Bilanz der Wahlnacht / Wie geht es weiter nach dem Erdrutschsieg der britischen Labour-Party?
Mit dem Satz „Jetzt beginnt die Veränderung unseres Landes“, trat Großbritanniens zukünftiger Premierminister Keir Starmer am Freitagmorgen in London auf. Wie geht es jetzt weiter? Eine Bilanz der britischen Wahlnacht.
Gerade war die magische Grenze überschritten, hatte die britische Labour-Party die absolute Mehrheit der Mandate im Unterhaus erreicht, da trat der zukünftige Premierminister vor seine jubelnden Anhänger. „Wir haben es geschafft“, rief Keir Starmer am Freitagmorgen in Londons berühmter Tate Modern. „Jetzt beginnt die Veränderung unseres Landes.“ Leicht werde das nicht sein, auch nicht von heute auf morgen passieren. „Aber wir wollen allen hart arbeitenden Menschen in unserem Land die Hoffnung zurückgeben.“
Wie in seiner extrem vorsichtigen Wahlkampagne bremst der 61-Jährige also auch an diesem Morgen die hochgespannten Erwartungen seiner eigenen Partei. Das Land selbst erwartet zunächst einmal wenig – so jedenfalls wirkte es häufig in den sechs Wochen, seit der gerade noch amtierende Premierminister im Mai überraschend für diesen Donnerstag zu den Urnen gerufen hatte.
Rishi Sunak blieb in der Wahlnacht zunächst unsichtbar, wie es Amtsinhabern in diesen Situationen zukommt. Kurz nach 4 Uhr tauchte der 44-Jährige in seinem nordenglischen Wahlkreis auf und bestätigte offiziell, was zu diesem Zeitpunkt längst feststand: „Die Labour-Party hat die Wahl gewonnen. Ich habe Keir Starmer gratuliert.“ Die Nacht sei „schwierig“, schließlich hätten viele gute Konservative ihre Mandate verloren. „Das tut mir leid.“ Er selbst werde nach der Amtsübergabe in den Wahlkreis zurückkehren und freue sich auf weitere „Monate und Jahre“ als Abgeordneter.
Offenbar will Sunak Einfluss nehmen auf die Art und Weise, wie die sieggewohnten Torys mit ihrer Niederlage umgehen. Ihren Sitz im Unterhaus haben vor allem Menschen vom gemäßigten Flügel der Partei verloren: Kabinettsmitglieder wie Justizminister Alex Chalk, die Kolleginnen Lucy Frazer (Kultur), Gillian Keegan (Bildung) und Penny Mordaunt (Unterhaus), Verteidigungsressortchef Grant Shapps. Aber auch Galionsfiguren der Rechten wie Jacob Rees-Mogg müssen sich an diesem Morgen nach neuer Beschäftigung umsehen. Im Streit um Sunaks Nachfolge wird es um die Seele der Partei gehen.
Zwei Phänomene bleiben unbeachtet
Die schlimmste Niederlage seit dem liberalen Erdrutschsieg von 1906 haben die Torys ihrer eigenen Misswirtschaft zu verdanken, den dauernden Skandalen, dem scheinbar unendlichen Streit um die härteste Rhetorik gegen Asylbewerber und Ausländer. Einen erheblichen Teil beigetragen hat auch die Reform-Bewegung des Nationalpopulisten Nigel Farage. Im achten Anlauf hat der langjährige Europaparlamentarier nun den Sprung ins Unterhaus geschafft, mindestens drei Gesinnungsgenossen begleiten ihn dorthin. Aber das parlamentarische Klein-Klein ist nicht Farages Sache. Er plant, was in deutschsprachigen Ohren unschöne Assoziationen weckt: Eine „nationale Massenbewegung“ soll es werden auf der Rechten des politischen Spektrums.
Weil es der charismatische Polemiker immer wieder schafft, die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, bleiben zwei Phänomene dieser Wahl erstaunlich unbeachtet. Die Grünen haben, erstens, den Schritt von der Ein-Frau-Partei zu einem parlamentarischen Kleeblatt geschafft, das innerstädtische und gänzlich ländliche Wahlkreise vertritt. Zweitens kehren die Liberaldemokraten mit rund 60 Mandaten aus der Verbannung zurück, die ihnen die Wählerschaft nach der Koalition mit den Konservativen 2015 auferlegt hatte. Endlich spricht wieder eine landesweite politische Kraft als zweitstärkste Oppositionspartei im Unterhaus. Das war zuletzt die schottische Nationalpartei SNP, deren Fehler und Skandale in Edinburgh die Wähler mit dem Verlust von drei Dutzend Mandaten bestraften.
Die Überraschung aus Schottland
Nicht ganz zufällig schwenkten Starmers Groupies in der Tate Modern nicht nur den Union Jack, sondern auch den schottischen Saltire. In der neuen Labour-Fraktion werden statt bisher zwei nun mindestens zwei Dutzend Schottinnen und Schotten ein gewichtiges Wort mitreden. Er wolle das Land zusammenhalten, versprach der designierte Regierungschef. An die Partei gerichtet mahnte er: „Wir haben als veränderte Labour-Party kandidiert, und werden als veränderte Labour-Party regieren“. Ganz bewusst echote Starmer damit den erfolgreichsten Labour-Premier der Geschichte, Tony Blair, der nach dem eigenen Erdrutschsieg 1997 gesagt hatte: „Wir sind als New Labour angetreten und werden auch so regieren.“
Fragen hält das Ergebnis für das Mehrheitswahlrecht bereit. Dessen eklatante Ungerechtigkeit ermögliche immerhin stabile Mehrheiten im Parlament, lautet das Argument der Befürworter, und das Ergebnis vom Donnerstag bestätigt sie. Dass aber extreme Parteien auf der Rechten oder Linken grundsätzlich keine Chance hätten, lässt sich nun nicht mehr gut behaupten.
Die schönsten Sätze der Nacht sprach Finanzminister Jeremy Hunt, der wider Erwarten unter größtmöglichen persönlichen, auch finanziellen Einsatz seinen Sitz hatte halten können. „Wir haben das unglaubliche Glück, in einem Land zu leben, in dem Machtwechsel nicht mit Bomben und Granaten, sondern mit Millionen von Wahlzetteln entschieden werden. Das ist die Magie der Demokratie.“
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