Standpunkt / Wird Trump von dem gescheiterten Anschlag profitieren?
Kann ein Attentat die Wahlchancen eines Kandidaten verbessern? Die Erfahrung Taiwans legt die Möglichkeit nahe. Bei der Präsidentschaftswahl 2004 in Taiwan zeigten Umfragen, dass der damalige Präsident Chen Shui-bian hinter seinem Gegner, dem Kandidaten der Nationalistischen Partei (Kuomintang), Lien Chan, zurücklag. Doch das änderte sich abrupt am Tag vor der Wahl, als Chen und Vizepräsidentin Annette Lu bei einer Wahlkampfveranstaltung angeschossen wurden.
Von den beiden abgegebenen Schüssen streifte einer Chens Bauch, während der andere einen Gipsverband an Lus Knie traf. Diese relativ geringen Verletzungen führten zu weit verbreiteten Spekulationen, dass der Anschlag inszeniert worden sei, um Sympathien für Chen zu wecken, was dieser vehement bestritt.
Am nächsten Tag gewann Chen die Wahl mit dem hauchdünnen Vorsprung von 0,25%. Angesichts dieses unerwarteten und knappen Sieges wird allgemein angenommen, dass der Anschlag die Wahl zu Chens Gunsten gedreht hat.
Während der Schütze nicht am Tatort festgenommen wurde und auch – aufgrund lauter Feuerwerkskörper, die das Geräusch der Schüsse übertönten – von anderen Teilnehmern der Kundgebung nicht gesehen wurde, wurde er später als Chen Yi-hsiung identifiziert, ein pensionierter Bauarbeiter, der angeblich Selbstmord beging, indem er sich ertränkte, bevor die Polizei ihn festnehmen konnte. Der mutmaßliche Attentäter hinterließ Berichten zufolge einen Abschiedsbrief, der vermutlich seine Motive darlegte, doch angeblich verbrannte seine Familie den Brief, bevor jemand anderes ihn lesen konnte.
Der Chen-Shui-bian-Effekt
Die Umstände rund um den Tod des Attentäters verstärkten den Verdacht, dass das Attentat inszeniert worden war. Eine spätere Untersuchung des chinesisch-amerikanischen Forensik-Experten Henry Lee bestätigte zwar, dass Chens Bauchverletzung durch einen Schuss verursacht wurde, doch eine Untersuchung der in Chens Kleidung gefundenen Kugel ergab, dass die Waffe manipuliert worden und die Kugel so gestaltet war, dass sie nur geringe Auswirkungen hatte. Lee schlussfolgerte daher, dass der Schütze nicht beabsichtigte, Chen zu töten.
Die taiwanesischen Behörden zitierten Lees Untersuchung als Beweis dafür, dass Chen und Lu von echten Kugeln getroffen wurden, ignorierten jedoch seine Feststellung über die schwache Kugel. Unterdessen betrachteten diejenigen, die glaubten, dass der Anschlag inszeniert war, Lees Schlussfolgerung als Bestätigung. Die Waffe selbst wurde merkwürdigerweise nie gefunden.
Chens unerwarteter Sieg legt nahe, dass der Mordanschlag auf Donald Trump die Wahrscheinlichkeit seines Sieges bei der Wahl im November erhöhen könnte. Man muss kein politischer Insider sein, um vorherzusagen, dass die Republikanische Partei versuchen wird, den Anschlag zu nutzen, um die Unterstützung für Trump und für andere Kandidaten der Republikaner bei untergeordneten Wahlen zu stärken.
Obwohl einige Details noch unklar sind, wurde der Schütze als 20-jähriger registrierter Republikaner identifiziert, der mit einem AR-15-artigen Gewehr einen Unbeteiligten tötete und zwei weitere schwer verletzte, bevor er von einem Scharfschützen des Secret Service getötet wurde. Trump selbst erlitt, trotz Blut im Gesicht und am rechten Ohr, offenbar keine schweren Verletzungen.
Unmittelbar nach den Schüssen wurden die sozialen Medien von Verschwörungstheorien überschwemmt, laut denen der Schütze im Auftrag der Demokratischen Partei, Chinas, der Hamas oder illegaler Einwanderer gehandelt habe. Der republikanische Abgeordnete Mike Collins behauptete, US-Präsident Joe Biden stecke hinter dem Attentat und postete auf X: „Joe Biden hat den Befehl erteilt.“ Andere beharren darauf, dass das Attentat inszeniert wurde. Der Strom von Gerüchten und Falschinformationen wird wahrscheinlich bis November nicht abreißen.
Politisch vorteilhaft
Die große Frage ist, ob Trump von dem Attentat profitieren wird. Wie Chens Erfahrung zeigt, kann ein Mordversuch politisch vorteilhaft sein. Doch da es bis zur Wahl noch vier Monate hin ist, könnte der Einfluss geringer sein als viele erwarten. Die Erinnerung an das Ereignis könnte durch andere Ereignisse überschattet werden, oder es könnte den gegenteiligen Effekt haben, falls die amerikanischen Wähler Trump die Schuld dafür geben, dass er die Flammen der politischen Gewalt angefacht hat.
Wahrscheinlicher ist jedoch, dass das Attentat Trump zugutekommen wird. Die Neigung vieler Wähler, Sympathiestimmen abzugeben, legt nahe, dass sie eher leicht verständliche als komplexe, langfristig womöglich bedeutsamere Themen priorisieren. Während „Biden ist zu alt“ einfach und klar ist und „Trump hat für uns eine Kugel abgefangen“ leicht zu verstehen ist, erfordert eine Aussage wie „Trumps und Bidens Zölle sind schlecht für die amerikanischen Haushalte und Unternehmen“ ein gewisses Verständnis der Wirtschaftspolitik.
Angesichts dieser Realität stehen die Demokraten vor einer gewaltigen Herausforderung. Es ist schwer vorstellbar, dass sich der Chen-Shui-bian-Effekt nicht zugunsten Trumps auswirken wird, insbesondere da Trump in den meisten Umfragen, sowohl landesweit als auch in vielen entscheidenden Bundesstaaten, ohnehin schon vor Biden lag. Sofern keine dramatische Veränderung eintritt – wie etwa ein offener demokratischer Nationalkonvent im August, der einen dynamischeren Präsidentschaftskandidaten als Biden hervorbringt –, dürften sich die Wahlaussichten der Partei gerade noch weiter verschlechtert haben.
Aus dem Englischen von Jan Doolan. Shang-Jin Wei war Chefökonom der Asiatischen Entwicklungsbank. Er ist Professor für Finanz- und Volkswirtschaft an der Columbia Business School und der School of International and Public Affairs der Columbia University. Copyright: Project Syndicate, 2024. www.project-syndicate.org.
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