Großbritannien / Zehntausende demonstrieren gegen rechtsextreme Krawalle
Eine muntere Künstlerszene, interessante Geschäfte, der längste Markt des Landes, hervorragende Anbindung in die Innenstadt – unter jungen Londonern genießt der nordöstliche Stadtteil Walthamstow den Ruf als lebendig und einigermaßen erschwinglich.
An diesem frühen Mittwochabend aber ist die High Street wie ausgestorben, selbst die normalerweise bis 22 Uhr geöffnete Lidl-Filiale hat ihre Türen vorzeitig geschlossen. Viele Geschäftsinhaber haben ihre Läden sogar fein säuberlich mit Brettern vernagelt. Der Busbahnhof liegt wie ausgestorben. „Sie brauchen auch nicht hier herumzustehen, da fährt heute nichts mehr“, macht die Stationsvorsteherin über Lautsprecher barsch die unschlüssigen Pendler mit der bitteren Realität vertraut. Und hat einen guten Rat: „Nehmen Sie den Vorortzug oder gehen Sie zu Fuß.“
Zweihundert Meter weiter aber ist kein Durchkommen. Tausende sind dem Aufruf von Gewerkschaften, Flüchtlingsorganisationen und Nachbarschaftsgruppen gefolgt. Sie haben sich versammelt, um zu verhindern, wovor die Menschen in Walthamstow und drei Dutzend anderen englischen Gemeinden Angst haben: rechtsextreme Krawalle, Angriffe mit Molotow-Cocktails auf Asylzentren und Anwaltskanzleien. „Düster“ sei die Lage, hat die Polizei seit dem frühen Morgen verlauten lassen, man rechne mit gewalttätigen Protesten in bis zu 30 Städten. Mobile Hundertschaften warten an strategisch ausgewählten Autobahn-Ausfahrten, um im Zweifelsfall rasch im Einsatz sein zu können.
In Walthamstow gibt es eine spür- und sichtbare Polizeipräsenz, schließlich gibt es auch Warnungen, wonach militante Muslime Gewalt mit Gegengewalt beantworten könnten. Viele der Polizisten sind sehr jung – Folge der radikalen Personalkürzungen durch die Tory-Regierungen der vergangenen vierzehn Jahre, die erst in den vergangenen zwei Jahren langsam wieder ausgeglichen wurden. Eine junge Beamtin lacht freundlich, viele ihrer Kollegen machen einen eher angespannten Eindruck.
Dabei wirken die Demonstranten nicht, als seien sie auf Krawall aus. Brav drückt ein junger Mann seine Zigarette am Aschenkübel aus, ehe er sich in die Menge begibt. „Flüchtlinge sind hier willkommen“, skandieren die Menschen, und „Wessen Straße? Unsere Straße“. Erkennbar wollen besonders viele junge Leute zeigen, dass Rechtsextreme in Walthamstow nicht geduldet werden. Natürlich dürfen auch die trotzkistischen Berufsdemonstranten von der winzigen Revolutionären Kommunistischen Partei sowie ähnlichen Splittergruppen nicht fehlen, allesamt in Würde ergraute Damen und Herren.
Kaum Rechtsradikale auf den Straßen
Rund ein Viertel der Jüngeren haben ihr Gesicht vermummt mit Palästinenserschals oder Motorrad-Zubehör; manche greifen auch auf die einst ubiquitären blauen Corona-Masken zurück. Angeblich geht es um die Furcht vor rechtsradikalen Geheimagenten.
Das gehört wohl zu den Angstszenarien der vergangenen Tage, an denen in Nordengland Rassisten unterwegs waren und Asylhotels anzuzünden versuchten. Der Speaker des Unterhauses rät den frischgewählten Abgeordneten, sie sollten von daheim aus arbeiten; die meisten dürften sich nach dem anstrengenden Wahlkampf ohnehin im Urlaub befinden. Londoner Unternehmen wie der Wissenschaftsverlag Springer Nature haben den Angestellten mit dunkler Hautfarbe erlaubt, im Homeoffice zu verweilen. Dabei ist die Hauptstadt bisher von organisierten rechten Umtrieben völlig verschont geblieben.
In Walthamstow verfliegt die Furcht zunehmend und mündet gegen 20 Uhr in erleichterten Applaus, als deutlich wird: Hierhin jedenfalls hat sich kein einziger Rechtsradikaler gewagt. Die Szene wiederholt sich in Newcastle, Oxford und Birmingham, in Bristol und im West-Londoner Stadtteil Brentford. In Brighton muss die Polizei vier Randalierer vor der Verachtung von mehr als tausend Demonstranten schützen. Nur in der südenglischen Grafschaft Hampshire gibt es kurzzeitig Probleme. In Aldershot gehen die Ordnungshüter blitzschnell dazwischen, als ein Zusammenprall zwischen den konkurrierenden Gruppen droht. In Portsmouth muss die Polizei eine kurzzeitige Straßenblockade von Rechtsextremen auflösen.
Die Polizei bleibt in Alarmbereitschaft
Der Londoner Polizeipräsident Mark Rowley zieht am Donnerstag früh positive Bilanz: „Die Demonstration der Einheit unserer Gesellschaft“ gegen die Randalierer habe die Situation entschärft. Womöglich haben auch die ersten harten Gefängnisstrafen – bis zu drei Jahre für schweren Landfriedensbruch – sowie der Regen in Nordengland zur Beruhigung der Lage beigetragen. Mehr als 150 Anklagen gegen Steinewerfer und Brandstifter hat die Staatsanwaltschaft bereits erhoben, seit die Randale vergangene Woche in Southport als Reaktion auf einen Amoklauf begann.
Hat die Labour-Regierung von Premier Keir Starmer das Schlimmste überstanden? Zu hoffen wäre das. Doch bleibt die Polizei in Alarmbereitschaft: Am Wochenende soll es heiß werden, für die zweite Liga beginnt die Fußballsaison. Und Flüchtlingsorganisationen haben für den Samstag zu weiteren Demonstrationen aufgerufen. An möglichen Konfliktherden wird es nicht mangeln. Walthamstow dürfte eher nicht dazugehören.
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