Neue Studie der Uni.lu / Wie es Kindern und Jugendlichen in Pflegefamilien und Heimen geht
Das Leben in der Pandemie ist für niemanden einfach. Insbesondere leiden Kinder und Jugendliche unter den Einschränkungen. Doch wie geht es jenen, die in Pflegefamilien oder Heimstrukturen untergebracht sind? Für sie ist die Situation auch ohne Pandemie keine einfache. Nun wollen Luxemburger Forscher diesen jungen Menschen anhand einer an das „Covid-Kids“-Projekt angelehnten Studie mit dem Namen „HERO“ eine Stimme geben. Sie wollen erforschen, wie es diesen Kindern geht, um in der Folge die Politik im Bereich der Kinder- und Familienhilfe zu unterstützen.
Knapp 1.300 Kinder und Jugendliche in Luxemburg leben in Pflegefamilien (rund 42 Prozent) oder in Heimstrukturen. Die Vorgeschichte dieser Kinder ist aufgrund der Tatsache, dass sie platziert werden mussten, oftmals nicht sehr schön. Die Corona-Pandemie könnte die Lebenssituation bei diesen jungen Menschen weiter verschlechtert haben, so eine der Annahmen, welche die Forscher der Uni.lu dazu antrieb, eine Studie darüber durchzuführen. Diese trägt den Namen „HERO“. Der Name ist ein Akronym des englischen Titels der Studie, aber auch als Anlehnung an Superhelden wie Batman, Superman oder Spiderman gedacht, die allesamt als Kinder ohne ihre leiblichen Eltern aufwuchsen und Superkräfte entwickelten. Pascale Engel de Abreu sagt im Tageblatt-Gespräch: „Das Thema der Superhelden passt gut, denn die Kinder brauchen oft Superkräfte, um den Alltag zu meistern.“ Das Gleiche gelte für professionelle Fachkräfte und Pflegeeltern, die Kinder betreuen.
Dr. Pascale Engel de Abreu ist Entwicklungspsychologin und Wissenschaftlerin an der Uni.lu. Sie befasst sich mit Themen rund um die kindliche Entwicklung im Bereich Kognition, Sprache und Emotionen. Dr. Cyril Wealer ist Forscher in der Kinderpsychologie und arbeitet ebenfalls an der Uni.lu. Er möchte, wie er gegenüber dem Tageblatt sagt, die Verbindung zum „Feld“ nicht verlieren und arbeitet deshalb nebenher in einem Kompetenzzentrum für Kinder mit spezifischen Bedürfnissen.
Das Thema der Superhelden passt gut, denn die Kinder brauchen oft Superkräfte, um den Alltag zu meistern.Wissenschaftlerin Uni.lu
Bei einem Vorgespräch zum Projekt „HERO“ in einer Heimstruktur für Kinder und Jugendliche, sagte ein Träger gegenüber dem Forscher Cyril Wealer, dass das Leben mit Covid nicht einfach sei für die jungen Menschen dort. Wealer bemerkt, dass viel über die Schwierigkeiten des Pandemie-Alltags in Altersheimen berichtet wurde. Die älteren Leute dort dürften keine Kontakte haben, um sich nicht gegenseitig anzustecken. Doch die Situation in den Heimstrukturen für junge Menschen sei nicht viel anders. Wenn neun Jugendliche zusammenleben und einer wird positiv, dann müsse sich die gesamte Gruppe in Quarantäne begeben. „Da kann man sich vorstellen, dass das nicht einfach ist, weder für die Jugendlichen, noch für deren Erzieher“, sagt Wealer.
Studie an Covid-Kids-Projekt angelehnt
Beim Uni.lu-Projekt Covid-Kids haben Forscher den Kindern und Jugendlichen während der Pandemie eine Stimme gegeben. Der erste Teil im Frühjahr 2020 erfasste die damalige Situation im Lockdown in der generellen Bevölkerung von Kindern und Jugendlichen. Der zweite Teil befasste sich unter anderem mit dem, was die Kinder vom Anfang der Pandemie an bis etwa Mitte 2021 erlebt haben. Das Forschungsprojekt „HERO“ von Engel und Wealer wurde daran angelehnt und befasst sich ganz speziell mit Kindern, welche in Heimen und Pflegefamilien aufwachsen. Geleitet wird das Projekt von der Uni.lu und unterstützt wird es von mehreren Partnern wie Fedas („Fédération des acteurs du secteur social au Luxembourg“), Ances („Association nationale des communautés éducatives et sociales“), OKaJu (Ombudsman für Kinder und Jugendliche), „FleegeElteren Lëtzebuerg“, Unicef Luxemburg und das ONE („Office national de l’enfance“). Letztere ist Teil des Bildungsministeriums. Das ganze Projekt wird von der „Œuvre nationale de secours Grande-Duchesse Charlotte“ finanziell gefördert.
Wenn die Kinder zurzeit nicht sichtbar sind, ist es nicht, weil die Träger, die Heime oder die Pflegefamilien das so wollen. Weder die Kinder, noch die Pflegefamilien haben eine Lobby.Fedas-Vertreter
Jacques Schloesser ist Vertreter der Fedas und arbeitet für die Elisabeth-Gruppe. Zur Fedas gehören viele Träger der sozialen Arbeit, eine Plattform kümmert sich um Kinder- und Familienhilfe. Die Organisation ist Partner im Projekt und hilft den Forschern des Projektes dabei, Zugang zu den Heimstrukturen zu bekommen, wo die Kinder betreut werden. Schloesser bemängelt, dass die Kinder in Fremdunterbringungen aktuell nicht sichtbar seien. „Wenn die Kinder zurzeit nicht sichtbar sind, ist es nicht, weil die Träger, die Heime oder die Pflegefamilien das so wollen. Weder die Kinder, noch die Pflegefamilien haben eine Lobby. Unser Anliegen als Fedas hier mitzumachen, ist es, diese Gruppe einerseits auf den Schirm der Forschung und andererseits auf den Schirm der Politik zu bekommen.“ Dieser Bereich sei jener, der mit den größten pädagogischen Herausforderungen konfrontiert sei. Man habe große Schwierigkeiten, aus der negativen Dynamik herauszukommen. Eine solche Studie erlaube es, die Sachen voranzutreiben und die Forschung und die Politik mit ins Boot zu nehmen.
Wir arbeiten mit sehr vulnerablen Kindern, die nicht immer als vulnerabel angesehen werdenPräsident „FleegeElteren Lëtzebuerg“
Dick Okkerman ist Präsident der Organisation „FleegeElteren Lëtzebuerg“, welche ebenfalls Partner des „HERO“-Projekts ist. „Wir arbeiten mit sehr vulnerablen Kindern, die nicht immer als vulnerabel angesehen werden.“ Im Tageblatt-Gespräch zeigt er sich erfreut darüber, dass durch die Studie den Leuten mehr Einblicke in diese Situation ermöglicht werde. Er stellt folgende Fragen: „Wer sind diese Kinder, was ist ihr Hintergrund? Wieso sind sie dort, wo sie nun sind? Wie geht es ihnen?“
Wenn diese jungen Menschen nicht in der Wissenschaft sichtbar sind, dann sind sie es auch nicht in der politischen Debatte.Ombudsman für Kinder und Jugendliche
Licht in der Black Box
Auch für Charel Schmit, Ombudsman für Kinder und Jugendliche (OKaJu), ist es notwendig, dass die Kinder und Jugendlichen, die hier betroffen sind, sichtbarer werden. Er sagt: „Diese Studie ist wichtig, um Licht in diese Black Box zu bekommen.“ Diese jungen Menschen brauche man unbedingt im offiziellen Reporting der Politik und Wissenschaft. Schmit spricht von Datenmangel und ergänzt: „Wenn diese jungen Menschen nicht in der Wissenschaft sichtbar sind, dann sind sie es auch nicht in der politischen Debatte.“ Und: „Wenn wir uns für die Rechte dieser Kinder starkmachen wollen, dann müssen sie sichtbarer werden.“ Durch die Fragebögen würden die Kinder und Jugendlichen eine Stimme bekommen. „Deshalb unterstützen wir dieses Projekt.“ Dem Ombudsman geht es nicht darum, einen Mitleidsdiskurs zu führen über Kinder in den Strukturen, sondern darum, über Daten zu verfügen, um die Rechte der Kinder zu stärken. „Wir brauchen einen Rahmen, um die Kinder sinnvoll zu betreuen und dort, wo es möglich ist, einen Aufenthalt in den Wohnstrukturen zu unterbinden und stattdessen andere Möglichkeiten in Betracht zu ziehen.“ Für ihn ist allerdings auch klar, dass es ohne Pflegefamilien und Kinderheime nicht geht.
Der vollständige Titel der Studie lautet: „Mentale Gesundheit und Resilienz während der Covid-19-Pandemie. Eine nationale Studie mit vulnerablen Kindern, die außerhalb des Familienrahmens betreut werden.“ Pascale Engel erklärt, dass der Begriff „mentale Gesundheit“ weit mehr sei als das bloße Vorhandensein oder Nichtvorhandensein von psychischen Störungen. Laut der WHO handelt es sich um einen Zustand des Wohlbefindens, in dem jeder Mensch sein eigenes Potenzial ausschöpfen kann, um die normalen Belastungen des Lebens bewältigen zu können. Die mentale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in der Fremdbetreuung sei zu wenig erforscht. Ein weiterer Anstoß für die Luxemburger Forscher, dies anhand der „HERO“-Studie zu ändern.
Stabilität ist wichtig. Bei Kindern in Heimstrukturen oder Pflegefamilien ist dies schwieriger, weil diese Kinder aus ihrer Herkunftsfamilie herausgenommen wurden.Wissenschaftlerin Uni.lu
Den Begriff „Resilienz“ vergleicht Pascale Engel mit einem Stehaufmännchen. „Auch wenn man stabil steht, kann man trotzdem mal umfallen, aber man kommt irgendwie wieder auf die Beine.“ Laut Engel definieren Psychologen Resilienz als den Prozess, sich angesichts von Widrigkeiten, Traumata, Tragödien, Bedrohungen oder bedeutenden Stressquellen – wie Familien- und Beziehungsproblemen – gut anzupassen. Es ist demnach die Fähigkeit, mit schwierigen oder belastenden Lebenssituationen umzugehen und sie zu bewältigen. „Wir gehen davon aus, dass ein wichtiger Zusammenhang zwischen Resilienz und Wohlbefinden bzw. mentaler Gesundheit besteht“, sagt die Forscherin. Es helfe den Kindern, besser mit Belastung umzugehen. Resilienz könne aber auch gefördert und bestärkt werden. Daran forschen die Wissenschaftler.
Stabile Beziehung zu einem Erwachsenen
Für die Forscher der Uni.lu ist folgende Feststellung relevant: „Einer der häufigsten Schutzfaktoren, die resiliente Kinder teilen, ist eine stabile und engagierte Beziehung zu einem Erwachsenen“, sagt Engel. Das könne ein Elternteil oder eine andere betreuende erwachsene Person sein. „Stabilität ist wichtig. Bei Kindern in Heimstrukturen oder Pflegefamilien ist dies schwieriger, weil sie aus ihrer Herkunftsfamilie herausgenommen wurden.“ Die Forscherin nennt den Begriff „Trennung“.
Die Kinder und Jugendlichen in Pflegefamilien und Betreuungsstrukturen werden als vulnerabel bezeichnet. Laut OECD-Definition gelten diese Kinder als langfristig benachteiligt, aufgrund einer Reihe persönlicher, familiärer oder sozialer Widrigkeiten. Dazu gehören auch junge Menschen in Fremdbetreuung. Diese Vulnerabilität ist laut Pascale Engel oft auf ungünstige Umstände in der Kindheit zurückzuführen, welche nicht unbedingt eine positive Auswirkung auf die spätere Entwicklung ausüben. „Es gibt aber Möglichkeiten, diese Kinder zu unterstützen. Die große Herausforderung dabei ist, wie wir das machen“, sagt Engel. Da seien alle gefordert.
Es fehlt an empirischen Daten zum Wohlbefinden dieser sehr vulnerablen Gruppe von Kindern. Das zu ändern haben wir uns jetzt vorgenommen.Wissenschaftlerin Uni.lu
Ziel des Projektes ist es, die mentale Gesundheit bei diesen Kindern zu erforschen. Dazu gehören laut Engel unter anderem das subjektive Wohlbefinden, psychische Belastungen sowie Schutz- und Risikofaktoren und die Resilienz. Die Forscherin zitiert das internationale Kinderhilfswerk Unicef. Die Organisation betrachtet die Pandemie in Bezug auf die mentale Gesundheit lediglich als Spitze des Eisbergs. Vielleicht sei dies laut Engel die Chance, nun wirklich etwas zu tun. Dabei werden laut OECD Kinder in Fremdunterbringungen oft verborgen. „Es fehlt an empirischen Daten“, meint Engel. Der Grund hierfür liegt laut OECD darin, dass akademische Forscher und Regierungen in diesem Bereich nicht kreativ und ehrgeizig genug vorgegangen sind. „Das haben wir uns jetzt zu Herzen genommen“, sagt die Uni.lu-Forscherin.
Erste Resultate im Juli verfügbar
Die Wissenschaftler planen eine nationale Studie. Dazu werden alle Kinder und Jugendlichen aus Pflegefamilien und betreuten Wohnheimen im Alter von 4-18 Jahren in Luxemburg eingeladen. Ob dies nun auch alle tun, sei eine andere Frage. „Spätestens bei der Analyse sehen wir, ob die Studie repräsentativ ist“, sagt Cyril Wealer. Die Forscher haben keinen Zugriff auf persönliche Daten der Kinder. Die Kontakte zu den Pflegefamilien werden über das ONE hergestellt. Die Fragebögen, die in deutscher und französischer Sprache verfügbar sind, werden anonym an der Universität Luxemburg ausgewertet. Die Datenerhebung beginnt Ende Februar und soll bis in den März hinein laufen. Jugendliche zwischen 11 und 18 Jahren füllen die Bögen selber aus, bei jenen zwischen 4 und 10 Jahren werden die Betreuer befragt. In den Pflegefamilien sind es stets die Pflegeeltern, die die Fragebögen ausfüllen. Der Grund dafür liegt laut Wealer darin, dass Kinder bei der Beantwortung psychische Unannehmlichkeiten (wie Stress oder Müdigkeit) erleben könnten – in einer Situation, in der keine professionelle Unerstützung mit dabei sei.
Spätestens bei der Analyse sehen wir, ob die Studie repräsentativ ist.Wissenschaftler Uni.lu
Die Luxemburger Forscher rechnen mit ersten Resultaten im Juli dieses Jahres. Wichtig sei es, mit allen Akteuren – den Trägern, Betreuern, Kindern und Partnern – über die Resultate zu diskutieren, sagt Pascale Engel. Praxis und Realität stünden stets im Vordergrund, auch wenn eine wissenschaftliche Publikation angestrebt wird. „Die Erkenntnisse müssen stets umsetzbar sein. Denn der Wunsch nach Resultaten ist verständlicherweise groß“, so die Forscherin.
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