man konnte den Tod einer Person auf die Seuche schieben. Deshalb gab es oft Unklarheiten, wenn ein Staatsmann starb.“
Den Vogel abgeschossen hat allerdings ein Schwurbler, der versuchte, Jünger um sich zu scharen: „Es gab einen Typen, der prophezeit hat, dass das Ende der Welt naht. Er gründete eine Art apokalyptischen Kult.“ Der Mann versuchte die Menge davon zu überzeugen, dass er sich in einen Vogel verwandeln und wegfliegen kann, wenn der Weltuntergang bevorsteht. „Er kletterte auf einen Feigenbaum, mit einem Storch unter seinem Mantel. Er ist runtergesprungen und hat den Storch freigelassen. Das überzeugte niemanden und er landete vor Gericht.“ Der Überlieferung nach begnadigte Markus Aurelius den geständigen Mann.
Robertson sagt: „Einige Leute glauben – und das ist Spekulation –, dass die Menschen während der antoninischen Pest angefangen haben, der Philosophie den Rücken zu kehren und sich dem Aberglauben und der Religion zuzuwenden. Das Leben war so beschissen, dass die Menschen sich daran klammerten, dass es ein besseres Leben nach dem Tod gibt.“ Dazu hat wohl auch beigetragen, dass die Zahl der Totgeburten zunahm und viele junge Menschen starben. Die Leute hofften, nach dem Tod ihre Kinder wiederzutreffen. „Gleichzeitig müssen sie gewusst haben, dass die Germanen und die Parther die Seuche auch hatten. Es kann natürlich sein, dass nur die Menschen nahe der Grenze das wussten und die Menschen in der Mitte des Reiches nicht.“
Stress für die Psyche
Wie aber gehen Stoiker mit schwierigen Situationen um? Zum einen machen sie sich klar, dass vieles nicht in unserer Kontrolle liegt. „Man kann sagen, die Pandemie ist nicht unter unserer Kontrolle“, erklärt Robertson. „Epitekt sagt, dass nur unsere willkürlichen Gedanken und Handlungen unter unserer Kontrolle sind. Die Existenz des Virus ist nicht unter unserer Kontrolle. Wie sich andere verhalten, ist nicht unter unserer Kontrolle. Dagegen können wir unser eigenes Verhalten und unsere Gedanken kontrollieren.“ Auf die Pandemie angewendet heißt das: „Ob wir eine Maske tragen und uns impfen lassen, können wir kontrollieren – vorausgesetzt natürlich, Masken und Impfungen sind verfügbar.“
Eine alte stoische Praxis ist das Führen eines Tagebuches. Bereits die Stoiker der Antike führten Tagebücher, in denen sie ihre Gedanken festhielten und ihren Tag und ihr eigenes Verhalten reflektierten. Eines der wichtigsten überlieferten Werke der Stoa sind die Tagebücher von Marcus Aurelius. (Die Werke der griechischen Stoiker sind leider heute Mangelware.) „Die Selbstbetrachtungen von Marcus Aurelius kann man als eine Bewältigungsanleitung sehen, um mit dem Stress einer Pandemie umzugehen. Immerhin hat er sie während einer Pandemie geschrieben. Auch wenn er die Pandemie nur einmal kurz erwähnt“, erklärt Robertson dazu. „Er spricht aber über Verlust, weil er Freunde und Familienangehörige – möglicherweise wegen der Seuche – verloren hat.“
Einen Abschnitt aus den Selbstbetrachtungen hebt Robertson besonders hervor: „Er hat etwas Interessantes gesagt, das zu Beginn unserer Pandemie wahrscheinlich sehr kaltherzig geklungen hätte, aber je tiefer wir in die Pandemie rutschen, umso richtiger klingt. Er sagte, ein befallener Geist ist eine weitaus gefährlichere Seuche als jede Pest.“ Marcus Aurelius war sich bewusst, dass die Pandemie schlimm, sogar katastrophal war, aber er hielt es für schlimmer, dass seine Mitmenschen von Gier, Wut und Hass befallen waren. Heute sehen wir, wie sich die Pandemie auf die Psyche, die Politik und die ganze Gesellschaft ausgewirkt hat. „Das ist auf eine gewisse Weise sogar schlimmer“, sagt Robertson.
Vier Übungen aus dem Werkzeugkasten der Stoiker:
Donald Robertson beschreibt vier Übungen, die Stoiker praktizieren, um gelassener zu werden:
• Das Praemeditatio Malorum: Denken Sie darüber nach, welche Katastrophen Ihnen zustoßen könnten, und bewahren Sie dabei eine stoische Gleichgültigkeit. Konzentrieren Sie sich darauf, was in Ihrer Hand liegt und was nicht. Lassen Sie das anfängliche Gefühl abklingen.
• Die Reflexion der eigenen Sterblichkeit: Denken Sie regelmäßig über Ihre eigene Sterblichkeit nach und betrachten Sie sie leidenschaftslos als natürlich und unvermeidlich. Verdeutlichen Sie sich morgens, dass dieser Tag ihr letzter sein könnte. Betrachten Sie den Tag abends, als ob es Ihr letzter gewesen sei. Versuchen Sie in der Gegenwart zu leben und das Geschenk des Lebens zu schätzen.
• Die Sicht von oben: Stellen Sie sich die Welt von oben vor oder versuchen Sie sich das ganze Universum vorzustellen. Denken Sie auch an die Vergänglichkeit aller materiellen Dinge und an die kurze Zeitspanne, die das menschliche Leben dauert.
• Betrachtung des Weisen: Stellen Sie sich einen idealisierten Stoiker oder eine Stoikerin vor und wie sie mit den Widrigkeiten des Lebens umgehen würden. Dabei kann es sich um eine lebende Person, eine historische Persönlichkeit wie Marcus Aurelius oder eine fiktive Figur sein.
Quelle: Stoic Therapy Toolkit, Donald Robertson
Zur Person:
Donald Robertson wurde in Schottland geboren und hat 20 Jahre lang als Psychotherapeut in London gearbeitet, wo er an einer Schule für Therapeuten lehrte. Er ist Autor zahlreicher Bücher und Aufsätze zu den Themen kognitive Verhaltenstherapie, Marcus Aurelius und Stoizismus. Zu seinen Werken über Stoizismus gehören:
• Verissimus (Graphic Novel, erscheint am 14. Juni in englischer Sprache)
• Denke wie ein römischer Herrscher: Die stoische Philosophie des Mark Aurel
• Stoizismus und die Kunst, glücklich zu sein: Alte Weisheiten für moderne Herausforderungen
War bestimmt kein Zuckerschlecken im Winter auf einem Marmorsitz auf der Latrine über das Leben nachzudenken.