„Crèches“: Neues Projekt / Wie mehrsprachige Bildung gelingen kann
Bereits seit 2017 liegt der Schwerpunkt in den „Crèches“ auf der mehrsprachigen Bildung. Die Förderung des Multilingualismus kann aber nur durch die Zusammenarbeit von Eltern und Erziehern erfolgen. Um dieses Zusammenspiel zu erörtern und besser umsetzen zu können, wurde nun ein neues Projekt mit dem Namen Compare ins Leben gerufen. Ziel ist es, die Kooperation zwischen den Eltern und den „Crèches“ sowie Multiliteracies zu unterstützen, weiterzuentwicklen und empirisch zu untersuchen. Das Projekt wird vom „Fonds national de la recherche“ (FNR), der Universität Luxemburg, dem „ministère de l’Education nationale, de l’Enfance et de la Jeunesse“ (MENJE) und dem „Service national de la jeunesse“ (SNJ) finanziell unterstützt. Es wurde am Freitag (9.10.) vorgestellt. Das Tageblatt hat sich mit Projektleiterin Claudine Kirsch (Uni.lu), Pit Lutgen (SNJ) und Simone Mortini (SNJ) unterhalten.
Um der Bildungsungerechtigkeit in Luxemburg entgegenzuwirken, fordert der Nationale Rahmenplan der non-formalen Bildung („Cadre de référence de l’éducation non-formale“), dass Kinder bereits in den „Crèches“ erste Erfahrungen mit Literacy sammeln. Literacy heißt nicht unbedingt Lesen und Schreiben, sondern hiermit sind alle Erfahrungen mit Schriftsprache gemeint, z.B. Bücher, Lieder oder Fingerreime. Die Sprache der Bücher, Lieder und Reime ist laut Claudine Kirsch eine andere Sprache als jene, die man im Alltag benutzt. Es handelt sich nämlich hierbei um die Bildungssprache. Die alltägliche Sprache ist einfach und besteht meist aus kurzen Sätzen. Bildungssprache ist viel reicher und komplexer. Im Tageblatt-Gespräch nennt Kirsch als Beispiel das Märchen von Rotkäppchen, mit Vergangenheitsform und Nebensätzen. Literacy kann in mehreren Sprachen und auf vielfältige Art und Weisen erworben werden, hier spricht man dann von Multiliteracies. Neben den üblichen Sprachen in Luxemburg sollte auch den Familiensprachen des Kindes bzw. der Eltern eine zentrale Rolle eingeräumt werden.
Nicht jeder Erzieher redet Russisch, Arabisch oder Serbokroatisch. Was also tun? „Um die verschiedenen Erst- bzw. Familiensprachen der Kinder in den ‚Crèches‘ mit einzubeziehen, ist es notwendig, die Eltern mit an Bord zu nehmen“, sagt Kirsch. Dazu bedarf es einer Zusammenarbeit zwischen den Erziehern und den Eltern. Weil sowohl die Förderung der Bildungssprache als auch die Zusammenarbeit mit den Eltern 2017 in den Rahmenplan Einzug fanden und im selben Jahr das Gesetz zur „Education plurilingue“ in Kraft trat, werden beide Punkte nun gezielt ausgebaut.
Das Projekt wurde am vergangenen Freitag bei einer Videokonferenz vorgestellt, die Pit Lutgen und Simone Mortini (Projektbeauftragte für mehrsprachige Bildung beim SNJ) zusammen mit der Uni organisiert haben. Dort waren über 200 Leute eingeschrieben, die aktiv daran teilnahmen. Auch Bildungsminister Claude Meisch (DP) kam zu Wort und hob die Wichtigkeit von Compare hervor. Neben Claudine Kirsch arbeiten auch Gabrijela Aleksić, Valérie Kemp und Laura Colucci am Projekt.
Um die verschiedenen Erst- bzw. Familiensprachen der Kinder in den ‚Crèches‘ mit einzubeziehen, ist es notwendig, die Eltern mit an Bord zu nehmenProjektleiterin Uni.lu
Nach einer Übergangsphase, die bis 2019 dauerte, müssen Kinderbetreuungseinrichtungen im non-formalen Bereich wie beispielsweise „Crèches“ seit 2020 nach der „Education plurilingue“ arbeiten, die im Nationalen Rahmenplan verankert ist. Sie müssen ein Konzept erstellen, wie sie Mehrsprachigkeit spielerisch im Alltag umsetzen wollen und konkrete Maßnahmen planen. Pit Lutgen und Simone Mortini vom SNJ begleiten die „Crèches“ im Land bei der Umsetzung des Programms der mehrsprachigen Bildung. Alle Kinder von 1 bis 4 Jahren werden von den Erziehern im Alltag bei der Mehrsprachigkeit im Luxemburgischen, Französischen und den jeweiligen Familiensprachen unterstützt. Lutgen sagt im Tageblatt-Gespräch: „Über den Weg von Fortbildungen und Konferenzen gelingt es uns, dies im Alltag umzusetzen, zu planen und zu begleiten.“
Eltern, Kinder und Erzieher sind die Hauptakteure
Das Compare-Projekt versucht erst einmal zu erörtern, wo es einerseits bereits eine Zusammenarbeit zwischen Eltern und Erziehern gibt und wie diese funktioniert und andererseits, wie die Multiliteracies bislang in den „Crèches“ umgesetzt werden. Dazu wurden drei Hauptakteure festgelegt: Eltern, Kinder und Erzieher.
Bei den Erziehern interessieren sich die Wissenschaftlerinnen für deren Einstellung zur Zusammenarbeit mit den Eltern, ihre Orientierungen, Perspektiven und gemeinsame Aktivitäten mit Eltern in der „Crèche“. Wenn es bereits eine Zusammenarbeit in einer „Crèche“ gibt, dann wird überprüft, wie diese zustande kam. Kirsch sagt, dass es dazu relativ wenige Studien gibt. „Bei den Eltern schauen wir, was sie zu Hause in puncto Literacy tun, also welche Erfahrungen Kinder zu Hause mit Schriftsprache haben.“ Dort werden folgende Fragen erörtert: Was machen die Eltern zu Hause? Was machen diese Eltern, wenn sie in die „Crèche“ kommen? Wie interagieren nun die Eltern und die Erzieher zusammen, wenn sie in der „Crèche“ sind? Kirsch nennt ein Beispiel: Ein Elternteil kommt in die „Crèche“ und bringt eine Geschichte von zu Hause mit. Wie reagieren dann die Kinder? Die Erzieher? Die Eltern? Und was für Auswirkungen hat das? Werden die Kinder dadurch eher interessiert, sich Bilderbücher anzuschauen? Zeigen sie dadurch mehr Eigeninitiative? „Jeder hat einen Schwerpunkt bei uns im Team. Es geht darum, diese Schwerpunkte am Ende zusammenzubringen“, so die Wissenschaftlerin.
Wie kommen die Forscherinnen denn an diese Informationen? Zu ihrer Methode gehören sowohl Fragebögen, die an Erzieher und Eltern gerichtet sind und dann ausgewertet werden, als auch Beobachtungen und Interviews „um Terrain“, also die Feldforschung. Letztere findet in drei „Crèches“ statt, sagt Kirsch. Es gab zwei Online-Fragebögen für Erzieher. Beim ersten drehten sich die Fragen um die Zusammenarbeit mit den Eltern und beim zweiten wurde der Umgang mit der Literacy erfasst. Hierzu wurden insgesamt 800 Fragebögen ausgewertet. Auch für die Eltern wurden Fragebögen zu diesen beiden Themen erstellt.
Am Freitag stellte Kirsch während der Videokonferenz die ersten Ergebnisse zum Fragebogen an die Erzieher zur Kooperation vor. Heraus kam unter anderem, dass die Erzieher die Punkte Kommunikation und Informationsaustausch als absolut zentral betrachten. Die Zustimmung für diese Punkte könne man nachvollziehen, da sie auch im Rahmenplan gefordert werden, so Kirsch. Nicht so einig sind sich die Fachkräfte bei der Zustimmung, dass das Ziel der Kooperation auch darin bestehen kann, den kulturellen Hintergrund des Kindes kennenzulernen. Das Gleiche gilt für die Einbeziehung der Eltern und den Aufbau der persönlichen Beziehung. Auch diese Punkte stehen eigentlich im Rahmenplan, wundert sich Kirsch.
Die Erzieher wurden gefragt, welche Sprachen sie mit den Kindern sprechen, welche die Kinder untereinander sprechen und welche die Kinder mit den Eltern sprechen. „Hier ist uns sofort aufgefallen, dass die Erziehung in Luxemburg definitiv mehrsprachig und nicht zweisprachig ist“, sagt Kirsch. Zwar haben die französische und die luxemburgische Sprache die Nase vorne, aber sehr viele verschiedene andere Sprachen konnten hier ausfindig gemacht werden. Die mehrsprachige Bildung hat also in den Einrichtungen Fuß gefasst.
Eine Herausforderung für die Erzieher
Alle Familiensprachen der Kinder aufzugreifen, ist laut Lutgen eine Herausforderung für die Erzieher, bedingt durch die Diversität des mehrsprachigen Kontexts. Deshalb sei die Zusammenarbeit zwischen Eltern und Erzieher beziehungsweise die Bildungspartnerschaften der einzige Weg, um alle Sprachen wertzuschätzen. So zum Beispiel können Eltern punktuell gemeinsame Aktivitäten mit den Erziehern in der „Crèche“ ausführen.
Nicht alle Eltern haben jedoch Zeit, in die „Crèche“ zu kommen. Der SNJ-Mitarbeiter nennt das Beispiel eines Tablets, das als Literacy-Brücke zwischen dem Elternhaus und der „Crèche“ eingesetzt werden kann. Der Vater eines Kindes kann zum Beispiel einen Text auf Russisch darauf aufnehmen und das Kind kann dies seinen Freunden in der „Crèche“ vorspielen. Lutgen betont, dass das Tablet in diesem Fall nicht nur in den Bereich der Medienkompetenz gehört, sondern dass es hier hauptsächlich als Werkzeug betrachtet wird, wo man Bild und Ton verschiedener Kulturen im Alltag einbauen und es punktuell abspielen kann. Für die Kinder sei dies eine enorme Wertschätzung und positiv für den Bildungsprozess, wenn sie ihre Familiensprache im Alltag der „Crèche“ hören und es den Freunden zeigen können.
Die Zusammenarbeit zwischen Eltern und Erziehern kann auch zu sogenannten Bildungspartnerschaften führen. Kirsch sagt, dass die Kooperation auf einem guten Weg sei. Vieles gehe bereits über die üblichen Tür- und Angelgespräche hinaus. Damit die Zusammenarbeit mit den Eltern gut funktioniere, müsse man darauf achten, so Kirsch, dass alle Eltern in die „Crèche“ „hereinkommen“. Es dürften keine Unterschiede gemacht werden. Es dürfe zum Beispiel nicht passieren, dass manche Familiensprachen mehr wertgeschätzt werden als andere. Dies habe auch viel mit der kulturellen Einstellung auf beiden Seiten zu tun. Werde dies nicht richtig gehandhabt, könnten plötzlich Bildungsungleichheiten entstehen, mahnt die Wissenschaftlerin.
In der Coronazeit ist sehr viel passiertSNJ
Hat die aktuelle Corona-Pandemie einen Einfluss auf die Studie? „In der Coronazeit ist sehr viel passiert“, sagt Pit Lutgen. Die meisten Betreuungseinrichtungen mussten schließen und die Eltern sind größtenteils zu Hause bei ihren Kindern geblieben. Da sind viele Themen aufgekommen. Kirsch sagt, dass die Nachfrage der Eltern, was sie mit den Kindern tun sollten, zu dieser Zeit sehr hoch war. Viele Eltern machten sich zudem Sorgen, dass ihr Kind, das zu Hause kein Luxemburgisch spreche und es bislang in den Betreuungseinrichtungen erlernte, verlieren könnte. Als die „Crèches“ im Juni wieder öffnen durften, war alles anders. Die Erzieher liefen mit Masken herum, bestimmte Spielsachen mussten weggeräumt oder durften nicht mehr benutzt werden. Das Thema Corona musste zwingend angesprochen werden, aber auf eine kindgerechte und spielerische Art und Weise. Auch wenn manche Eltern der Ansicht waren, dass dies nicht notwendig sei. Eine solche Situation ist nicht einfach für die „Crèche“, sagt Kirsch.
Einige „Crèches“ haben daraufhin angefangen, Videos aufzunehmen und zu verschicken, um die Kinder in Aktivitäten einzubinden. Eltern haben Feedback gegeben und Fotos oder Videos zurückgeschickt. Es entstanden Facebook- und WhatsApp-Gruppen, in denen es zu einem regelrechten Austausch zwischen Erziehern und Eltern kam. „Die Kooperation war gut. In dieser Zeit hat sich in der Hinsicht viel getan“, sagt Kirsch.
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