Tageblatt-Serie / Wie junge Historiker die Lokalgeschichte greifbarer machen wollen
In der neuen Tageblatt-Serie „E Bléck duerch d’Lëns“ liefern die Historiker André Marques, Julie Depotter und Jérôme Courtoy einen mikrohistorischen Blick auf verschiedene zeitgeschichtliche Themen. Im Interview erzählen Depotter und Marques, warum Lokalgeschichte wichtig ist, was sie sich von der Serie erwarten und was der Luxemburger James Bond damit zu tun hat.
Tageblatt: Julie Depotter, André Marques, in den nächsten Monaten werden Sie zusammen mit Jérôme Courtoy mehrere lokalhistorische Artikel im Tageblatt veröffentlichen. Warum ist Mikrogeschichte wichtig?
Julie Depotter: Mit der Mikrogeschichte ist es möglich, die großen Gesellschaftsfragen auf das lokale herunterzubrechen. Dadurch kann man eine Thematik dann auch greifbarer machen – Geschichte muss greifbar sein.
André Marques: Es geht auch darum, interessante Personen mit interessanten Lebensgeschichten, die komplett vergessen wurden, einem breiteren Publikum vorzustellen.
Zum Beispiel?
A.M.: Ein Beispiel ist der Fall eines amerikanischen Soldaten mit Luxemburger Wurzeln, der aus Kayl stammt. Wenn man sich seine Lebensgeschichte anschaut, dann denkt man sich: Das könnte der Luxemburger James Bond sein – und niemand kennt ihn. Mich hat auch das Dossier des Ortsgruppenleiters von Schifflingen fasziniert. Wir haben Briefe zwischen ihm und seinem Sohn, der in Dortmund studierte. Wenn man die durchliest, ist es leicht zu vergessen, dass der Vater ein hoher Kollaborateur war. Am Anfang schreibt er seinem Sohn, Liebeskummer sei ganz normal, er solle sich auf seine Studien konzentrieren. Dann geht es plötzlich um Adolf Hitler, „Deutschland über alles“ und das „Kämpfen bis zum Endsieg“. Die Aussage, dass alle Nazis Monster waren, erklärt nicht, wie beachtliche Teile der Bevölkerung sich so weit nach rechts bewegen konnten, wie der nette Bäcker von gegenüber plötzlich zum Nazi wurde. Die Mikrogeschichte zeigt eine gewisse Komplexität im gängigen Narrativ und kann Entwicklungen der Gegenwart eben greifbarer machen.
J.D.: Man muss Parallelen zur Gegenwart ziehen. Geschichte muss nichts Abstraktes sein, das weit weg ist. Es bringt wenig, den Menschen Daten an den Kopf zu schmeißen bzw. lediglich irgendwelche großen Schlachten und Könige zu thematisieren – auch wenn Geschichte oft so in der Schule unterrichtet wird. Dazu haben die Menschen keinen direkten Bezug. Geschichte kann man interessanter mit einer Mikroperspektive präsentieren, weil die Menschen sich damit eher identifizieren können. Zum Beispiel wegen ihrer Großeltern oder der Ortschaft, in der sie leben.
Wie geht man solch eine Recherche an?
A.M.: Zuerst muss man den kreativen Funken finden. Meistens stößt man während der Recherche im Archiv zu einem anderen Thema auf etwas Interessantes. Die wichtigste Frage für unsere Rubrik ist: Was ist interessant? Nicht aus der Sicht eines Historikers, sondern aus der Sicht eines Laien. Bei welchem Dossier oder Lebensabschnitt einer Person denke ich mir, „das ist bombastisch“?
Welche Rolle spielen Zeitungen bei der Recherche?
A.M.: Für den Zweiten Weltkrieg eine sehr wichtige. Über die Plattform eLuxemburgensia sind die meisten Zeitungen online zu finden. Allerdings sind diese während einer Besatzungszeit entstanden. Heißt: Sie wurden sehr stark zensiert und erzählen viele Sachen einseitig. Dann muss man darauf achten, wie gut man den Texten trauen kann. Das heißt nicht, dass man die Zeitungen gar nicht beachten soll. Man muss die Fähigkeit des kritischen Blickes entwickeln, um feststellen zu können, was wahr, überspitzt oder komplett gelogen ist. Aber vor allem auf lokaler Ebene sind sie sehr wichtig.
J.D.: Bei meinen Recherchen spielen sie eine zentrale Rolle. Die Frage der Neutralität muss man sich ohnehin bei jeder Quelle stellen. Zeitungsartikel zeigen, was im Alltag vorgefallen ist und was wichtig genug war, um erwähnt zu werden. In Wien habe ich beispielsweise eine feministische Zeitung untersucht. In Luxemburg habe ich dann an einer Ausstellung zur Befreiung 1944 gearbeitet. Dafür habe ich vorwiegend mit dem Escher Tageblatt gearbeitet. Die Zeitungsausgaben haben mir geholfen, zu verstehen, wie die Bevölkerung die Tage der Befreiung erlebt haben.
Was erhoffen Sie sich von der Serie?
J.D.: Dass Frauen in der Geschichtsschreibung den Platz zugeschrieben bekommen, den sie auch wirklich hatten. Momentan sind sie noch unterrepräsentiert. Das war für mich auch einer der Gründe, warum ich mich mit Lokalgeschichte beschäftige. Es geht unter anderem darum, denen Menschen eine Stimme zu geben, die außen vor gelassen wurden. Es ist zentral, dass Historiker*innen sich mit diesen Themen beschäftigen, weil sonst diese Geschichte nicht erforscht wird und somit keine Beachtung findet.
A.M.: Die Serie ist auch eine Möglichkeit, die vergessenen Kapitel und Menschen der Geschichte zu präsentieren. Vielleicht können wir in den Gemeinden auch passiv Druck aufbauen, damit die Gemeinden sich für die Geschichte einsetzen oder eine Person ehren. Außerdem interessiert es uns natürlich auch, zu sehen, wie das breite Publikum reagiert.
Welche Rolle spielen die Leser denn für Sie?
A.M.: Vielleicht können die Menschen uns auf interessante Geschichten hinweisen.
J.D.: Es wäre sehr schön, wenn die eine oder andere Leser*in kommentiert oder mit neuen Ideen kommt. Eigentlich könnte dadurch ein schöner Austausch entstehen.
Julie Depotter
Julie Depotter (27) erhielt ihren Bachelor in Geschichte in Brüssel. Sie entschied sich für das Studienfach, weil sie darin einen Schlüssel zum Verständnis der großen Menschheitsfragen sieht. Außerdem helfe Geschichte den Menschen dabei, Parallelen zur Vergangenheit zu ziehen. Ihr Schwerpunkt lag dabei auf der Analyse historischer Ereignisse aus gesamtgesellschaftlicher Sicht. Ihren Master absolvierte Depotter in Wien, mit einem Fokus auf Frauen- und Geschlechtergeschichte. „Wenn man über die Geschichte nachdenkt, die wir kennen, kommt man immer zu dem Schluss, dass Frauen kaum Aufmerksamkeit bekommen“, betont sie. In ihrer Masterarbeit schrieb sie über die konstruierte Objektivität in der geschichtswissenschaftlichen Praxis. Heute arbeitet sie als Volontärin im Resistenzmuseum und beteiligt sich dort an verschiedenen Projekten, von denen eines sich auf die luxemburgische Widerstandsbewegung konzentriert – insbesondere auf Frauen, die, wie so oft in vielen Ländern, in Vergessenheit geraten sind. Überdies forscht sie zu geschlechterspezifischen Themen am Liser (Luxembourg Institute of Socio-Economic Research).
André Marques
André Marques (29) hat einen Master in Geschichte von der Universität Luxemburg. Seine Faszination für das Fach fing schon in seiner Jugend an, als er täglich nach der Schule Dokumentarfilme schaute. „Das hat mich so fasziniert, dass ich mir gesagt habe: Das will ich selbst machen“, sagt Marques. Für seine Masterarbeit untersuchte er die Darstellung des Zweiten Weltkriegs in Videospielen. Dabei stellte er fest, dass die Spielerbasis bestimmte Darstellungen als unrealistisch ansah – trotz der Tatsache, dass diese Darstellungen zutreffend waren – da sie nicht mit ihrem eigenen Bild der damaligen Zeit übereinstimmten. Anschließend absolvierte er ein anderthalbjähriges Volontariat im Resistenzmuseum, wo er sich erstmals intensiv mit der Mikrogeschichte des Zweiten Weltkriegs auseinandersetzte. Heute ist Marques als freiberuflicher Historiker tätig. Neben diversen Projekten für das Resistenzmuseum arbeitet er zurzeit an einem Projekt mit der Gemeinde Bettemburg, das im September präsentiert werden soll.
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