Reportage / „Wir werden siegen“: Unterwegs in Kursk - eine Stadt, die nicht weiß, wie ihr geschieht
In Kursk stehen Geflüchtete Schlange für Matratzen und Medikamente. Sirenen heulen im Stundentakt, es herrscht das „Antiterrorregime“. Über eine Stadt, die nicht weiß, wie ihr geschieht.
Jeden Abend kommen sie hierher, setzen sich auf die schwarzen Stühle vor der Eingangstür des hellen Klinkerbaus, die Bäume neben ihnen wehen im Wind, die Kinder vor ihnen rennen umher. Ljubow und Jelena lehnen sich zurück und lachen manchmal so laut, dass ihre Goldzähne aufblitzen. „Hier draußen muntern wir uns gegenseitig auf“, sagt die 69-jährige Jelena. „Sobald ich wieder im Zimmer bin, kommt die Trauer. Die Erinnerung an die Einschläge, an die Flucht, die zurückgelassenen Tiere. Schrecklich alles.“ Ljubow blickt zu Boden. „Ich kann kaum schlafen, höre die Drohnen, zucke bei jeder Sirene zusammen. So bin ich lieber hier, mit den Leuten, die ich bis vor ein paar Tagen nicht kannte, die nun aber zu einer Art Verwandtschaft geworden sind“, sagt die 68-Jährige.
Mehr als 140.000 sind auf der Flucht
Ljubow und Jelena aus Sudscha, nur neun Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt, sind Flüchtlinge. Im eigenen Land. Im Studentenwohnheim der Agraruniversität in Kursk haben sie einen Platz bekommen. Jelena teilt sich ein Zimmer mit Sohn und Enkel, Ljubow mit zwei noch vor wenigen Tagen Unbekannten. Es gibt hier drei Mal zu essen, sie haben ein Dach über dem Kopf. „Hier schenkt man uns genug Aufmerksamkeit. Aber zu Hause hat sich unser Staat einen Dreck um uns gekümmert. Wir sind niemand für ihn, wurden einfach tagelang unserem Schicksal überlassen“, klagt Ljubow und macht sich Sorgen: „Das neue Semester fängt bald an. Wo bringt man uns hin, wenn die Studenten ihre Zimmer beziehen? Das sagt uns keiner.“
Die Rentnerinnen sind – wie alle Geflüchteten und Getöteten – Opfer eines Krieges, den Wladimir Putin mit der Ausrufung seiner „militärischen Spezialoperation“ am 24. Februar 2022 der Ukraine erklärt hat. Ihr Präsident, den sie loben, schätzen, nichts auf ihn kommen lassen. Seit zehn Tagen erobert die Ukraine nun russisches Territorium. Sie rückt mit der regulären Armee in der Region Kursk Ort um Ort vor, zerbombt Häuser, zerschießt Autos, tötet Menschen. Sie tut das, was die russische Armee seit zweieinhalb Jahren mit aller Härte dem Nachbarland zufügt und es als „Befreiung“ bezeichnet.
Mehr als 140.000 Russinnen und Russen sind auf der Flucht, sie rennen teils nur in dem, was sie anhaben, aus Sudscha weg, aus Lgow, aus Rylsk. Die meisten von ihnen finden in der Regionalhauptstadt Kursk – sieben Autostunden südöstlich von Moskau, etwa 430.000 Einwohner – Unterschlupf. Hier ertönen fast stündlich die Sirenen, die Rotoren der Kampfhubschrauber dröhnen im Himmel. In mehr als 80 Ortschaften soll Moskau die Kontrolle über sein Territorium verloren haben. So heißt es in Kiew. Täglich werden weitere russische Gebiete zur Evakuierung aufgefordert. „Standortwechsel an sicherere Orte“, nennt das der Kreml. Die Souveränität Russlands, mit der das russische Regime seinen Überfall auf die Ukraine rechtfertigt, ist angegriffen. Der Krieg ist längst im eigenen Land angekommen.
Von „Krieg“ aber spricht in Kursk kaum einer. Der Staat nennt „die Lage“, wie auch in der benachbarten Grenzregion Belgorod, schlicht „eine Ausnahmesituation föderalen Charakters“ und hat auf dem gesamten Gebiet eine „Antiterroroperation“ ausgerufen. Dadurch erhalten die Geheimdienste mehr Macht. Journalisten brauchen eine Spezialgenehmigung, um in die Region zu reisen. An den Einfahrten ins Gebiet und in die Stadt werden zuweilen Autos zur Kontrolle herausgewunken, in Kursk patrouillieren Polizisten und Nationalgardisten in voller Montur. In den Abendstunden ziehen Kolonnen aus Militärfahrzeugen und Bussen mit Soldaten über die Trasse in Richtung Grenze. Was die „Ausnahmesituation“ für die Menschen bedeutet, begreift selbst das lokale Regierungspersonal nicht. „Stündlich ändern sich hier die Regelungen. Wir nehmen es, wie es kommt“, sagt einer aus der Gebietsverwaltung.
Kursk gibt sich entspannt
Kursk gibt sich entspannt. Die Menschen sitzen in der Sonne, beim Raketenalarm halten lediglich Busse an, die Passagiere gehen weiter ihrer Wege. „Warum sollte ich mir Sorgen machen? Die Kämpfe finden ja nicht hier statt. Und die Sirenen, nun ja, die hören wir schon lange“, sagt eine Apothekerin im Zentrum. Unweit davon stehen Männer, Frauen und Kinder Schlange. Die Regionalstelle des russischen Roten Kreuzes hat hier einen Ausgabepunkt für humanitäre Hilfe eingerichtet. „Die Ersten, die kamen, hatten nichts. Sie fragten einfach nach Socken und Unterhosen“, erzählt Anastasia Ostalzewa, die stellvertretende Leiterin. Die Bedürftigen müssen sich online registrieren und bekommen später Konserven, Zucker, Buchweizen, Reis, Tee, Kekse, Klopapier, Shampoo, Zahnpasta ausgehändigt. An der Bushaltestelle direkt davor ist kein Durchkommen.
„Oma, schau, ich habe was für dich, das wird dir stehen“, ruft ein Mädchen und zeigt seiner Großmutter eine rötliche Bluse, die an einer Stange hängt. Die Großmutter reagiert schroff: „Ich brauche das alles nicht. Ich will einfach nur nach Hause.“ Alle hier wollen das. Wollen in ihre Häuser zurück, zu ihren Hunden, Schweinen, Kühen. Wollen auf ihre Höfe. „So schnell kommen wir aber nicht mehr dorthin“, sagt Alexander.
Am Tag fünf des ukrainischen Vorstoßes war er in seinem Schiguli – „über die Felder und von den Drohnen davon“ – aus Sudscha geflüchtet. „Ich wäre geblieben, aber die Kinder …“ Nun sitzen der Neunjährige und die 13-Jährige in einer Kursker Wohnung und sind genauso ratlos wie die eigenen Eltern. „Ich habe kaum Hoffnung. Das hier ist auf lange“, sagt Alexander. Er nimmt seine vier Essenspakete samt der Medikamententüte für die Schwiegermutter und trottet langsam davon. Auf seinem roten T-Shirt steht „SSSR“, die russische Abkürzung für die Sowjetunion.
Viele in der Stadt helfen. Lebensmittelläden geben Essenspakete heraus, Boxer und Kunstschulen packen etwas für die Erstversorgung zusammen. Schnell bilden sich Schlangen vor den Ausgabestellen. Vor dem „Häuschen der Wohltaten“ in der zentrumsnahen Belinski-Straße dürfte sie am längsten sein. Die Ersten stellen sich hier bereits um 5 Uhr morgens in die Schlange. Die Letzten stehen auch weit nach Anbruch der Dunkelheit noch an.
„Für ein Kind, vier Jahre alt, schnell ein Paket her. Das habe ich doch schon vor 20 Minuten weitergegeben, Mann ey!“, schreit eine Freiwillige und übergibt einer Frau und einem Mann eine Matratze und zwei Kissen. „Ich warte auf das Kinderpaket!“, drängt sie ihren Mithelfer. Der Hof ist voller Tüten und Kartons, draußen an den Tischen sitzen die Freiwilligen in leuchtenden Westen und schreiben Passdaten ab. Jemand schubst, ein anderer schreit. Die Helferinnen reichen Suppe, verteilen Wasser. Immer wieder halten Autos vor dem „Häuschen“ an, machen die Kofferräume auf und holen einmal Gurken, einmal Klopapier, einmal Babywindeln heraus. „Swetlana, wohin damit?“
Wir leben im freiesten Land der Welt, mit dem besten Präsidenten der Welt. Wir werden darauf warten, dass er uns rettet, er wird uns nie im Stich lassen.66, ist aus Sudscha geflohen
Swetlana Kosina kann ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Die Überforderung. „Ich schlafe höchstens zwei Stunden, habe angefangen zu rauchen, mein Zweijähriger musste vor ein paar Tagen seinen Geburtstag ohne mich feiern“, sagt die Leiterin des „Häuschens“ in einer kurzen Pause auf einer Bank weiter weg von den Massen. Vor neun Jahren hatte die 34-Jährige eine Art Suppenküche für Obdachlose in Kursk gegründet. Keine Stiftung, keine NGO, „einfach eine kleine Freiwilligengruppe“. Als die Kämpfe um Sudscha begannen, fuhr sie hin, brachte Leute heraus. „Sie hatten nichts, und wir hier hatten ein paar Kleider, etwas zu essen.“ Das sprach sich schnell herum. Nun stehen täglich bis zu 3.000 Familien in der Belinski-Straße an. „Niemand hat uns gehört, als wir sagten, dass so etwas passieren kann. Nun ist es passiert. Aber unsere Jungs, sie werden uns retten.“
„Unsere Jungs“, das ist die russische Armee. Auf sie setzen in Russland nicht nur in Kursk viele. „Wird schon, müssen nur ein bisschen warten“, sagt Nikolai vor der Ausgabestelle des Roten Kreuzes und klingt sogleich wie eine Abendsendung im russischen Staats-TV. Die „Biolabore der NATO“, „Selenskyj, der Clown“, „wir haben alles unter Kontrolle“, aus Nikolai stürzt es nur so heraus. „Diese Nazis, diese ukrainischen Banditen sollte man alle niedermetzeln. Haben wir sie etwa besetzt? Nein! Uns geht es um Menschen. Aber ihnen geht es um die Vernichtung unseres Volkes, unseres Russland. Wir haben allerdings einen klugen, verständnisvollen Präsidenten. Er wird das alles in Ordnung bringen“, ereifert sich der Rentner. „Wir werden siegen!“ Es ist ein Satz, den viele Geflüchtete in Kursk wiederholen. Sie klingen dabei voller Trotz, als bräuchten sie diese Worte, um sich selbst zu beruhigen.
Warum müssen wir jetzt in diesem Alptraum leben? Unser Zuhause haben wir wohl für immer verloren.Geflüchtete, in Kursk
„Wir leben im freiesten Land der Welt, mit dem besten Präsidenten der Welt. Wir werden darauf warten, dass er uns rettet, er wird uns nie im Stich lassen“, sagt Ljudmila im Übergangswohnheim an der Agraruni. Zwei Betten stehen im kleinen Zimmer, Insulin liegt auf dem Nachttischchen. Als die 66-Jährige mit ihrem kranken Sohn vor den Raketen über Sudscha aus dem Keller ihres Hauses floh, blieb keine Zeit mehr, etwas mitzunehmen. „Wir waren ganz auf uns gestellt.“ Wo war der rettende Staat? Ljudmila ist stumm. „Schauen Sie doch, wie friedfertig unser Präsident ist! Nun sehen Sie doch!“ Den Gedanken, dass sie ohne die „Spezialoperation“ nicht hier säße, will sie gar nicht erst zulassen. Ihr Leid habe „die Welt zu verantworten, die sich gegen Russland bewaffnet“ habe.
„Wir stehen voll hinter unseren Jungs, sie tun eine rechte Sache“, sagt auch Larissa am „Häuschen der Wohltaten“. Eine Matratze brauche sie, auf dem Fußboden der Verwandten in Kursk sei es zu hart. „Warum müssen wir jetzt in diesem Alptraum leben? Es sind Bestien, die da über uns hergefallen sind.“ Ihr Mann, das Käppi mit einem Z in russischer Trikolore tief ins Gesicht gezogen, brüllt vom „Genozid am russischen Volk“. „Sei still, Wolodja“, zischt Larissa ihn an. „Wir werden siegen, wir werden in wenigen Tagen zu Hause sein“, ruft er. Larissa schüttelt den Kopf. „Unser Zuhause haben wir wohl für immer verloren.“ Über Kursk heulen die Sirenen wieder auf.
Kiew meldet neuen Vorstoß
Der ukrainische Militäreinsatz in der westrussischen Region Kursk verläuft Selenskyj zufolge weiterhin zufriedenstellend. „Es gibt einen neuen Vorstoß“, sagte er, ohne weitere Angaben zu machen. Die Stadt Sudscha unweit der Grenze sei inzwischen vollständig unter ukrainischer Kontrolle. Zudem seien weitere Ortschaften und Siedlungen eingenommen worden, insgesamt bereits über 80. Diese und ähnliche Angaben beider Seiten zum Kriegsgeschehen lassen sich kaum unabhängig überprüfen.
Die Kleinstadt Sudscha liegt nur wenige Kilometer von der russisch-ukrainischen Grenze entfernt. Der Ort hatte vor dem Krieg knapp 6.000 Einwohner und ist das Verwaltungszentrum des Bezirks Sudscha. Jetzt wird er zum Sitz der ersten ukrainischen Militärkommandantur auf russischem Gebiet. Generalmajor Eduard Moskaljow soll nach dem Willen Kiews in den besetzten Teilen Westrusslands für Recht und Ordnung sorgen.
Im Verlauf der Kämpfe machten die ukrainischen Truppen angeblich weitere Kriegsgefangene. Selenskyj begrüßte dies als „weiteren Zugang zum Austauschfonds“, da Russland und die Ukraine immer wieder Kriegsgefangene austauschen. Entsprechend sei bei der Sitzung der Stawka, des Oberkommandos der Streitkräfte, eine nicht näher beschriebene Strategie für den nächsten Austausch samt Listen erarbeitet worden. (AFP, dpa)
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