Editorial / Wieder am Scheideweg: Wieso der Russland-Prozess vor dem CAS eine historische Tragweite hat
Er geriet zwar nicht unbedingt zur Randnotiz, doch ganz so viel Aufmerksamkeit, wie ihm eigentlich zustünde, bekam der Prozess, der vergangene Woche vor dem Internationalen Sportgerichtshof in Lausanne verhandelt wurde, dann doch nicht. Dabei wird sein Ausgang von sporthistorischer Tragweite sein.
Dass die Aufmerksamkeit an dem Prozess etwas kleiner ausfiel, als man hätte erwarten können, liegt zum einen wohl an der mehrmaligen Verlegung wegen der Corona-Pandemie, zum anderen aber sicherlich auch am Fakt, dass es immer noch um den russischen Dopingskandal geht. Eine Affäre, die sich nun schon knapp sechs Jahre hinzieht und in der die Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) sowie das Internationale Olympische Komitee (IOC), kurz der Weltsport, oftmals keine gute Figur abgaben und vor allem nie entscheidend durchgriffen. Was nicht zuletzt daran liegt, dass Russland ein „Big Player“ und tatkräftiger Finanzier des Sports ist.
Das Staatsdoping ist dennoch seit Jahren ausführlich belegt. Trotz einiger Kritik hatte die WADA bereits Schritte eingeleitet, um Russland wieder als Mitglied des Weltsports aufzunehmen. Man verlangte lediglich die Daten aus dem Moskauer Anti-Doping-Labor, um den Fall möglichst vollständig aufarbeiten zu können. Nach ewigem Hin und Her erhielten die WADA-Ermittler Zugang zu den geforderten Daten und mussten feststellen, dass diese manipuliert wurden. Für die WADA scheint klar, dass die Manipulationen bewusst vorgenommen wurden: So schloss sie Russland für vier Jahre von Sportgroßereignissen wie den Olympischen Spielen aus. Die russische Anti-Doping-Agentur widerspricht den Manipulationsvorwürfen, wehrt sich gegen die vierjährige Sperre und zog vor den Internationalen Sportgerichtshof. Für die Sportnation Russland geht es konkret um unter anderem die Teilnahme an den Olympischen Spielen in Tokio, Peking (Winterspiele 2022) und Paris sowie an der Fußball-Weltmeisterschaft in Katar. Für den organisierten Sport geht es um nichts anderes als um die eigene Glaubwürdigkeit, um die Frage, ob Betrug im großen Stil toleriert wird oder nicht. Aus diesem Grund sehen Experten den Prozess als einen der wichtigsten Sportprozesse der vergangenen Jahre an. Ob er diesem Anspruch gerecht wird, bleibt abzuwarten, ein Urteil soll noch vor Jahresende verkündet werden.
Einschätzungen, wie das Urteil ausfallen könnte, sind schwer zu tätigen, da die Verhandlungen unter strengen Sicherheitsvorkehrungen und unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfanden. Allein schon durch die mangelnde Transparenz, die auch von Athletenorganisationen beklagt wurde, stehen die Richter unter Druck. Im Russland-Skandal wurde mehrmals die Chance verpasst, ein klares Zeichen zu setzen. Nun bietet sich eine erneute Gelegenheit, und damit befindet sich der Sport einmal mehr an einem Scheideweg. Wird Betrug im großen Stil toleriert oder wird versucht, die sauberen Athleten zu schützen und zu stärken? Diese Frage entscheidet am Ende nicht nur über das Geschäftsmodell im Spitzensport, sondern auch darüber, welchen Stellenwert der Sport noch als Kulturgut hat.
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