Parlament / Windige Prognosen für Wirtschaft und Staatsfinanzen
Am Dienstag stellten Finanzminister Pierre Gramegna und Wirtschaftsminister Franz Fayot den Abgeordneten in öffentlicher Sitzung im Cercle Cité das Stabilitäts- und Wachstumsprogramm sowie das nationale Reformprogramm vor, die die Regierung an die EU-Kommission weiterleiten wird. Wegen der noch immer weitgehend unvorhersehbaren Entwicklung der Corona-Krise beruhen beide Programme aber zum Teil auf ungenauen oder noch veralteten Prämissen.
Das Stabilitäts- und Wachstumsprogramm (PSC), das die Staaten der Eurozone jedes Jahr im April an die EU-Kommission weiterleiten, fällt wegen der Corona-Krise in diesem Jahr etwas anders aus als gewohnt. Die Kommission hat Mitte März mit der Zustimmung aller Mitgliedstaaten beschlossen, erstmals die allgemeine Ausweichklausel („General Escape Clause“) zu aktivieren, die 2011 im Rahmen der sogenannten „Sixpack“-Reform eingeführt wurde und in Zeiten der Krise und Rezession eine zeitlich begrenzte Abweichung von den normalen Haushaltsregeln erlaubt.
Wie die meisten anderen EU-Länder wird auch Luxemburg von dieser Flexibilität Gebrauch machen, indem die Regierung die „Clause pour circonstances exceptionnelles“ anwendet, die das Parlament 2014 in einem Gesetz über die Verwaltung der öffentlichen Finanzen beschlossen hat. Selbst der „Musterschüler“ in der Einhaltung der europäischen Haushaltsregeln wird sich der weltweiten Rezession nicht entziehen können. Für den Euroraum prognostiziert der Internationale Währungsfonds (IWF) für 2020 einen Einbruch der Wirtschaft von 7,5%. Für den Finanzplatz Luxemburg fallen die Vorhersagen des IWF mit -4,9% jedoch deutlich geringer als für die Nachbarländer Frankreich (-7,2%), Deutschland (-7%) und Belgien (-6,9%) aus. Das Statec geht in seiner optimistischen Prognose von einem Einbruch von 6% aus, ein zweites, pessimistischeres Szenario prognostiziert jedoch eine Abschwächung der Wirtschaftsleistung von -12%.
Sowohl IWF als auch Statec gehen aber davon aus, dass die Wirtschaft sich 2021 wieder erholt. Der IWF sagt für Luxemburg ein Wachstum von 4,8% voraus, das Statec spricht von +7%.
Investitionen bleiben hoch
Allerdings sind diese Prognosen zum jetzigen Zeitpunkt eher unzuverlässig, da die Entwicklung der Krise noch nicht voll abzuschätzen ist. Laut Finanzminister Pierre Gramegna (DP), der das PSC am Dienstag der Abgeordnetenkammer vorstellte, hat das Statec, anders als der IWF, die positiven Auswirkungen des Stabilisierungsplans der Luxemburger Regierung schon in seine Berechnungen mit einbezogen. Der ungewöhnlich hohe Wert von +7% für 2021 bedeute lediglich, dass der Einbruch dieses Jahres im Folgejahr wieder aufgefangen werde, betonte Gramegna. Unter dem Strich sei innerhalb der nächsten beiden Jahre also nicht mit einem Wirtschaftswachstum zu rechnen.
Für sanitäre und wirtschaftliche Hilfen und Garantien hat der Staat in der Corona-Krise inzwischen insgesamt 10,4 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Der Betrag von 8,8 Milliarden, der im März genannt worden war, wurde mittlerweile nach oben korrigiert. Neben den Ausgaben für den Aufbau von zusätzlichen medizinischen Zentren, dem Kauf von Schutzmaterial (194 Mio. Euro) und Tests sowie den Kosten des „Congé pour raisons familiales“ (124 Mio. Euro) floss das meiste Geld in die Unterstützung der Wirtschaft. Zusätzlich zur staatlichen Unterstützung für Betriebe (Kurzarbeit, Direkthilfen) hat der Staat auch Aufschübe und Garantien in Zusammenarbeit mit acht Banken ermöglicht und Steuererleichterungen beschlossen. Luxemburg brauche den Vergleich mit seinen Nachbarländern nicht zu scheuen, betonte Gramegna. Der Gesamtbetrag von 10,4 Mrd. Euro, den der Staat für die Stabilisierung der Wirtschaft aufgewendet hat, liegt bei 17,5% des Bruttoinlandsprodukts. Damit liegt Luxemburg zwar weit hinter Deutschland (36,9%), doch vor Belgien und Frankreich. Was die Direktausgaben in der Krise anbelangt, gehöre Luxemburg aber zu den Ländern, die proportional zu ihrem Bruttoinlandsprodukt am meisten vorgesehen hätten, sagte Gramegna.
Diese Hilfen haben natürlich einen Einfluss auf das Luxemburger Stabilitäts- und Wachstumsprogramm. Trotz dem Rückgang der Einnahmen und dem Anstieg der Ausgaben will Luxemburg aber seine Investitionen nicht zurückfahren. In der „Administration centrale“ liegen die Investitionen 2020 bei 2,8 Mrd. Euro und 2021 sogar bei 3 Mrd. Euro. Unter dem Strich kommt dabei ein historisches Defizit von 4,9 Mrd. Euro (-8,3% des BIP) heraus, das 2021 auf 2,1 Mrd. Euro sinken soll. Die Sozialversicherung leide besonders unter der Krise, so der Finanzminister. Konnte sie 2019 noch einen Überschuss von 1,1 Mrd. Euro verzeichnen, sinkt dieser in diesem Jahr auf nur noch 281 Mio., um 2021 dann wieder leicht auf 342 Mio. Euro anzusteigen.
Weniger Geld für Gemeinden
Auch die Gemeinden werden in diesem Jahr weniger Geld zur Verfügung haben. Konnte 2019 in der „Administration locale“ noch ein Überschuss von fast 250 Mio. Euro verzeichnet werden, ist 2020 ein Defizit von 372 Mio. Euro und 2021 ein Defizit von 150 Mio. Euro vorgesehen.
Demnach ist in der „Administration publique“ in diesem Jahr mit einem historischen Defizit von 5 Mrd. Euro (-8,5% des BIP) und 2021 mit einem Defizit von 1,96 Mrd. Euro (-3% des BIP) zu rechnen. Vor der Krise war der Finanzminister noch von einem Überschuss von 800 Millionen ausgegangen. Die Staatsschuld könnte Ende 2020 auf 17 Mrd. Euro ansteigen. Mit 28,7% des BIP läge der Musterschüler Luxemburg damit aber immer noch unter der selbstgesetzten Grenze von 30% und weit unter der im Stabilitäts- und Wachstumspakt festgelegten Höchstgrenze von 60%. „Luxemburg geht mit gesunden Staatsfinanzen und einem AAA in die Krise. Wir profitieren heute vom Spielraum, den wir uns in den vergangenen Jahren erarbeitet haben“, meinte ein vorsichtig optimistischer Pierre Gramegna.
Krise nur am Rande berücksichtigt
Zusammen mit dem Stabilitäts- und Wachstumsprogramm legt die Regierung der EU-Kommission auch das Nationale Reformprogramm („Programme national de réforme“ – PNR) im sogenannten Europäischen Semester vor. Das PNR behandelt die wirtschaftlichen Herausforderungen, die in den nächsten Jahren auf Luxemburg zukommen. Das Dokument sei noch größtenteils vor dem Ausbruch des Coronavirus ausgearbeitet worden, deshalb seien die Auswirkungen der Krise nur am Rande berücksichtigt worden, erklärte Wirtschaftsminister Franz Fayot (LSAP), der sich für eine Überarbeitung des PNR auf europäischer Ebene aussprach. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte dies bereits angekündigt.
Luxemburg habe seine nationalen Ziele, die es sich in den vergangenen Jahren im PNR gesteckt hatte, verfehlt, gestand Fayot. Insbesondere in der privaten Forschung gebe es Defizite. Auch das steigende Armutsrisiko und die Verfehlung der Klimaziele bereiten ihm Sorgen. Nachhaltigkeit, sozialer Zusammenhalt und Wohlbefinden müssten nach der Krise eine größere Rolle spielen, sagte der Wirtschaftsminister. Schon dieses Jahr seien die nachhaltigen Entwicklungsziele Luxemburgs in den PNR integriert worden.
Fayot zog aus der Coronakrise aber bereits mehrere Lehren, die für den wirtschaftlichen Wiederaufschwung wichtig sein werden. Das Virus habe gezeigt, wie wichtig ein solidarisches Gesundheitssystem ist, deshalb müsse künftig weiter in die Krankenhausstruktur und das Pflegepersonal investiert werden. Auch die Biotechnologie spiele eine immer wichtigere Rolle. Weitere Investitionen sollen laut Fayot in die Digitalisierung fließen, mit der neben dem Ausbau der Telearbeit auch die ökologische Transition vorangetrieben werden könne. Nicht zuletzt will der Wirtschaftsminister die lokale und regionale Industrie, das Handwerk und die Landwirtschaft stärken, um die Wertketten zu verkürzen und den europäischen Binnenmarkt zu festigen.
Mangelnde Transparenz und Kakophonie
Während die Mehrheitsparteien DP, LSAP und „déi gréng“ erwartungsgemäß nur wenig an den Programmen der Regierung auszusetzen hatten, scheint sich insbesondere die CSV ihrer Rolle als Oppositionspartei nach mehreren Wochen der „Union nationale“ so langsam wieder bewusst zu werden. Der CSV-Abgeordnete Gilles Roth holte zu einem Rundumschlag gegen die Kommunikationspolitik der Regierung aus. Roth warf den Ministern und staatlichen Autoritäten mangelnde Transparenz und Kakophonie vor. Die Regierung entscheide über die Köpfe der Menschen hinweg und beziehe das Parlament nicht in ihre Entscheidungen mit ein. Der CSV-Abgeordnete stellte auch die Frage, ob die Bedingungen für den Mitte März ausgerufenen Krisenzustand noch erfüllt seien, und wollte wissen, wie lange der Ausnahmezustand noch aufrechterhalten werden müsse. Die Abgeordnetenkammer befinde sich jedenfalls nicht in der Unmöglichkeit, in einem bestimmten zeitlichen Rahmen Gesetze zu erlassen. Roth forderte ebenfalls eine Roadmap für den wirtschaftlichen Wiederaufschwung und sprach sich gegen eine Austeritätspolitik und Steuererhöhungen zur Finanzierung der Krise aus.
Auch der linke Oppositionsabgeordnete Marc Baum befürchtete, dass es, wie nach der letzten Finanzkrise, am Ende wieder die Lohnabhängigen und Rentner sein werden, die die Kosten der Krise begleichen müssen. Um die wirtschaftlichen Folgen zu lindern, schlug Baum vor, die Nachfrage zu steigern. Dies könne nur gelingen, indem man die Kaufkraft der Menschen durch eine Erhöhung der niedrigen und mittleren Einkommen stärkt. Zum Ausgleich fordert „déi Lénk“ eine „reelle Steuergerechtigkeit“, die Kapitaleinkünfte, große Vermögen und Immobilienspekulanten zur Kasse bittet. Nicht zuletzt müsse die Regierung mehr Geld in den Wohnungsbau investieren, um eine Verschärfung der sozialen Krise zu verhindern.
Diese Ansicht teilte auch der Piraten-Abgeordnete Sven Clement, der zusätzlich eine Sicherung des Rentensystems und eine weitere Förderung der Digitalisierung forderte. Der ADR-Abgeordnete Roy Reding sprach sich seinerseits gegen die Aufnahme von Schulden und für eine Kürzung der staatlichen Investitionen aus.
Der Abgeordnete Claude Wiseler (CSV) nahm das nationale Reformprogramm genau unter die Lupe und stellte fest, dass bestimmte Vorhaben der Regierung wohl nicht so leicht umzusetzen sein würden. So könne es nach einem mehrmonatigen Stillstand der Wirtschaft schwierig werden, die Investitionen weiter hochzuhalten, meinte Wiseler. Bedenken äußerte er ebenfalls gegenüber den Plänen, die Pharmaindustrie wieder zurück nach Europa zu holen. Den Schmutz und die Umweltschäden, die diese verursache, hätten schließlich mit dazu beigetragen, dass viele sie nicht mehr in Europa haben wollten.
Einig waren sich alle Parteien, dass die Zusammenarbeit innerhalb der Großregion verbessert werden muss, um im Falle erneuter Grenzschließungen besser reagieren zu können. Finanzminister Gramegna wies am Ende darauf hin, dass das Wachstum in Luxemburg in großem Maße davon abhängig sei, wie schnell sich Europa von der Krise erholt. Gemeinsame Antworten müssten auf EU-Ebene gefunden werden, der europäische Binnenmarkt sei heute wichtiger denn je. Luxemburgs Stabilisierungsprogramm sei zwar glaubwürdig, doch es müsse noch verfeinert werden, sagte Gramegna. In den kommenden Wochen sollen deshalb sektorspezifische Strategien entwickelt werden, die von der Krise stark betroffene Wirtschaftszweige wie Tourismus, Gaststättengewerbe und Kultur besonders fördern.
CETA-Abkommen wird nicht verschoben
Am heutigen Mittwoch wird das Parlament über vier Gesetzesprojekte zu Freihandelsabkommen der EU mit Kanada (CETA) und Singapur abstimmen. Vor allem das CETA-Abkommen war in den vergangenen Monaten und Jahren bei Gewerkschaften, Umweltverbänden und vielen anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen auf heftigen Widerstand gestoßen und es war zu mehreren Demonstrationen gekommen. Weil wegen des „Etat de crise“ das Versammlungs- und Demonstrationsrecht zurzeit noch ausgesetzt ist und keine Eile besteht, hatte „déi Lénk“ am Dienstag beantragt, den Punkt von der Tagesordnung zu streichen und erst nach dem „Etat de crise“ darüber abzustimmen. Die Oppositionsparteien CSV, ADR und Piraten unterstützen den Antrag, die Mehrheitsparteien DP, LSAP und „déi gréng“ sahen darin jedoch keine Notwendigkeit. Der Antrag der Linken wurde mit knapper Mehrheit abgelehnt.
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