Editorial / Wo die Solidarität mit den Flüchtlingen an ihre Grenzen stoßen könnte
Vor knapp einem Monat fielen die ersten Truppen Wladimir Putins in die Ukraine ein. Luxemburg, Europa und die ganze Welt standen an jenem Tag unter Schock. Man konnte nicht verstehen, was da gerade passierte. Und man kann es auch heute noch nicht. Seit diesem dunklen Tag widerfährt der Zivilbevölkerung in der Ukraine unbeschreibliches Leid.
Jene, denen es gelingt, die Flucht zu ergreifen, werden in der EU und auch in Luxemburg mit offenen Armen empfangen. Es ist ein Phänomen, das überhaupt nicht mit jenem im Jahr 2015 zu vergleichen ist. Damals war die Grundstimmung in der Bevölkerung eine völlig andere. Man versuchte krampfhaft, sich die Flüchtlinge aus Syrien vom Hals zu halten. Man sprach von Migrationskrise und vom Flüchtlingsproblem. Wir erinnern uns noch an die Grenzbarrieren auf der Balkanroute, das EU-Türkei-Abkommen und die vielen Tausenden Toten im Mittelmeer.
Heute spricht man vom Putin-Problem und klebt sich die Ukraine-Fahne als Solidaritätsbekundung an sein Profilfoto auf Facebook. Manche Luxemburger fuhren sogar auf eigene Faust an die Grenze und packten einige Flüchtlinge ein, um sie dort rauszuholen.
Die Anteilnahme gegenüber den Flüchtlingen aus der Ukraine sei eine andere als jene gegenüber den Geflüchteten aus Syrien, sagt etwa der Psychologe und Präsident der Menschenrechtskommission, Gilbert Pregno, in einem RTL-Interview. Die Bilder aus der Ukraine seien uns präsenter, weil näher an Luxemburg. Die Geflüchteten aus der Ukraine seien zudem meist Frauen mit Kindern und keine jungen Männer mit einer anderen Hautfarbe. Der Menschenrechtler begrüßt zu Recht die aktuelle Solidarität. Andererseits übt er – ebenfalls zu Recht – scharfe Kritik daran, dass nicht alle Geflüchteten gleich viel zählen.
Ein Lob sollte man dennoch ausdrücklich an das Engagement der Menschen in Luxemburg aussprechen. Das Gleiche gilt für das schnelle Handeln der Institutionen. Schnell wurden viele Hebel in Bewegung gesetzt, um die Geflüchteten herzuholen, unterzubringen und adäquat zu versorgen. Das Bildungsministerium befragt etwa ganz gezielt Ukraine-Flüchtlinge, ob sie eine Lehrer- oder Erzieherausbildung haben. Diese Menschen sollen eingesetzt werden, um den ukrainischen Schülern, die nun in unser Schulsystem integriert werden sollen, sprachlich und kulturell unter die Arme zu greifen.
Bei aller berechtigten Kritik am Prinzip der internationalen Schulen, zeigt sich nun, dass diese am besten gerüstet sind, um Kinder und Jugendliche in ihren englischsprachigen Sektionen aufzunehmen. Allerdings fehlt es auch hier an Personal. So kündigten die öffentlichen internationalen Schulen an, zusätzliche Lehrkräfte anwerben zu wollen. Zudem muss sich die Belegschaft weiter auf Überstunden einstellen. Viele sind nach zwei Jahren Dauerchaos durch die Pandemie sehr müde. Es braucht demnach viel Kraft und Engagement, um nun die nächste Krise, oder besser gesagt die Krise in der Krise, zu bewältigen.
Es bleibt nur zu hoffen, dass die positive Einstellung gegenüber den Geflüchteten nicht plötzlich umschlägt, wie es Mitte der 1950er-Jahre in Österreich passierte. Nach dem Volksaufstand gegen den Kommunismus in Ungarn, der im November 1956 blutig niedergeschlagen wurde, flüchteten knapp 200.000 Ungarn über die Grenze nach Österreich. Die Welle der Hilfsbereitschaft bei den Österreichern war enorm. Allen Ungarn-Flüchtlingen wurde ausnahmslos Asyl gewährt. Doch bereits Ende November und noch viel ausgeprägter im Januar 1957 schlug die Solidaritätswelle in Skepsis gegenüber den Geflüchteten um. Psychologen haben das Phänomen in einer Studie analysiert und sprachen von einer Eltern-Kind-Beziehung zwischen der Bevölkerung und den hilfsbedürftigen Flüchtlingen. Nach einer kurzen Eingewöhnung der Neuankömmlinge führte deren eigenständiges Verhalten zu Irritationen bei der Bevölkerung. Nach dem Motto: Wer nicht zerlumpt und abgemagert ist, braucht keine Hilfe mehr. Unterstützung und emotionale Zuwendung finden dann keinen Anklang mehr.
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