Bedeutung nimmt ab / Wie sich Luxemburgs religiöse Landschaft seit dem letzten Papst-Besuch verändert hat
Seit dem letzten Besuch eines Papstes im Großherzogtum im Jahr 1985 hat sich die luxemburgische Gesellschaft stark verändert. Die Dominanz der katholischen Kirche hat deutlich abgenommen, ebenso die Zahl der Gläubigen, während die religiöse „Landschaft“ diversifiziert wurde. Das Bedürfnis nach Spiritualität ist jedoch geblieben.
„Sai, sai, sai!“, hallt es durch den Saal. „Geh hinaus, geh hinaus, geh hinaus!“ Ein ums andere Mal ruft die zwar zahlenmäßig überschaubare Gruppe von etwa drei Dutzend Menschen diese Worte auf Portugiesisch. Der Prediger, ein Mann Mitte 30 im weißen Hemd, Typ mittleres Management, sagt es ihnen vor. Nach einer halben Stunde hat er sich in Rage geredet. Seine Einleitung hat er auf ein paar begrüßende Worte beschränkt. Er unterbricht seine Predigt immer wieder, indem er „Halleluja“ ruft. Die Anhänger der Igreja Universal do Reino de Deus (Universalkirche des Königreichs Gottes) rufen ebenfalls „Halleluja“. Immer wieder! Immer frenetischer! Wie in Trance und mit erhobenen Armen. Der Prediger bittet nach und nach ein paar Personen zu sich nach vorne. Alle stammen sie aus dem lusophonen Sprachraum, einige haben einen brasilianischen Akzent. Manche legen Zeugnis ab von ihrer Erleuchtung und erzählen, was ihnen im Laufe der Woche widerfahren ist.
Die meisten der Anwesenden kommen, wie sie mir später sagen, regelmäßig zu den Versammlungen ihrer Kirche ins hauptstädtische Bahnhofsviertel oder in eine der anderen Anlaufstellen der Igreja Universal. Einer von ihnen beziffert die Zahl der Gläubigen der evangelikalen Kirche hierzulande auf mehrere Tausend. Doch die Zahl lässt sich nicht verifizieren. Tatsache ist, dass die Igreja Universal eine der größten und mächtigsten Pfingstkirchen der Welt ist. 1977 in Rio de Janeiro von dem früheren Lotterieverkäufer Edir Macedo gegründet, hat die Kirche mittlerweile etwa sechs Millionen Mitglieder in rund 8.000 Gemeinden in mehr als hundert Ländern weltweit und besitzt zahlreiche eigene Radio- und TV-Stationen, Verlage und andere Unternehmen. Das größte Gotteshaus der Gemeinschaft ist der 2014 in São Paulo eingeweihte Templo de Salomão. Die jährlichen Einnahmen der Igreja Universal belaufen sich nach unterschiedlichen Quellen allein in Brasilien auf 1,4 Milliarden US-Dollar. Das Vermögen von Edir Macedo wird auf etwa eine Milliarde Dollar geschätzt. Am Ende des Gottesdienstes, nach unzähligen Hallelujas und mehreren mit „Sai! Sai! Sai!“ angestimmten Teufelsaustreibungen, die dazu dienen, die Gläubigen von den für Krankheiten und anderen Problemen verantwortlichen Dämonen zu befreien, werden die Anwesenden zur Kasse gebeten. Jeder gibt einen Briefumschlag ab. Schließlich müssen die Gläubigen einen Zehnten ihres Einkommens spenden. Je mehr, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass Gott sie liebt – materieller Reichtum und wirtschaftlicher Erfolg werden als Zeichen der Liebe Gottes interpretiert. Der Prediger hat mich schon zuvor mehrmals beäugt, nun begrüßt er mich freundlich, ein zweiter Mann, eine Art Kirchendiener, lädt mich zu weiteren Versammlungen ein. Ich bedanke mich und verabschiede mich schleunigst.
„Supermarkt der Religionen“
Ein Spaziergang durchs Bahnhofsviertel und die angrenzenden Quartiers kann wie ein Gang durch die Glaubenswelt sein – wenn man die Adressen kennt. Denn nicht jeder kirchliche Versammlungsraum ist so leicht zu finden wie jener der Igreja Universal, die einst im früheren Marivaux-Kino und dann in einem Ladenlokal in der Glesener-Straße untergebracht war – und heute mehrere Zweigstellen im Land hat. Meine Recherchetour für einen Artikel über die hiesige „Glaubenslandschaft“ führte mich vor Jahren auch zur sogenannten Church of God, in der sich englischsprachige Immigranten aus Afrika in einem Container in einem Hinterhof zur Messe einfanden. Die Liste der Sekten, die sich in Luxemburg niedergelassen haben – einige wenige davon verschwanden wieder aus Mangel an Zulauf oder lösten sich einfach auf –, ist lang und gleicht einem „Wegweiser durch die spirituelle Welt“ und „Supermarkt der Religionen“, wie die Revue im Jahr 2006 schrieb: von den „Minh Vacmah“ in Lothringen, deren Guru vor Gericht landete, über die Gruppe „Glaube und Hoffnung – Engel Albert“, die durch Betrug und eine Therapie mit illegalen Medikamenten und „Sauerkrautsaft“ bekannt wurde, bis hin zu den Zeugen Jehovas. Letztere gehört nach wie vor zu den größeren Kirchen, die meisten der sogenannten Sekten haben kaum mehr als hundert Mitglieder. Die „neuen religiösen Bewegungen“, wie Paul Goerens sie nannte, der Sektenbeauftragte der katholischen Kirche in Luxemburg, seien ein „Ausdruck der sozialen und kulturellen Diversifizierung der luxemburgischen Gesellschaft“.
Nicht nur die Zahl der Glaubensgemeinschaften in Luxemburg hat in den vergangenen Jahrzehnten zugenommen, auch die Zahl der Konvertiten ist gestiegen, wie die Revue im Jahr 2007 herausfand: In der Reportage „Die glücklichen Sucher“ geht es um Beispiele von Übertritten zum Islam, Protestantismus, Judentum, Bahai-Glauben und Buddhismus. Der Trend hat angehalten. In dem Artikel kommt unter anderem eine Frau aus „einer Familie mit sechs oder sieben Glaubensrichtungen“ vor. Ihre Eltern seien Atheisten gewesen, sagt sie und fügte hinzu: „Unser Ziel ist doch dasselbe, und der Weg eines jeden ist die Suche nach dem Glück.“
Seit dem letzten Besuch eines Papstes im Mai 1985, als Johannes Paul II. ins Großherzogtum kam, hat sich nicht nur die luxemburgische Gesellschaft stark verändert, sondern auch die hiesige Landschaft der Glaubensgemeinschaften. Nach einem vom nationalen Statistikamt (Statec) vorgestellten Bericht hat der Anteil der Gläubigen kontinuierlich abgenommen. Demnach sank die Zahl der Menschen, die sich zu traditionellen religiösen Praktiken und Überzeugungen wie dem Katholizismus bekennen, von 2008 bis 2021 von 75 auf 48 Prozent. Im selben Zeitraum ging hierzulande die Bedeutung von Religionen von 42 auf 24 Prozent zurück, während die Zahl von Atheisten und „Religionslosen“ stark zunahm. Zugleich glaubten laut Umfrage mehr als 40 Prozent der Befragten an eine höhere Macht, 15 davon gehen davon aus, dass ein persönlicher Gott existiert. Jede fünfte Person bezeichnet sich als Atheist. Für 58 Prozent ist Gott „nicht wichtig“, für 35 Prozent „überhaupt nicht wichtig“. Und 47 Prozent beten nie abseits von religiösen Zeremonien.
Säkularisierung als „Reifungsprozess“
Die Zahl der Kirchenbesuche ist, trotz der Bevölkerungszunahme, deutlich gesunken – fast 59 Prozent der Befragten sagten, sie würden niemals ein Gotteshaus aufsuchen. Ebenso die der katholischen Hochzeiten und Taufen. Nach der Erhebung des European Value Survey (EVS) von 2020/21 bilden unter den gläubigen Menschen die Christen weiter mit 92 Prozent die große Mehrheit – unter ihnen sind 85,3 Prozent Katholiken. In der Bevölkerung machen Letztere 41 Prozent der Befragten aus (die Christen insgesamt 44 Prozent). Allerdings ist Zugehörigkeit in dem genannten Zeitraum allgemein um 19 Prozent zurückgegangen. Nach einer TNS-Ilres-Umfrage von 2022, die von der Allianz von Humanisten, Atheisten und Agnostikern (AHA) in Auftrag gegeben worden war, gehörten 59 Prozent der Einwohner einer Religion an und betrachteten sich nur 41 Prozent als religiös.
„Die Geschichte des Bistums Luxemburg ist eine Geschichte von Aufstieg, Verknöcherung und Implosion“, schrieb im Mai 2020 der Historiker Michel Pauly in einem Dossier der Zeitschrift Forum unter dem Titel „Kirche am Scheideweg“. Dass die Relevanz der Katholischen Kirche in der Gesellschaft seit Jahrzehnten abnimmt, ist eine Tatsache, der sich die Revue im November 2016 widmete. Unter der damaligen Regierung der Dreierkoalition, die die Trennung von Staat und Kirche vollzog, der neuen Konvention zwischen Staat und Glaubensgemeinschaften sowie der Abschaffung des Religionsunterrichts an den Schulen und Kirchenfabriken wurde der Bedeutungsverslust verstärkt.
„Der Säkularisierungsprozess läuft schon seit vielen Jahren“, sagte in einem Interview der Theologe Jean-Marie Weber. Er nannte die Säkularisierung einen „möglichen Reifungsprozess für die Kirche“. Dass die Kirchen immer leerer werden, ist seit Jahren eine Beobachtung, die mit der Entwicklung der Zahl von Kirchenaustritten einhergeht. Zwar gibt es unter cathol.lu ebenso wie unter der Homepage der AHA (aha.lu) Links zu den Austrittsformularen, eine genaue Zahl war jedoch nicht zu ermitteln. Die katholische Kirche in Luxemburg nimmt nach wie vor eine relativ dominierende Stellung ein, die Zahl ihrer Mitglieder ist allerdings zurückgegangen, die der Evangelischen Kirche von Luxemburg beläuft sich nach eigenen Angaben auf etwa 1.300 Mitglieder. Gestiegen ist die Zahl der Muslime hierzulande. Sie werden auf 2,7 Prozent der Bevölkerung geschätzt.
Zwar gehört Luxemburg heute zu den am stärksten säkularisierten Ländern, wie aus der genannten EVS-Studie hervorgeht. Trotzdem glauben etwa 40 Prozent der Befragten an eine übernatürliche Kraft. Die Spiritualität und das entsprechende Bedürfnis danach ist geblieben.
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