Traumapädagogik / Wie traumatisierte Kinder und Jugendliche im „SOS Kannerduerf“ den Alltag meistern
Bereits zum zweiten Mal hat „SOS Kannerduerf Lëtzebuerg“ Ende 2019 eine internationale Konferenz zum Thema Traumapädagogik organisiert. Diese Tagungen richten sich an Menschen, die in ihrem beruflichen Alltag mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen arbeiten. Eric Rings hat sich im Merscher Kinderdorf mit der pädagogischen Direktorin, Karin Kiesendahl, und mit der Kinderschutzbeauftragten der „Fondation Lëtzebuerger Kannerduerf“, Karin Kirsch, über das Thema Traumapädagogik unterhalten.
Tageblatt: Was bedeutet eigentlich Traumapädagogik?
Karin Kiesendahl: Traumapädagogik hat nichts mit Traumatherapie zu tun, sondern beinhaltet Methoden und Haltungen, die wir im pädagogischen Alltag hier im Merscher Kinderdorf umsetzen. Die Mehrzahl der Kinder, die hier leben, haben traumatische Lebenserfahrungen. Das sind Dinge wie Vernachlässigung, Verwahrlosung, psychische oder körperliche Gewalt, Aggressionen, überforderte Eltern. Diese Kinder tragen aus diesen Erfahrungen einen sehr schweren Rucksack, in dem sich eine Basis befindet, die sich von jenen Kindern unterscheidet, die ganz stabil aufgewachsen sind.
Die Aussage „Ich wollte auch mal stark sein“ ist quasi schon der Hinweis darauf, wieso Opfer von Gewalt Täterstrategien entwickelnPädagogische Direktorin von „SOS Kannerduerf Lëtzebuerg“
Ein Thema der Konferenz befasste sich mit der Frage: Wie können Opfer zu Tätern werden?
K. Kiesendahl: Kinder mit dem schweren „Rucksack“ nehmen diese Schwierigkeiten mit in den Alltag rüber, in die Schule, gegenüber Sozialkontakten, in ihre Gefühlswelt. Sie können eventuell soziale Ängste entwickeln und zeigen manchmal selber eine gewisse Gewaltbereitschaft oder Aggression auf, die sie als Lösung für Probleme einsetzen, weil sie selber darunter gelitten haben. Opfer können manchmal zu Tätern werden. Nach dem Motto: „Ich will nicht mehr das Opfer sein und entwickele selber eine Täterstrategie.“ Die Aussage „Ich wollte auch mal stark sein“ ist quasi schon der Hinweis darauf, wieso Opfer von Gewalt Täterstrategien entwickeln. Aus der einfachen Motivation des Gehirns heraus, dass sie immer der Schwache waren und nun auch einmal stark sein wollen. Und stark ist man, wenn man Täter ist.
Was kann ein Trauma bei einem Kind bewirken?
K. Kiesendahl: Wenn man wirklich von einer existenzbedrohenden traumatischen Erfahrung redet, dann gibt es ein ganzes Paket von Trauma-Folgestörungen, die möglich sind. Trauma – ich sage das nun ganz plakativ – ist kein Schnupfen. Das hat eine sehr große Tragweite. Das ist quasi eine Erkrankung des Nervensystems.
Die traumatisierten Kinder können in Situationen, die an sich harmlos sind, übererregt oder untererregt reagierenKinderschutzbeauftragte der „Fondation Lëtzebuerger Kannerduerf“
Karin Kirsch: Die traumatisierten Kinder können in Situationen, die an sich harmlos sind, übererregt oder untererregt reagieren. Ersteres ist ein aggressives Verhalten, Letzteres eine gedankliche Abwesenheit, ein Erstarren. Man kennt den Auslöser nicht, kann aber vermuten, dass dieser sich im traumatischen Erlebnis befindet. Traumapädagogik beschäftigt sich damit, dies zu verstehen, damit entsprechend umzugehen und es aufzufangen, zum Beispiel, indem man dem Kind hilft.
Wie kann man dem Kind helfen?
K. Kirsch: Bei einer unter- oder übererregten Reaktion ist das Kind in seiner Vergangenheit gefangen, bemerkt dies aber nicht. Die Traumapädagogik stellt uns zahlreiche Werkzeuge zur Verfügung, die wir dann einsetzen. Es ist wichtig, dass unsere Mitarbeiter die Werkzeuge auch kennen und gebrauchen, um das Kind wieder in die Gegenwart zurückzuholen.
Wie kann man sich das vorstellen?
K. Kiesendahl: Im Kopf des Kindes wird der alte Film immer wieder abgespielt. Unsere Mitarbeiter sagen zum Beispiel nicht: „Hör auf, du weißt ja, dass das so nicht geht.“ Denn der Körper des Kindes befindet sich zwar im Hier und Jetzt, nicht aber das Gehirn. Das reagiert gerade auf eine Situation in der Vergangenheit, wo es beispielsweise um eine gewalttätige Person geht, obwohl das eigentliche Gegenüber des Kindes ganz nett ist. Die Reaktion wurde durch irgendetwas hervorgerufen, ein Geruch, ein Geräusch, ein Mann mit Bart, der plötzlich hier auftaucht, und beim Kind macht es klick. Das Gehirn macht dies aus Schutz. Es ist der Überlebenstrieb, der dann einsetzt. Das Gehirn sagt: „Achtung, ein Mann mit Bart, Gefahr!“ Es erfolgt sofort die Reaktion. Entweder rennt das Kind weg oder es reagiert aggressiv. Außenstehende wundern sich über die Reaktion des Kindes und sagen, ich habe doch nichts gemacht. Deshalb bilden wir unsere Mitarbeiter dementsprechend aus und die Konferenz soll die Öffentlichkeit dafür sensibilisieren, um zu zeigen, dass man diese Menschen unterstützen kann, damit sie aus der Spirale, diesem Teufelskreis rauskommen können.
Was geht in dem Gehirn vor?
K. Kirch: Unser Gehirn besteht aus drei Teilen: dem limbischen System, dem Neocortex und dem Reptiliengehirn. Das limbische System steuert unsere Emotionen und sorgt dafür, dass wir lernen, diese zu erkennen und einzuordnen. Dadurch können wir beispielsweise Gesichtsausdrücke richtig einschätzen. Will diese Person mir was Gutes oder Böses? Der Neocortex befindet sich eine Ebene drüber. Er ist unser Denker und sorgt dafür, dass wir eine Situation logisch analysieren können. Wir bewahren einen kühlen Kopf und wissen, dass es in dieser Situation keine Gefahr gibt. Das Reptiliengehirn ist der primitivste Teil unseres Gehirns. Seine Aufgabe ist, dass wir überleben. Bei traumatisierten Kindern wird dieser Teil ständig aktiviert. Es ist wie ein Knopf, der permanent gedrückt wird.
Das Kind befindet sich dauerhaft im Alarmmodus, obwohl keine Gefahr da ist
K. Kiesendahl: Es ist wie ein Daueralarm. Das Kind befindet sich dauerhaft im Alarmmodus, obwohl keine Gefahr da ist.
Wie wirkt sich dieser Daueralarm aus?
K. Kirch: Wenn dieses Reptiliengehirn so überaktiv ist, dann wirkt sich das auf die Entwicklung von den zwei anderen Gehirnteilen aus, indem die Verbindung zu diesen unzureichend hergestellt wird. Wenn jemand auf Überlebensmodus geschaltet ist, denkt er nicht mehr wirklich nach. Ein Beispiel: Wenn der Säbelzahntiger vor einem steht, dann denkt man nicht mehr nach, ob man vielleicht auf den nächsten Baum klettert. Nein, man nimmt seine Beine in die Hände und rennt so schnell man kann. Das ist eine instinktive Reaktion. Natürlich ist es wichtig, dass wir den Überlebensmodus haben, da wir ihn in manchen Situationen auch brauchen. In anderen steht er uns aber nur im Weg.
Wie kriegen Sie die Kinder denn aus dem Alarmmodus heraus?
K. Kirch: Ein sehr wichtiger Aspekt unserer Arbeit ist es, den Kindern diese Mechanismen des Gehirns zu vermitteln. Wenn ein Kind versteht, wie es funktioniert, ist das ein sehr wichtiger erster Schritt in Richtung Kontrolle und Autoregulierung. Ein Kind lernt, sein Verhalten zu verstehen. Es spürt, dass es bald ausflippen wird und kann sich zurückholen. Da sind wir beim Thema Resilienz. Resilienz ist die Kraft, die man in bestimmten Situationen aufwendet, um weiterhin die Kontrolle zu bewahren. Ich bin dabei, eine Trauma-Mindmap zusammen mit den Kindern zu entwickeln. Sie soll der Öffentlichkeit in bildlicher Form zeigen, wie sie mit Traumata bei anderen Menschen umgehen sollte. Auch Kinder können die Map benutzen, da sie bildlich ist. Für Erwachsene, die mehr in die Tiefe gehen wollen, gibt es einen Text dazu. Die Mindmap ist digital und wird voraussichtlich Ende dieses Jahres online gehen. Der andere wichtige Aspekt unserer Arbeit ist es, die Kinder zu stabilisieren, indem wir ihnen einen sicheren Platz bieten, sodass sie sich geschützt fühlen und wissen, dass zuverlässige Menschen für sie da sind.
Ziel ist ja, dass die Kinder irgendwann komplett aus dem Alarmmodus herauskommen.
K. Kiesendahl: Klares Ja. Das ist ein ganz fürchterlicher Zustand. Die Mehrheit unserer Kinder hier hat Trauma-Folgestörungen. 8,1 Prozent kommen direkt aus der Psychiatrie. Ein traumatisierter Mensch kann sehr gut leben, wenn er seinen „Rucksack“ tragen kann. Wenn man allerdings in seiner frühen Kindheit dauerhaft schlechte Erfahrungen gemacht hat, dann ist dieser Rucksack wesentlich schwerer. Je eher und öfter ein traumatisches Erlebnis in der frühen Kindheit passiert ist, desto schwerer ist der Rucksack. Aber er kann kleiner und leichter werden, daran arbeiten wir. Dennoch er ist immer da. Man lernt, damit umzugehen. So wie andere Menschen lernen, mit einer chronischen Erkrankung umzugehen.
Sie arbeiten ja auch tiergestützt und machen Kunsttherapie.
K. Kiesendahl: Ja, wir arbeiten tiergestützt. Sowohl traumapädagogisch wie therapeutisch. Der Umgang mit den Tieren erfolgt non-verbal und wir befinden uns im limbischen System. Auf diese Weise kommen wir direkt in die Gefühlswelt des Kindes hinein. Und so können wir versuchen, die Funkstörung aufzulösen. Ein Tier sagt ja nicht: „Sorry, heute geht es mir nicht gut.“ Bei einem Tier muss das Kind sich überlegen, woran es sieht, dass es beispielsweise dem Esel nicht so gut geht. Das Kind muss beobachten. Und genau da sind wir in der Empathie, also direkt in der Gefühlswelt. Das ist eine große Chance. Das Gleiche gilt für die Kunsttherapie. Wir wollen auch Musiktherapie hier ins Leben rufen. Aber dafür brauchen wir Spenden. Die Traumapädiagogik ist unser Hilfsmittel, um den Alltag hier zu gestalten. Die Kinder haben daneben auch festgelegte Therapiestunden. Die Combo Traumapädagogik und Therapie, das ist ein gutes Tandem. Mit der Traumapädagogik alleine geht das nicht. Es braucht zudem die Arbeit mit dem Hirn, also die Therapie. Sehr wichtig ist, dass wir die Kinder in der Traumapädagogik als Experten sehen. Wir sind die Profis, also die Professionellen, und die Kinder sind die Experten ihrer Lebensgeschichte. Wir arbeiten zusammen. Es ist eine Partizipation auf Augenhöhe.
Ein Blick in die Zukunft: Was ist das Thema der nächsten Konferenz?
K. Kiesendahl: Das Thema heißt „Trauma kann ansteckend sein“. Die Konferenz findet am 11. und 12. November statt. Trauma kann über Generationen gehen. Man spricht von einer dreigenerationalen Traumatisierung durch den Zweiten Weltkrieg. Die dritte Generation leidet immer noch unter den traumatischen Kriegserfahrungen der ersten Generation. Die epigenetische Forschung besagt, dass die Traumatisierung bis zur dritten Generation eben nicht nur durch Erzählungen der ersten Generation hervorgerufen wird, sondern durch einen genetischen Cocktail, den sie den anderen Generationen weitergeben.
Die Kinder und Jugendlichen brauchen Bindung. Wir können keine Bindung eingehen, wenn wir nicht auch ein Stück von uns anbieten. Das ist eine schwierige Gratwanderung, auch für einen Profi.
K. Kirsch: Die Epigenetik befasst sich mit der Art und Weise, wie unsere Gene zum Ausdruck kommen. Zwei Generationen später weisen die Menschen Trauma-Folgestörungen auf, ohne dass sie selber jemals eine traumatische Erfahrung hatten. Trauma kann aber auch für uns ansteckend sein, indem wir jeden Tag mit traumatisierten Jugendlichen arbeiten. Das Thema wird am zweiten Tag der Konferenz behandelt.
Inwiefern können sich ihre Mitarbeiter denn mit einem Trauma anstecken?
K. Kirch: Es handelt sich dabei um eine sekundäre Traumatisierung. Wir haben täglich und über einen längeren Zeitraum mit traumatisierten Jugendlichen zu tun. Die Kinder und Jugendlichen brauchen Bindung. Wir können keine Bindung eingehen, wenn wir nicht auch ein Stück von uns anbieten. Das ist eine schwierige Gratwanderung, auch für einen Profi. Durch das Einschalten unseres Verstandes können wir einen Teil verarbeiten. Aber was tun mit der ganzen emotionalen Energie, die bei uns landet? Mitarbeiter, die ihre Arbeit besonders gut machen, weisen irgendwann selber traumatische Symptome auf. Das merken wir an ihren Reaktionen. Sie bekommen Angstzustände, sind übererregt.
K. Kiesendahl: Unsere Konferenzen sind für jene Leute gedacht, die täglich mit traumatisierten Menschen zu tun haben: Ärzte, Psychologen, Erzieher, Pädagogen, Mitarbeiter des Jugendgerichts, Sozialarbeiter. Denn Trauma kann anstecken wie eine Grippe. Die einen kriegen es, die anderen nicht. Wir haben Mitarbeiter, die in unseren Besprechungen wütend werden. Diese Aggressionen, die auch traumatisierte Kinder aufweisen, lösen Adrenalin und Kortisol aus. Durch die Stresshormone können sich in der Folge körperliche Beschwerden wie Rückenschmerzen oder Schlafprobleme entwickeln. Wir müssen daher lernen, wertschätzende Schranken aufzubauen. Wir sollten nicht mitleiden, sondern mitfühlen.
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