Editorial / Die digitale Revolution zwingt die Filmindustrie einen Blick in den Spiegel zu werfen
In seinem Essay „The Game“ beschreibt Schriftsteller Alessandro Baricco, wie in den 70er-Jahren eine Reihe an Nerds, Hippies und Programmierern den Nährboden für die Grundrisse einer technologischen Revolution bereiteten, die darin resultierte, dass wir heute im Alltag eine Verzahnung von virtueller und physischer Existenz erleben, in der der Unterschied zwischen den beiden Sphären kaum mehr relevant ist.
Laut Baricco ist diese technologische Revolution vor allem das Ergebnis eines Mentalitätsumschwungs – zwei der Prämissen des digitalen Zeitalters sind das Verschwinden epistemischer Hierarchien und die Demokratisierung der Informations- und Wissensvermittlung: Wikipedia basiert beispielsweise auf dem Konzept, dass die Beteiligung aller zu Artikeln führt, die genauso akkurat sind wie ein wissenschaftlich geprüfter Artikel eines Forschers. Dieses Bottom-up-Denken gründet auf der Einsicht, dass das Blutbad des 20. Jahrhunderts nicht trotz, sondern wegen der Hochkultur, die in jenem Jahrhundert herrschte, ausgelöst wurde – und dass man aus der Sackgasse, in die dieses elitäre Gesellschaftsbild geführt hatte, herauswollte.
Wie Baricco richtig formuliert: Heute ist es fast unmöglich, ein Vernichtungslager zu errichten und zu betreiben, ohne dass jemand es mitkriegt. Wie treffend seine Analyse jedoch ist, erkennt man an einem Fallbeispiel: Ohne die digitale Revolution hätte sich die MeToo-Bewegung, die von dem Fall Weinstein ausging, nie so schnell verbreiten können, wie es dank der Verbreitungsschnelligkeit des Internets möglich war. Wer sich gegen den digitalen Umschwung äußert, sollte bedenken, dass ohne die digitale Revolution das Bröckeln von Machtstrukturen und Übergriffen kaum so schnell vorangeschritten wäre.
Der 24. Februar wird hierbei ein wichtiges Datum sein: Vorgestern wurde das Urteil im Fall Harvey Weinstein gesprochen, und auch wenn der 67-jährige Produzent im schwersten Anklagepunkt für unschuldig befunden wurde, drohen dem Produzenten bis zu 25 Jahre Haft – ein symbolischer Sieg ist dies allemal.
Kurz davor gab es den Skandal um die französischen „Césars“, bei denen die Direktionsmitglieder und der Verwaltungsrat auf Druck 400 französischer Intellektueller (darunter die Filmemacherin Céline Sciamma) demissioniert haben, um einer grundlegenden Erneuerung nicht im Weg zu stehen. Dies geschah, nachdem Kandidatinnen aus der Kategorie „Espoirs“ entfernt wurden und Polanskis „J’accuse“ für zwölf Preise nominiert wurde (es gibt zurzeit elf Frauen, die gegen ihn aussagen).
Jeremy Irons, der mal in einem Interview meinte, eine Frau müsse schon damit umgehen können, wenn man ihr an den Hintern fasse, hat im Laufe der Eröffnungspressekonferenz der Berlinale behauptet, er würde die MeToo-Bewegung unterstützen und hoffe, die Wettbewerbsfilme würden das Thema aufgreifen. Was auch teilweise passiert ist: Während sich Willem Dafoe in Abel Ferraras Nonsens „Siberia“ durch alle Ethnien vögelt und daher trotz aller poetischen Lizenzen einem veralteten Verführungsschema nachgeht, werden im koreanischen „The Woman Who Ran“ die Männer lediglich als nervige Nebenfiguren, die die Kamera nur von hinten filmt, inszeniert, während es in „Never Rarely Sometimes Always“, in dem eine Teenagerin für eine Abtreibung von Pennsylvania nach New York reist, nur so von übergriffigen Lustmolchen wimmelt. Man darf gespannt sein, ob die Jury um Irons dann auch den Mut hat, einen dieser Streifen in irgendeiner Form auszuzeichnen.
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