Filmkritik „Marianengraben“ / Wie gelungen ist das Langfilmdebüt der luxemburgischen Regisseurin Eileen Byrne?
Der Atem der Filmkunst: In vier europäischen Ländern hat die Luxemburgerin Eileen Byrne ihren ersten Langfilm gedreht – die Bestsellerverfilmung „Marianengraben“.
Nachts auf dem Friedhof: Paula, eine junge Frau, in all ihrer Zerbrechlichkeit eindringlich und souverän gespielt von der 25-jährigen Schweizerin Luna Wendler („Je suis Karl“, „Ingeborg Bachmann“) kommt einfach nicht über den Tod ihres jüngeren Bruders Tim hinweg – umso mehr, als sie sich dafür verantwortlich fühlt, dass er in einem See ertrank. Immer wieder sucht sie sein Grab auf, und die Sehnsucht nach dem Verstorbenen steigert sich zu einer immer stärker werdenden Lebensmüdigkeit. Kann der Freitod sie wieder mit Tim vereinen?
Zwei Schicksale, ein Treffen
In dieser Nacht am Grab trifft sie unverhofft auf Helmut, der auch die Nähe der Toten sucht – aber aus praktischeren Gründen. Er hat vor, die Urne mit der Asche seiner verstorbenen Frau auszugraben, um sie nach Italien zu fahren und dort an einem besseren Ort zu beerdigen, wo sie zumindest seiner Meinung nach hingehört. Helmut ist ein schwer belehrbarer Griesgram und wirkt zumindest anfangs wie ein Misanthrop. Edgar Selge spielt ihn mit verschmitztem Humor, der schon früh ahnen lässt, dass da in diesem Menschen noch etwas mehr zu entdecken ist: Das Klischee vom weichen Kern unter der harten Schale. Zunächst gibt aber die den Ton an und so nutzt Helmut die Verwundbarkeit Paulas aus: Sie muss ihm beim Ausbuddeln der Urne behilflich sein. Das gelingt, doch nötigt Paula umgekehrt Helmut, sie mitzunehmen auf die Reise nach Italien.
Dieses Zusammentreffen wirkt etwas forciert, und diese Forcierung, eine betonte Künstlichkeit und nie verstellte Konstruktion, zieht sich bis zum Ende durch diesen Film. Denn die Grundkonstellation, die nun etabliert ist und die Handlung im Folgenden vorantreibt, kommt einem allzu bekannt und etwas abgestanden vor: Zwei Ungleiche und verwundete Seelen mit den gleichen Problemen, in Trauer und persönlicher Krise vereint, treffen einander und geben sich gegenseitig Halt – es ist klar, dass sie sich auf der Reise einander annähern und miteinander auseinandersetzen.
Paula bleibt dabei trotzdem die klare Hauptfigur dieses Films, auch wenn beide Charaktere formal gleichberechtigt sind. Aber es geht um sie, eine junge Frau (mit der sich vermutlich auch die Regisseurin deutlich identifiziert) und um ihr deutlich ernsteres Problem: das Leben bejahen zu können.
Vielfalt des Terrains
Der Marianengraben, dies zur Erinnerung, zieht sich durch den Grund des Pazifischen Ozeans und ist an seiner tiefsten Stelle unglaubliche 11.000 Meter tief. Der Titel ist also ein Sinnbild. Aber für was genau? Für den Abstand, der uns von den Toten trennt? Oder für den Abstand zwischen den beiden Lebenden, der hier im Laufe des Films zu überwinden ist. Für die Tiefe des Gefühls, der Verzweiflung des Verlusts?
Im Roman hat es auch etwas mit „neuem Luftholen“ zu tun: Das Anfangskapitel heißt „11.000“ – in den folgenden Kapiteln wird die Zahl immer niedriger, bis sie im Schlusskapitel schließlich bei null landet. Eine Unentschiedenheit oder Unschärfe, die nicht diesen Film spricht, sondern eher die Vielfalt des Terrains markiert, das er emotional abzustecken versucht.
Auch der Film von Eileen Byrne ist vieles: eine Tragikomödie vor allem, ein Roadmovie, ein Film über das Sterben und dadurch – wie das in der Natur der Sache liegt – auch einer über das Leben. Und natürlich ist er eine Literaturverfilmung: 2020, unmittelbar vor Beginn der Corona-Pandemie, erschien der Roman von Jasmin Schreiber. Das Buch der 1988 in Frankfurt geborenen Autorin ist ein Phänomen: ein Debüt-Roman, dessen Erstauflage noch vor Erscheinen ausverkauft war und der binnen weniger Wochen zum Bestseller wurde. Wahrscheinlich passte „Marianengraben“ allzu perfekt in die pandemische Stimmungslage. Zumal Schreiber, die studierte Biologin ist, vor Beginn ihrer Literaturkarriere als Sterbe- und Trauerbegleiterin gearbeitet hatte, und dies in einen viel gelesenen Blog einfließen ließ.
Keine Frage, dass dies dann auch schnell das Interesse von Kinoproduzenten wecken würde. Dass „Marianengraben“ trotzdem kein morbider Film geworden ist, ist vor allem das Verdienst der Regisseurin und ihre beiden Hauptdarsteller.
Engagement und Kosmopolitismus
Vielleicht liegt der Facettenreichtum, den dieser Film auch im Vergleich zur Buchvorlage hat, an den sehr speziellen Erfahrungen, die die Regisseurin Eileen Byrne mitbringt. Sie ist Luxemburgerin, wurde hier 1984 geboren. Sie hat aber auch deutsche und britische Verwandtschaft und mehrere Staatsangehörigkeiten. Das machte es ihr leicht, zunächst an der Universität von Winchester Performing Arts zu studieren, dann Theaterwissenschaft, Musikwissenschaft und Kunstgeschichte an der Universität München und schließlich ab 2007 an der HFF-Hochschule für Fernsehen und Film in München Filmregie.
In den letzten Jahren hat sich Byrne auch mehrfach und selbstbewusst in die filmpolitische Debatte in Deutschland eingeschaltet: Zusammen mit zwei Regie-Kommilitoninnen von der HS München initiierte sie im Frühjahr 2023 den Aufruf „Angst Essen Kino“, der direkt auf die deplorable Lage des deutschen Nachwuchsfilms Bezug nahm und stellvertretend für ihre Kolleginnen und Kollegen die Kunst der Regie und dessen Vorrang gegenüber anderen Gewerken verteidigte, dessen Eigenwert in der sehr auf Produktion und Drehbuchhandwerk fixierten deutschen Debatte zunehmend marginalisiert zu werden droht.
„Angst Essen Kino“ bekam in Deutschland große mediale Aufmerksamkeit. So konnten die Initiatorinnen über 1.000 Unterschriften für den Aufruf gewinnen, unter anderem von etablierten Größen wie Margarethe von Trotta, Caroline Link, Volker Schlöndorff und Dominik Graf. Für dieses Engagement, so Byrne freimütig, habe ihr die Luxemburger Staatsbürgerschaft sehr geholfen – denn im Gegensatz zu ihren deutschen Kolleginnen und Kollegen, die allzu sehr von der Gunst der mächtigen Fernsehanstalten und Förderinstitutionen abhängen und Jahre brauchen, um ein Filmdebüt zu finanzieren, habe sie es in Luxemburg sehr leicht, lobte Byrne die heimischen Filmförderbedingungen.
Nach ihrem HFF-Abschlussfilm („Was bleibt“ von 2018) ist „Marianengraben“ nun ihr erster Langspielfilm. Byrnes Kosmopolitismus kam ihr entgegen, als es darum ging, sich dafür im Dschungel der verschiedenen europäischen Filmförderprogramme einen Weg zu bahnen: „Marianengraben“ wurde in Luxemburg, in Südtirol und in Österreich gedreht.
Elemente des Überschusses
Trotz seiner schweren und schwerblütigen Thematiken Trauer und Tod ist das Ergebnis eine leichtgewichtige Filmerfahrung geworden. Nicht jeden wird der Humor des Films ansprechen: Ihn repräsentieren, parallel zu den beiden ungleichen Menschen, zwei ungleiche Tiere: ein Hund und ein Huhn. Das gibt es schon im Roman, im Film wirkt es zu „behauptet“ und aufdringlich „originell“.
Alles in allem ist „Marianengraben“ ein Film, der in vielem gelungen ist, ohne filmisch herauszuragen, und am Ende vielleicht als Phänomen und Beispiel für die untergründige Melancholie unseres Zeitalters, besonders der „Gen Z“ interessanter ist denn als Kinokunst. Er ist solide inszeniert, ein bisschen schematisch und in vielem nicht wirklich neu, vielleicht auch ein bisschen zu sehr von seinem Thema eingenommen, aus dessen Illustrierung er sich nicht wirklich lösen kann. Die beiden Hauptdarsteller Luna Wedler und Edgar Selge aber retten vieles. Mit ihren überzeugenden und schon für sich sehenswerten Auftritten bringen sie jene Elemente des Überschusses und Exzesses in den Film, ohne den Kinokunst nicht atmen kann – Luftholen ist auch hier lebensnotwendig.
Marianengraben, u.a. im Ciné Utopia.
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