Corona-Krise / „Wir müssen jetzt gegensteuern“ – Forscher verfolgen Infektionsgeschehen mit Skepsis
595 neue Corona-Infektionen an nur einem Tag. Das meldete die Santé am Donnerstag. Es war der Tag, nachdem Gesundheitsministerin Paulette Lenert erklärt hatte, wieso die Regierung noch keine neuen Maßnahmen will. Ist die Situation tatsächlich noch unter Kontrolle?
Es gibt keine Cluster. Und es gibt keine Maßnahmen. Das war die Lage, wie sie Gesundheitsministerin Paulette Lenert noch am Mittwoch dargelegt hat. Aber nur einen Tag später überschlagen sich die Ereignisse. Am Donnerstag gibt es Meldungen von Infektionsclustern in den Krankenhäusern CHL und Robert Schuman und in der „Photothèque“ in Luxemburg-Stadt. Der Radiosender 100,7 berichtet davon, dass die Luxemburger Kliniken zu Phase drei übergehen, in der verschiedene Nicht-Covid-Aktivitäten verlegt werden müssen.
Und um 17.30 Uhr dann die nächste Hiobsbotschaft: Der Zähler auf der Webseite der Santé springt plötzlich auf 595. Der traurige Rekord von 416 Neuinfektionen, der erst am Vortag aufgestellt wurde, wird erneut in den Schatten gestellt. 595 festgestellte Infektionen an nur einem Tag. Ist die Situation noch „unter Kontrolle“, wie Gesundheitsministerin Lenert am Mittwoch beteuerte?
Festzustehen scheint: Das Contact Tracing, wie es in den letzten Monaten in Luxemburg durchgeführt wurde, funktioniert nicht mehr. „Es ist schwierig“, sagt Santé-Direktor Jean-Claude Schmit am Donnerstagabend gegenüber dem Tageblatt. „Die Zahlen stiegen von Tag zu Tag.“ Die Abteilung sei noch immer gut ausgestattet, aber das Problem seien die zahlreichen Kontakte. „Das sind Hunderte und Tausende pro Tag“, sagt Schmit. „Was wir machen, ist die positiv Getesteten kontaktieren, um da klare Anweisungen zu geben.“ Ab kommender Woche soll das Contact-Tracing-Team noch einmal mit 40 bis 50 Fahndern verstärkt werden.
Am Donnerstagabend veröffentlichte das Gesundheitsministerium einen neuen Leitfaden zu den Prozeduren bei Selbstisolierung oder Selbstquarantäne, um das Contact Tracing zu erleichtern. Aber neue, einschneidende Maßnahmen hat die Regierungen noch nicht verkündet.
Kein Ausrutscher mehr
„Wir hatten am Mittwoch 416 Neuinfektionen und am Donnerstag 595 – das ist kein Ausrutscher mehr, das ist real“, sagt Claude P. Muller, Virologe am Luxembourg Institute of Health. „Wir müssen uns darauf einstellen, dass es noch weiter hochgeht, mindestens für einige Tage – und es wird sich nur abflachen und beruhigen, wenn wir etwas machen.“ Sicherlich würden die Menschen angesichts des Infektionsgeschehens vorsichtiger sein und das werde auch einen Effekt haben. „Aber die Frage ist: Wird das ausreichen?“ Wenn man nach Deutschland schaut, hat man nicht den Eindruck, dass das funktioniert, sagt Muller. „Wir müssen gegensteuern – Appelle reichen in meinen Augen nicht mehr aus.“ Wie die Politik sieht auch der Virologe das Infektionsgeschehen bei der älteren Generation als Schlüsselwert.
Anders als Lenert und die Santé sieht Muller aber sehr wohl eine deutliche, relative Zunahme bei den Infektionszahlen der Alten. „Ich vergleiche den Anstieg unter den Erwachsenen im Alter zwischen 20 und 60 Jahren“, sagt er. „Und dort sehe ich vom 20. September bis zum 18. Oktober – das sind also fünf Wochen – in etwa eine Vervierfachung bei den absoluten Zahlen.“ Bei den 60- bis 69-Jährigen sehe er im selben Zeitraum einen sieben- bis achtfachen Anstieg, bei den 70- bis 79-Jährigen sogar einen neunfachen.
„Wir müssen gerade auf die Älteren aufpassen, bei den Zahlen, die wir jetzt kriegen“, sagt er. Und wenn die Werte in allen Altersgruppen gleich ansteigen, „sind wir sehr schnell in einer Situation, wie wir sie zu Beginn des Lockdowns hatten“. Die Über-60-Jährigen seien diejenigen, die das Gesundheitssystem belasten würden, wenn sie krank würden. Ein Gegensteuern sei machbar: Altersheime können eigene Regeln aufstellen und die Belegschaft schützen. Alleinwohnende Alte müssten Kontakte vermeiden und auf Nachbarschaftshilfe zurückgreifen. Bei Mehrgenerationenhaushalten – also dort, wo Jung und Alt unter einem Dach zusammenleben – sollten gesunde Ältere oder chronisch Kranke die Möglichkeit angeboten bekommen, sich in ein Hotel auszuquartieren, falls ein Familienmitglied positiv getestet wird. Oder umgekehrt die jüngeren Covid-Positiven in ein Hotel ziehen können, wenn sie in einem Haushalt leben, in dem es gesunde Risikopersonen gibt.
Maßnahmen ohne große Schäden
Muller befürwortet, dass dort weitere Maßnahmen ergriffen werden, wo sie keine oder nur geringe wirtschaftlichen Konsequenzen nach sich ziehen: „Maximal Home-Office, maximal Distanzieren, Masken so weit wie möglich überall, Ältere und chronisch Kranke in privaten Haushalten schützen.“ Menschen, die besonders gefährdet sind, sollten sich bemerkbar machen, damit die anderen den Abstand respektieren. „Auch in den Schulen gibt es Verbesserungsmöglichkeiten“, sagt Muller. „Ich bin Befürworter von Fiebermessen.“
Zudem fordert der Forscher mehr Transparenz in Form von Infektionsstatistiken auf Gemeindeebene. „Ich bin mir sicher, dass die Gemeinden das Verhalten der Menschen beeinflussen können“, sagt er. „Sie haben hohe Glaubwürdigkeit und wissen, wo Risikosituationen auftreten können.“
Wie wird sich das Infektionsgeschehen in den kommenden Tagen und Wochen entwickeln? „Da kann man nur raten“, sagt Muller. „Aber eines ist sicher: Ohne gezielte Maßnahmen werden die Zahlen weiter hochgehen. Außerdem ist diszipliniertes Verhalten von jedem Einzelnen erforderlich.“
Alexander Skupin, Statistik-Experte bei der Forschungsgruppe Research Luxembourg, beobachtet das Infektionsgeschehen genau. Dieses habe sich über das Wochenende und über die vergangenen Tage definitiv in die exponentielle Richtung bewegt. „Das heißt: Die zweite Welle wird jetzt stärker kommen als erhofft“, sagt er – und erinnert daran: Die aktuellen Zahlen hängen dem wirklichen Verhalten eine Woche hinterher. „Ich sehe die momentane Prognose als nicht so rosig.“ Wenn das Virus allgemein „mehr da ist“, sei es für Ältere und andere Risikogruppen schwieriger, sich zu schützen. „Und das hat nachher einen großen Einfluss auf das Gesundheitssystem“, sagt Skupin. Er ist skeptisch, dass sich die Menschen wieder strikt an Hygienemaßnahmen und physische Distanzierung halten werden. „Und dann muss man auch davon ausgehen, dass wir wieder in Engpässe hineinlaufen.“
Mehr als 3.000 aktive Infektionen meldete die Santé schon am Mittwoch. „Das ist ein ziemlicher Batzen“, sagt Skupin. „Das Besorgniserregende ist der Trend, den wir gesehen haben – es sieht nicht so aus, als würde sich das saturieren, sondern dass wir weiter reinlaufen.“ Dass das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht ist, das befürchtet auch die zuständige Behörde: „Ich erwarte, dass die Zahlen noch steigen werden – und auch eine Zeit hoch bleiben“, sagt Santé-Direktor Schmit.
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Kucke mat Skepsis, wéi hei wat vu just enger Berufsgrupp gekuckt gët🧐
Léiwen Här Muller, ech hätt an ärer Plaatz scho laang opgehal um Covid ze schaffen. Dir hutt et dach net néideg, permanent genau ze rechne wat kënnt, an ze erklären wat ee soll dergéint maachen, wann op der anerer Säit d‘ Leit net schlau genuch sinn, fir dat dann och esou ze maachen. Dir schafft iech midd, an ons Politiker maachen dat wat anerer, déi näischt verstinn, fuederen.
die Regierung kann gar nichts machen.
Nichts von alldem war im Koalitionsprogramm vorgesehen
@Charles Hild, Sie müssen aber bedenken dass die Berechnungen der Forscher nicht nur dazu dienen den Leuten ins Gewissen zu reden, auch denen die Stöpsel in den Ohren haben. Sondern dass auch die Regierung diese Berechnungen braucht um zu entscheiden wann der Moment gekommen ist Massnahmen zu verschärfen. Ohne diese Vorausschätzungen bestünde das Risiko dass man vom Geschehen auf dem Terrain überrumpelt wird wie in Frankreich oder Belgien. Marty.