Beispiel St. Petersburg / Wie russische Universitäten den Krieg in der Ukraine normalisieren
Die Europäische Universität in Sankt Petersburg schließt aus politischen Gründen ihre Politologie-Fakultät. Das russische Regime verlangt auch von Hochschulen patriotischen Gehorsam: Tarnnetze flechten, Briefe an die Front schreiben, Drohnen bauen.
„Die Fakultät ist liquidiert, Erklärungen vonseiten der Universitätsleitung gibt es keine. Ich gehe nun in einen langanhaltenden Urlaub, am neuen Programm werde ich nicht mehr teilnehmen.“ So schreibt Grigori Golossow, bis vor einigen Wochen noch Dekan der Politologie-Fakultät an der Europäischen Universität in Sankt Petersburg, auf seiner Facebook-Seite. Die Politologie ist nun Geschichte an seiner Universität. Die, die weiterstudieren wollen, müssen es fortan an der Geschichtsfakultät tun. Geschichte in Russland aber heißt – aus politischen Gründen – eine völlige Verzerrung von Geschichtswissenschaft und zumindest die Akzeptanz eines Geschichtskonzeptes, wie der „Oberhistoriker“ Wladimir Putin es sieht.
Für viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, nicht nur an der Europäischen Universität von Sankt Petersburg, ist das nicht hinnehmbar. Sie gehen. Mehr als 6.000 Forschende und Lehrende, so heißt es in inoffiziellen Statistiken, sollen das Land in den vergangenen zwei Jahren verlassen haben. Zurück bleiben die Loyalen. Die „Patriotischen“, die Doktorarbeiten zu „Philosophie der Drohnen“ abnehmen, die Geld für die Front sammeln, die ihre Studenten dazu drängen, Verträge mit dem russischen Verteidigungsministerium zu unterschreiben. Der Krieg in der Ukraine ist im akademischen Alltag Russlands mittlerweile Routine.
Die „Europäische“, wie Studenten und Dozenten die kleine private Uni in Sankt Petersburg fast schon liebevoll nennen, sie war seit ihren Anfängen, noch am Ende der Sowjetunion, ein besonderer Flecken in der weitgehend staatlich dominierten Hochschullandschaft des Landes. Sie kennt Schikanen der Behörden, kennt politischen Druck. In ihrer knapp 30-jährigen Geschichte wurde sie bereits mehrmals geschlossen, verlor die Bildungslizenz, bekam sie wieder. Sie kämpfte um Fördergelder und lockte doch immer wieder kluge Köpfe, auch aus dem Ausland, an die Newa. Nun will sie sich wieder retten, den „Arm amputieren, um den Körper zu erhalten“, sagen sie in Sankt Petersburg. Doch wie viel lässt sich in Zeiten des patriotischen Gehorsams von einer Einrichtung erhalten, die stets die „freie Forschung nach europäischem Vorbild“ hochgehalten hat? Wie viel Inhalt bleibt übrig, wenn nur noch die Hülle vorhanden ist?
Vor dem Politologie-Dekan Golossow waren bereits namhafte Wissenschaftler wie die Politologin Margarita Sawadskaja oder der Historiker Iwan Kurilla gegangen (worden). Die „Depolitisierung“ aber hatte vor dem Krieg begonnen. Eine ganze Reihe von Forschungsthemen – wie zum Beispiel die Geschichte des Autoritarismus oder Wahlen in Russland – erschien der russischen Führung seit Langem als „verdächtig“. Die Universität verlor Geldgeber wie Lehrende, vor allem nach Putins Ausrufung seiner „militärischen Spezialoperation“ in der Ukraine. Eine autonome Wissenschaft, zumal Geisteswissenschaften, sei in dieser Atmosphäre – der Angst, der Ungewissheit, der Repressionen – in Russland nicht mehr möglich, sagten viele, die mittlerweile an europäischen oder amerikanischen Universitäten unterrichten.
Unterstützung für „Spezialoperation“
In den Kommentaren unter Golossows digitalem Brief wird deutlich, dass sein Abgang nur noch eine Frage der Zeit war, dass es praktisch der Lauf der Dinge im heutigen Russland ist. Politische Wissenschaften, wie der Parteien-Spezialist sie seit mehr als 13 Jahren als Dekan in Petersburg gelehrt hatte, gibt es keine mehr. Es gibt nicht einmal mehr Politik im Land. So sind auch die russischen Universitäten immer mehr dem Druck ausgesetzt, nicht mehr zu lehren, sondern den Krieg in der Ukraine zu normalisieren, ja ihn zu legitimieren. „Universitäten werden längst zur Unterstützung der Kriegskampagne genötigt. Sie heroisieren die Kämpfer der ,Spezialoperation‘. Loyalität zur Führung ist wichtiger als die Qualität der Lehre. Man betreibt nun eine sogenannte ,national orientierte Wissenschaft‘ und nennt sie ,echt‘“, sagt der Historiker Dmitri Dubrowski, den die russische Justiz seit April 2022 als „ausländischer Agent“ brandmarkt. Mittlerweile lehrt der 54-Jährige an der Karls-Universität in Prag.
Dubrowski nennt diese Transformation der russischen Hochschullandschaft „Weaponization“: In Jura sollen die Studenten erklären, dass Russland bei seiner Zerstörung der Ukraine im Rahmen internationaler Verträge handele, in Politologie stelle es sich an die Spitze des Antikolonialismus, in Linguistik kümmere es sich um die Verkehrung der Sprache, die das Regime seit dem Angriff im Februar 2022 betreibe. „Die meisten Professoren fügen sich da ein“, so der Wissenschaftler.
Im März 2022 hatte die russische „Union der Rektoren“ in einem offenen Brief ihre Unterstützung der „Spezialoperation“ erklärt. Das Ziel der Universitäten sei es, dem Staat zu dienen, jeder müsse sich um den Präsidenten vereinen, stand darin. Dubrowski hatte damals – mit Hunderten weiteren russischen Wissenschaftlern – einen Gegenbrief unterschrieben, der die Einstellung militärischer Handlungen gegen die Ukraine forderte.
Verkriechen wie zu Sowjetzeiten
Mittlerweile hat das Wissenschaftsministerium ein Programm ins Leben gerufen, das „Unis für die Front“ heißt. Etwa 500 Hochschulen des Landes, so heißt es im Ministerium, machten da mit. Das heißt: Die Studierenden sammeln Geld für die Front, flechten Tarnnetze, bauen Drohnen, schreiben Briefe an die Soldaten, nehmen an Agitationsveranstaltungen teil, sind in Studentenclubs „Ich bin stolz“ aktiv, schicken Bücher in die besetzen Gebiete. Manche Universitäten haben Austauschprogramme mit Bildungseinrichtungen in Donezk, Luhansk, Mariupol. Die Unis haben Quoten für Kinder der Kriegsteilnehmer eingeführt, bieten auch IT- und Pädagogik-Kurse für Kriegsrückkehrer an. Danach gehen diese in die Schulen und erzählen den Kindern vom Kampf gegen den Westen. Wie zu Sowjetzeiten gibt es an den Universitäten nicht nur Ideologie-Arbeiter, sondern auch Vertreter der Geheimdienste.
Allen, die in der russischen Hochschullandschaft – trotz Selbstzensur und Denunziantentum – überleben wollen und nicht gehen können oder wollen, bleibt in dieser Atmosphäre nur das Verkriechen in völlige Nischenthemen. Auch das wie zu Sowjetzeiten.
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