Erdbeobachtung / „Wir fühlen den Puls unseres Planeten“
Die Spezialität der Europäischen Weltraumbehörde ESA ist nicht der Blick in die Tiefen des Weltalls, sondern die Beobachtung der Erde. Seit 2016 ist Josef Aschbacher der Direktor des Erdbeobachtungsprogramms. Mit ihm haben wir uns über Satelliten, den Klimawandel und die Spargelernte in Brandenburg unterhalten.
Josef Aschbacher: Sie und die ESA insgesamt beschäftigen sich sehr viel mit dem Blick auf die Erde anstatt mit den Tiefen des Weltalls. Wie ist es dazu gekommen und was macht die Erde so spannend?
Josef Aschbacher: Die Erde ist der Platz, wo wir leben und ich hoffe, dass wir alle daran interessiert sind, unseren Lebensraum so gut wie möglich zu gestalten und ihn für uns so lange wie möglich als komfortablen Ort zu erhalten.
Es gibt viele Dinge, die man aus dem Weltall zwar nicht besser, aber anders sieht. Wir haben den sprichwörtlichen Blick von oben. So können wir unsere Beobachtungen besser zusammenfügen und sie in einen globalen Kontext setzen.
Mit den Satelliten können wir nicht nur eine Stadt oder ein Flussgebiet ansehen, sondern den ganzen Globus. Dadurch können wir Daten, die wir von Luxemburg, Deutschland, Österreich oder sonst irgendwo aufnehmen, mit Daten aus der ganzen Welt vergleichen – aufgenommen mit den gleichen Messinstrumenten, und das praktisch binnen Minuten, nachdem sie aufgenommen wurden. Mein Slogan ist „Wir fühlen den Puls unseres Planeten“, und das ist genau das, was wir mit unseren Satelliten vom Weltall aus machen.
Europa gilt als Vorreiter, was die Erdbeobachtung angeht. Wie ist es dazu gekommen?
Wenn man von Weltraum spricht, dann hört man meistens zuerst NASA, dann Russland, dann China und eventuell Japan. Europa ist nur auf ganz wenigen Gebieten führend und die Erdbeobachtung ist ein solches Gebiet, in dem Europa mit seinen Satellitenbeobachtungssystemen den Goldstandard setzt.
Europa hat bis vor fünf, sechs Jahren ein relativ moderates Erdbeobachtungssystem im All gehabt. Bevor wir 2014 mit Copernicus angefangen haben, hatten wir zwei bis vier Satelliten im All, die verschiedene Messungen gemacht haben. Die waren schon sehr gut, aber nicht das umfangreiche Netzwerk, das wir heute haben. Bis heute haben wir ein sehr viel umfangreicheres Programm aufgebaut. Wir haben 15 operierende Satelliten, wir haben 40 (!) in der Entwicklung und wir haben 13 weitere in der Vorbereitung, die noch nicht in der Entwicklung sind.
Wir haben drei Linien von Satelliten in der ESA. Die erste Linie sind die Wissenschaftsmissionen – oder „Earth Explorers“ –, die von den Mitgliedsländern finanziert werden. Die zweite Linie sind die Copernicus-Satelliten, die von der Europäischen Union und von der ESA finanziert werden. Diese Satelliten nennen sich „Sentinels“. Dann haben wir eine Linie, die von Eumetsat und der ESA finanziert wird. Dabei handelt es sich um meteorologische Satelliten. Zusammen mit unseren Partnern (der Europäischen Union, der Kommission und Eumetsat) haben wir ein sehr reiches Portfolio – das derzeit weltbeste Erdbeobachtungsprogramm.
Viele Menschen fragen, was uns diese Aktivitäten im Weltall bringen, wenn wir doch so viele ungelöste Probleme auf der Erde haben. Können Sie erläutern, wie die Steuerzahler von Ihren Aktivitäten im Weltall profitieren?
Es ist richtig: Der Weltraum kostet natürlich, wie jede große Infrastruktur. Dazu gibt es zwei Dinge zu sagen. Zuerst, dass die Beträge nicht so überdimensioniert sind, wie man vielleicht glauben mag. Das Budget, das ich hier für die Erdbeobachtung ausgebe, sind 1,5 Milliarden Euro pro Jahr. Das ist viel Geld. Aber wenn man es durch die Anzahl der Bürger in Europa dividiert, grob 500 Millionen, dann sind das drei Euro pro Jahr pro Bürger. Das entspricht, wenn man so will, einem Kaffee, den man mehr oder weniger trinkt. Das ist moderat.
Zum anderen wird das Geld ja nicht ausgegeben und verschwendet, sondern damit wird neue Wirtschaftsleistung erzeugt. Wir haben eine Studie durchgeführt, wie viel es der Wirtschaft bringt, wenn man einen Euro in die Erdbeobachtung investiert. Die Wirtschaftsfachleute haben errechnet, dass von einem Euro, den wir in Copernicus investieren, zehn Euro zurück in die Wirtschaft fließen. Zum einen sind das natürlich die Aufträge, die wir in die Industrie geben und die Steuern zahlen und Arbeitsplätze schaffen. Zum anderen schaffen Programme wie Copernicus neue Geschäftsmöglichkeiten. Wenn wir zum Beispiel Daten über landwirtschaftliche Gebiete sammeln, dann gibt es Firmen, die berechnen, wie viel Weizen, Roggen und Kartoffeln in einem Land produziert werden. Diese Information ist ein Mehrwert, der Wirtschaftskraft erzeugt und damit wiederum neue Arbeitsplätze und Steuern. Dieser eine Euro, aus dem zehn Euro werden, macht aus Copernicus auch aus wirtschaftspolitischer Sicht eine gute Investition.
Sie sprechen die Privatwirtschaft an. Neben den Weltraumagenturen sind heute auch Privatunternehmen in der Erdbeobachtung tätig und schicken ihre eigenen Mini-Satelliten ins Weltall. Solche Firmen gibt es auch in Luxemburg. Wie geht die ESA mit dieser „Konkurrenz“ um?
Diese Klein-Satelliten sind genau das, was wir wollen. Im Fachjargon nennen wir diese Branche „New Space“. Für uns ist das ein wichtiger Partner. Bis vor sechs Jahren hat es diese Klein-Satelliten noch nicht gegeben, die kommen jetzt mehr und mehr. Einige der größten Konstellationen, die aufgebaut werden, wurden im Silicon Valley initiiert. „Planet“ und „Spire“ zum Beispiel. Das Interessante daran ist, dass die Geschäftsführer beider Unternehmen eigentlich aus Europa kommen, aber in Europa nicht die Möglichkeiten fanden, ihre Träume zu realisieren. Als Europäer finde ich das persönlich natürlich schade. Als ESA sind wir natürlich daran interessiert, die europäischen Weltraumaktivitäten auszubauen. Wir finden es sehr wichtig, diese Leute in Europa aufzubauen und ihnen zu helfen. Sie haben Luxemburg erwähnt, und es gibt noch andere Länder, in denen es Unternehmen gibt, die solchen Klein-Satelliten bauen, und ich finde das fantastisch.
Das ist für uns überhaupt keine Konkurrenz. Ganz im Gegenteil, ich sehe sie als komplementär, weil die kleinen Satelliten ganz anders messen als große Satelliten. Wie beim Fotografieren kann man mit einem großen Objektiv natürlich ganz andere Sachen fotografieren als mit einem kleinen. Aber die kleinen Satelliten haben den Vorteil, dass sie sehr billig sind und sehr schnell gebaut werden können, dass sehr viele von ihnen in der Umlaufbahn sein können und sehr viele Aufnahmen machen können. Die Anzahl und die hochauflösende Frequenz dieser Klein-Satelliten, gekoppelt mit den Referenzmissionen der größeren Satelliten, sind eine ideale Kombination. In Zukunft müssen wir diese komplementären Technologien und Satelliten mehr miteinander verbinden, weil sie beide ihre Berechtigung und ihre Stärken haben.
Ihre Satelliten liefern u.a. Daten zum Klimawandel. Was geht in Ihnen vor, wenn Menschen, darunter viele hochrangige Politiker, behaupten, der Klimawandel sei eine Erfindung?
Ich will mich nicht zu den hochrangigen Politikern äußern, das ist nicht meine Aufgabe. Allerdings finde ich das sehr traurig. Das erinnert mich an die Diskussionen, die wir derzeit über das Coronavirus führen. Wissenschaftler haben über Jahrzehnte die Menschheit gewarnt, dass es zu einer Epidemie kommen wird. Die Gesellschaft und die Politiker haben das schlichtweg ignoriert und jetzt kämpfen wir jeden Tag mit den Folgen.
Das Gleiche passiert beim Klimawandel. Wissenschaftler warnen die Gesellschaft und die Politiker seit Jahrzehnten, dass die Folgen enorm sind, und dass wir besser heute als in der Zukunft handeln sollen, denn es ist heute billiger als in zehn oder in dreißig Jahren zu reagieren.
Die Fakten sind hier. Es gibt überhaupt keinen Zweifel – auch wenn Politiker das manchmal anders sehen und leugnen. An den Fakten kann man nichts ändern: Es gibt die Temperaturerwärmung, es gibt den Meeresanstieg und es gibt das Abschmelzen der Gletscher. Das ist alles messbar und kann nicht geleugnet werden, aber es kann ignoriert werden. Es macht mich traurig und fassungslos, dass man vor Fakten, die auf dem Tisch liegen, sagt, dass man sich nicht darum kümmert und seine eigene Realität aus „Fake News“ schafft. Dann muss man nachher bedeutend mehr bezahlen als wenn man schnell agiert hätte.
Welche Konsequenzen hat das für Sie als „Behörde“? Sie sind immerhin davon abhängig, wie viel Geld Sie von Politikern kriegen.
Das ist richtig. Allerdings ist Klima ein so tief greifendes Problem, dass es sich kein Politiker erlauben kann, die Parameter nicht zu messen, die Auswirkungen auf das Klima, aber auch auf viele andere Bereiche der Gesellschaft haben. Der Satellit, der misst, wie viele Wälder abgeholzt werden, misst zum Beispiel auch die landwirtschaftliche Produktion. Den Satelliten braucht man für beides. Insofern ist in der Argumentation eine gewisse Flexibilität gegeben. In Ländern, in denen eine kritische Einstellung zum Klimawandel herrscht, kann man die gleichen Satelliten unter ganz anderen Gesichtspunkten verkaufen.
Europa ist diesbezüglich allerdings sehr fortschrittlich. Durch das Pariser Abkommen und den Green Deal hat Europa einen Schwerpunkt auf das Klima und auf Nachhaltigkeit gelegt. Insofern antworten die Satelliten, die wir bauen, auf die Fragen, die die Politiker in Europa stellen.
Die Erdbeobachtung soll u.a. beim Kampf gegen das Coronavirus helfen. Wie um Himmels Willen funktioniert das?
„Bekämpfung“ ist nicht der richtige Ausdruck. Mit unseren Satelliten können wir aber Gefahrengebiete bestimmen, in denen Pandemien aufgrund der Nähe von Tier und Mensch ausbrechen können. Beim Coronavirus geht man davon aus, dass es sich um eine zoonotische Krankheit handelt, also eine Krankheit, die, wie viele andere Krankheiten auch, vom Tier auf den Menschen übergesprungen ist. Mit den Satelliten können wir die Lebensräume von Tieren beobachten und wie sie eingeschränkt werden, wenn zum Beispiel der Regenwald abgeholzt wird und semiaride Gebiete vertrocknen. Man kann so feststellen, wo es schnelle Veränderungen in der Biosphäre gibt, die den Lebensraum von Tieren stark einschränken.
Während der Corona-Pandemie haben wir beobachtet, wie unser Planet auf die Lockdowns reagiert, die in den einzelnen Ländern durchgeführt wurden.
Während der Lockdowns im März und April hat es weniger Schadstoffausstöße gegeben. Die Verschmutzung war viel geringer in der Atmosphäre. Wir haben NO2 gemessen und in den meisten Ballungszentren ist die NO2-Konzentration um etwa 50 Prozent zurückgegangen. Sie ist jetzt, nachdem die Lockdowns beendet oder gelockert wurden, wieder angestiegen.
Des Weiteren haben wir Parkplätze an Fabriken beobachtet. Quer durch Europa haben wir Autofabriken gesucht und gezählt, wie viele Autos an den verschiedenen Tagen auf den Parkplätzen stehen. Daraus kann man ableiten, wie viele Leute in der Fabrik arbeiten und wie groß die Produktivität dieser Fabriken ist. In einem zweiten Schritt haben wir die gleiche Information in Amerika, in Japan und China gesucht, um zu sehen, wie dort die Fabriken auf die Lockdowns reagieren. So kann man mit Satelliten die wirtschaftliche Aktivität beobachten und diese Information global sehr schnell zur Verfügung haben.
Ein weiteres Beispiel ist die landwirtschaftliche Produktion. Wir haben zum Beispiel die Spargelernte in Brandenburg beobachtet und gemessen, dass dieses Jahr im Vergleich zum letzten Jahr ungefähr 30 Prozent weniger Fläche geerntet worden ist. Das entspricht einem wirtschaftlichen Schaden von etwa 90 Millionen Euro alleine in Brandenburg. Zum einen ist das dadurch bedingt, dass die Arbeiter aus Osteuropa nicht einreisen konnten, zum anderen, dass die Restaurants weniger Spargel gekauft haben. Wir haben ähnliches beim Weizen in Spanien beobachtet. Dort wurde die Ernte aufgrund der Lockdowns um zwei Wochen verschoben. Sie war aber ungefähr die gleiche wie im Jahr davor.
Solche Dinge kann man messen und damit die Leute informieren, welche Auswirkungen der Lockdown und die Corona-Krise auf die Menschheit haben. Wir haben ein „Dash-Board“ entwickelt, bei dem wir die NASA und die japanische Weltraumagentur mit eingebunden haben. Das wird mittlerweile sehr stark besucht und wird ständig mit neuen Daten gefüttert.
Gerade wurde die Φ-Week abgehalten. Bei der Veranstaltung diskutierten Experten über den Einsatz von künstlicher Intelligenz in der Erdobservation und die Möglichkeit, die Erde digital zu kopieren. Was hat es damit auf sich?
Die Idee dahinter ist, Daten über unsere Erde zu sammeln und zur Verfügung zu stellen. Dann sollen Modelle benutzt werden, um zu ermitteln, wie sich ein Parameter in der Zukunft verändert. Wir kennen das von den Wettermodellen, mit denen wir das Wetter für morgen, übermorgen und die nächste Woche berechnen. Künstliche Intelligenz kann helfen, Zusammenhänge zu erkennen und in die Vorhersage einzubauen.
Die gesamte Erde kann man zwar nicht als digitalen Zwilling aufbauen, aber einzelne Bereiche davon. Damit kann man simulieren, welche Auswirkungen es hat, wenn man zum Beispiel 20 Prozent des Regenwaldes im Amazonas abholzt. Man kann die Auswirkungen auf die Temperatur, den Meeresspiegelanstieg, das Abschmelzen der Gletscher, die Heftigkeit der Stürme und die Anzahl der Hurrikans simulieren. Das ist nicht nur auf Brasilien bezogen, sondern ein globales Problem. Daher sind die globalen Zusammenhänge wichtig.
Ein anderes Beispiel ist der Meeresspiegelanstieg. Wir wissen, um wie viel der Meeresspiegel in Abhängigkeit der Temperatur ansteigt. Damit könnten wir errechnen, welche Städte in welchem Jahr unter Wasser sein werden, wie viele Menschen betroffen sind und was das für die Immobilienpreise an der Küste in Rotterdam, Bangladesch, Bangkok und Miami heißt. Das hängt alles zusammen und ist miteinander verknüpft.
Daran sieht man, dass der Zustand der Erde einen Einfluss auf den Menschen hat und diese Simulationen kann man durchführen. Wir wollen ein System aufbauen, um das zu tun. Wir werden uns mit dem Europäischen Zentrum für mittelfristige Wettervorhersage und Eumetsat zusammenschließen, um gemeinsam mit der Europäischen Kommission, DG Connect und EuroHPC diese digitalen Zwillinge aufzubauen. Es handelt sich um mehrere Zwillinge, von denen sich einer auf extreme Wettersituation fokussieren wird, einer anderer vielleicht auf Klima-Adaptationen, einer anderer auf Green Energy. In der Summe ergibt das ein komplettes Bild unseres Planeten.
Vor zehn Jahren hätte man das, was Sie heute tun, wahrscheinlich als Science-Fiction abgetan. Was werden Sie in zehn Jahren tun?
Ich hoffe, dass wir die Folgen unseres Handelns viel besser simulieren können, sodass die Klimaleugner mit Fakten vor Augen geführt bekommen, was es bedeutet, wenn man nichts tut, wenn man weiterhin Kohlekraftwerke betreibt oder nicht nachhaltige Energiequellen benutzt.
Wir wollen ein System aufbauen nicht nur, um Negativszenarien zu entwickeln, sondern auch, um Positivszenarien zu entwickeln, um zu zeigen, wie man das Leben verbessern kann, indem man dieses oder jenes macht. In zehn Jahren werden wir so anhand von realen Daten und Simulationen, wie sich die Erde entwickeln wird, sehr viele Möglichkeiten durchspielen können.
Josef Aschbacher
Der gebürtige Österreicher studierte an der Universität Innsbruck und schloss sein Studium dort mit einem Master und einem Doktorat in Naturwissenschaften ab. Zwischen 1985 und 1989 forschte er am Institut für Meteorologie und Geophysik der Universität Innsbruck.
Seine Karriere bei der ESA begann Josef Aschbacher 1990. Dort hatte er unterschiedliche Stellen in Bangkok und Italien inne. 2001 ging er ins Hauptquartier der Weltraumbehörde in Paris, wo er hauptsächlich für die Förderung des Copernicus-Programms innerhalb der ESA verantwortlich war. Seit 2016 ist Aschbacher Direktor der Erdobservationsaktivitäten der ESA (Quelle: www.esa.int).
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