Editorial / Wie lassen sich Kriege und andere gewaltsame Konflikte beenden oder gar verhindern?
Die Vereinigten Staaten von Amerika wurden auf zwei Verbrechen gegründet: auf der Sklaverei und der Ausrottung der indigenen Bevölkerung. Derjenige, der das in einem Interview sagte, war der am 30. April verstorbene US-Schriftsteller Paul Auster. In seinem 2023 erschienenen Buch „Bloodbath Nation“ befasst er sich mit der Frage, was die USA zum „gewalttätigsten Land der westlichen Welt“ mache. Bis zuletzt setzte sich Auster gegen Donald Trump ein, dessen Aufstieg gezeigt habe, dass die amerikanische Demokratie auf wackeligen Füßen stehe. Dass sie auch auf Rassismus und Gewalt gebaut ist, zeigte einmal mehr, was am 21. März geschah: In Chicago töteten vier Polizisten einen Schwarzen bei einer Verkehrskontrolle und gaben dabei 96 Schüsse ab. Sie hatten ihn angehalten, weil er nicht angeschnallt war.
Doch nicht nur die USA sind von Gewalt geprägt. Weiter südlich hat sie in Teilen Lateinamerikas eine schier unaufhaltsame Eigendynamik entwickelt. Ebenso erfahren die Menschen in Russland von Kindesbeinen an Gewalt – nicht zuletzt staatliche. Die Gesellschaft hat sich an die Gewalt gewöhnt. Aber auch palästinensische Kinder im Gazastreifen leben mit Gewalterfahrungen, nicht erst seit Beginn der Kampfhandlungen im Oktober 2023. Nicht zu vergessen die zahlreichen anderen bewaffneten Konflikte auf der Welt: Nach dem Global Peace Index gibt es weltweit wieder mehr Kriege. Das letzte Jahr war eines der blutigsten der jüngeren Geschichte, bestätigt die Friedrich-Ebert-Stiftung. Seit dem Völkermord in Ruanda 1994 starben nicht mehr so viele Menschen bei bewaffneten Konflikten wie 2022. Angesichts dieser langen Blutspur wirkt die These des Evolutionspsychologen Steven Pinker, der uns in seinem vor gut zwölf Jahren erschienenen Opus Magnum „Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit“ weismachen wollte, dass die Menschen dazugelernt hätten und die Gewalt auf dem Rückmarsch sei, wie ein frommer Wunsch. Gibt es überhaupt einen Ausweg aus der tödlichen Spirale? Vielmehr scheinen Gewalt und Kriege auch in Zukunft untrennbar von der Geschichte der Menschheit zu sein.
In Bezug auf den Gaza-Krieg zeigt sich nach den Worten des deutsch-israelischen Philosophen Omri Boehm, dass Israel dort nicht nur gegen die Hamas kämpft, sondern auch für die Identität der jüdischen Nation. Zugleich folgen jene, die sich für die Palästinenser einsetzen, einer ähnlichen Logik. Viele verharmlosen die Hamas als Befreiungskämpfer. Es ist die Logik des Postkolonialismus. Das Mitgefühl für die jeweils andere Seite sei dabei aus dem Blick geraten, so Boehm – und damit die Empathie und jener Universalismus, der nicht nur die eigenen Interessen im Sinn hat, sondern die Gleichwertigkeit aller Menschen einbezieht. Wenn wir die Argumentation aufgeben, dass man manche Dinge nicht verstehen könne, wenn man nicht die richtige Identität habe, sind wir wieder bei Immanuel Kant: Der vor 300 Jahren geborene Aufklärer verlangte, man müsse an der Stelle jedes anderen denken. Kant, dessen oberste ethische Instanz die Vernunft ist, bringt dies durch die Formulierung des Kategorischen Imperativs zum Ausdruck: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“
Nach Kants Universalismus ist jeder Mensch durch seine Freiheit ein Zweck „an sich“. Er darf nicht als Mittel instrumentalisiert werden. Alle Menschen haben dieselben Rechte und Pflichten – und dieselbe Würde. Der Kant-Experte Marcus Willaschek warnte in einem Interview davor, Kants Universalismus mit dem „westlich-hegemonialen Kapitalismus“ gleichzusetzen und Begriffe wie Menschenrechte nur als „hohle Leerformeln“ zu benutzen. Er wies außerdem den bekannten Vorwurf gegen Kant zurück, dass dessen Konzepte nichts mit der Realität zu tun hätten. In der Tat wusste der Königsberger Philosoph, dass der Mensch „aus krummem Holz gemacht“ und nicht von sich aus friedfertig sei. Er war auch skeptisch, was die moralische Festigkeit des Menschen betrifft. Frieden gibt es nach Kant nur in einer globalen Rechtsordnung. Er erfordert Garantien. Die Charta der Vereinten Nationen von 1945 ist nicht zuletzt auf Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“ zurückzuführen, in der er seine Moralphilosophie auf der Basis der Vernunft auf die Politik überträgt. Hier könnte auch der Schlüssel zum Ende der Gewalt liegen. Eine Utopie.
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