Editorial / Wieso man bewusst Wurzeln schlagen sollte
Kennen Sie eigentlich ihre Nachbarn? Kennen Sie den Namen ihres Briefträgers? Wissen Sie, warum Ihre Straße eigentlich so heißt, wie sie heißt? Und was sind die interessantesten Eckchen in Ihrer Gemeinde, die vielleicht die eine oder andere Legende beherbergen?
Nicht jeder kann diese Fragen wie aus der Pistole geschossen beantworten, vor allem, wenn man erst seit kurzem in der neuen Heimat lebt. Irgendwie ist das Wurzelnschlagen auch nicht so einfach, neben der Arbeit, der Familie, den Freunden und den Freizeitaktivitäten. Die Nachbarschaft und Lokalgeschichte zu entdecken, erfordert eine Neugierde, Energie und Aufmerksamkeit, die nicht jeder aufbringen kann (oder will).
Doch vielleicht ist jetzt der ideale Moment, um sich ein wenig mehr für das Drumherum zu interessieren, ehe es wieder zur reinen Kulisse des Alltagslebens wird. Wie wäre es zum Beispiel mit einem kleinen Nachbarschaftspicknick? Vielleicht schließt man über einem kühlen Bier oder beim Grillen die eine oder andere neue Freundschaft, mit der man vorher gar nicht gerechnet hat. Welche Vereine gibt es in Ihrer Gemeinde? Möglicherweise gibt es da eine Interessengemeinschaft, die man gar nicht kannte, aber genau das unterstützt, was man selbst leidenschaftlich gerne macht.
Oder wie wäre es mit einem simplen Spaziergang durch das Viertel? Nimmt man sich die Zeit, bietet sich so manches Abenteuer, das man gar nicht vor der eigenen Haustür erwartet hatte. Hier ein versteckter Garten, dort ein beeindruckendes Graffiti – wer die Augen offen hält, findet etwas zum Bestaunen. Statt über Amazon findet man eventuell in der lokalen Bibliothek die perfekte Sommerlektüre – oder auch nur den perfekten Ort zum Entspannen. Vielleicht gibt es auch ein Lokalmuseum, das einen in die Geschichte der neuen Heimat eintauchen lässt und so ein wenig Kontext bietet, wieso die Gemeinde so ist, wie sie ist. Und wer weiß, vielleicht findet sich dann auch die eine oder andere ganz persönliche Bindung zur Lokalgeschichte. Denn oft sind es die kleinen Einzelschicksale, die einen bewegen und prägen, auch wenn die große Geschichtsschreibung sie vergessen hat. Das wollen die Historiker André Marques, Julie Depotter und Jérôme Courtoy in der neuen Serie „E Bléck duerch d’Lëns“ veranschaulichen.
Dennoch sind die aufgezählten Aktivitäten nur kleine Schritte, die am Ende dazu führen können, dass man sich mit dem eigenen Viertel, der eigenen Stadt, der eigenen Gemeinde, stärker verbunden fühlt als zuvor. Die lokalen Gemeinschaften, die in kleinen Dörfern vielleicht noch präsenter sind als in den großen Städten, können nur so zusammenfinden und wachsen. Ist erst mal ein Zusammenhörigkeitsgefühl da, dann will man diese Heimat auch verbessern und verteidigen.
Wenn „Zuhause“ nur die eigenen vier Wände bedeutet und sich das beliebig von A nach B schieben lässt, dann ist es auch schwierig, sich für das Um-einen-herum zu interessieren. Dann setzt man sich nicht zur Wehr, wenn der Schlackenstaub einer Firma immer wieder zum Problem wird. Oder wenn die Umgehungsstraße durch den örtlichen Wald führt. Oder wenn der Spielplatz abgerissen werden soll. Dann ist es „einerlei“, welche Partei in der Gemeinde das Sagen hat und wo die öffentlichen Gelder investiert werden. Zur Not kann man eben immer noch woanders hinziehen …
Wenn man Wurzeln geschlagen hat, sieht das anders aus. Und vielleicht ist genau dieser Sommer der perfekte Moment, um das zu tun.
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