9/11 in der Popkultur / Zögerliche Kommentare und der Ground Zero des Geschmacks
Was heute vor 20 Jahren vor allem aus New York zu sehen war, wirkte frappant wie aus einem Michael-Bay-Film. Doch ausgerechnet die sonst so kommentarfreudige Welt der Popkultur brauchte eine Weile, um ihre Haltung zu finden angesichts der Brutalität, mit der die genüsslich-dekadenten 90er-Jahre beendet wurden. Mittlerweile gibt es aber jede Menge Werke zum Thema, von denen wir einige vorstellen.
Schon während die Anschläge des 9. September 2001 noch im Gange waren, gab es Bemerkungen, das Geschehen in New York wirke wie ein Hollywoodfilm (so zum Beispiel in der Liveshow des Radiomoderators Howard Stern).
Tatsächlich hatten vor allem Actionstreifen in den Jahren zuvor lustvolle Zerstörungsorgien an bekannten amerikanischen Wahrzeichen („Independence Day“) und mit Flugzeugen („Die Hard 2“) gezeigt, die möglicherweise den Leuten um Osama Bin Laden unheilvolle Inspiration waren. Sicherlich antizipierten sie aber, welche ikonografische Wucht die Bilder der Anschläge haben würden. Durch die zeitversetzten Einschläge in die Doppeltürme des WTC wurde ja bereits sichergestellt, dass zumindest eines der Attentate in Echtzeit von Einwohnern und Weltöffentlichkeit beobachtet werden würde.
Die sonst so zupackende Popkultur in der westlichen Welt tat sich zunächst schwer, die tödlichen Anschläge zu verarbeiten. Die Late-Night-Talker, die sonst allabendlich Aktuelles meist bissig kommentieren, nahmen sich Auszeiten. Gerade die Shows, die in New York ausgestrahlt wurden, erhielten besondere Aufmerksamkeit, als sie wieder zurückkehrten.
Die New York Times nannte David Lettermans Eröffnungsmonolog, der sogar schon ein paar zaghafte Scherze enthielt, „einen der reinsten, ehrlichsten und wichtigsten Momente der Fernsehgeschichte“. Jon Stewart sinnierte in seinem Monolog über Meinungsfreiheit und das Zusammengehörigkeitsgefühl in New York – und scherzte schon am nächsten Tag, dass er „schon viel früher Rotz und Wasser heulend moderiert hätte“ – wenn er nur „geahnt hätte, was das für Quoten gibt“. Stewart engagiert sich bis heute politisch für die Belange der „First Responder“, die in seinen Augen nicht adäquat für ihren Einsatz entschädigt werden. Viele sind schwer geschädigt worden, unter anderem wohl durch das Einatmen giftigen Staubes.
In Deutschland wartete Harald Schmidt volle zwei Wochen ab – und kehrte dann mit einer Sendung zurück, für die er einen Grimme-Preis erhielt.
Auch viele Musiker brauchten lange Zeit, um ihre Haltung zur Erschrockenheit zu finden, die nicht nur die USA plötzlich prägte. Das letzte Album der Alternativrocker REM vor den Anschlägen („Reveal“) strotzte noch vor unbekümmertem Optimismus – im ersten Song ausgerechnet ausgedrückt durch einen Flug in den blauen Himmel eines frühen Sommermorgens, während das Cover auf der Rückseite den Blick aus einem Flieger auf eine städtische Bucht zeigte. Die nächste Platte war dann eine Ansammlung unsicherer, getragener Songs, eröffnet vom traurig-trotzigen „Leaving New York“.
City Of Ruins: Springsteen auf Mission
Bruce Springsteen musste, der Legende nach, erst von einem Passanten erkannt und angefleht werden („We need you, Bruce!“), bevor er sich aus der Schockstarre löste – und mit „The Rising“ ein Album produzierte, das kaum auf Hurra-Patriotismus setzt, sondern lieber Trost und Zuversicht in Blues und Gospel sucht. Viele Songs sind Hymnen auf Rettungskräfte, die jetzt mit dem Erlebten klarkommen müssen („Nothing Man“) oder die im Inferno von New York den Tod fanden („Into The Fire“). Den schon vor 9/11 geschriebenen Song „My City Of Ruins“ führte er allerdings bereits zehn Tage nach den Anschlägen auf – beim dann doch sehr amerikanisch betitelten Benefiz-Marathon-Konzert „America: A Tribute to Heroes“, bei dem sich Prominenz wie U2, Mariah Carey oder Stevie Wonder die Klinke in die Hand gaben. Ein ähnliches Event („The Concert for New York City“) wurde im Oktober 2001 von Paul McCartney veranstaltet, der die Anschläge mit eigenen Augen sah, als er auf einem Rollfeld in New York in seinem Privatjet saß.
Ausgerechnet der einst so sanftmütige Kanadier Neil Young stimmte mit „Let’s Roll“ einen aggressiven Ruf zu den Waffen an: Es gebe „keine Zeit für Unentschlossenheit“, singt er da. Und: „Ich hoffe, dass man uns verzeiht, was wir jetzt tun müssen.“ Mit den Geistern, die er damit rief, wollte er auf dem nächsten Album („Living With War“) aber schon wieder nichts mehr zu tun haben.
Wie sehr offenbar Popkultur die Fähigkeit hat, die Gefühle der Menschen – wenn auch sehr oberflächlich – zusammenzufassen, zeigte sich in einem grotesken Remix des Songs „Only Time“ der irischen Dreampop-Sängerin Enya: Ein US-Radiosender hatte wenig Berührungsängste und unterlegte den sehr sanften Song mit Tonschnipseln aus der Berichterstattung rund um 9/11: Der Quasi-Walgesang wurde jetzt von Polizeisirenen, „Oh My God!“-Rufen und US-Präsident Bushs Ankündigung unterbrochen, dass man die Terroristen zur Strecke bringen werde. Die Version bescherte dem Song (in der Originalversion) Verkaufserfolge – auch in Europa: In Deutschland blieb er sechs Wochen lang auf Platz eins der Single-Charts.
Absturz ins Bodenlose
Die immer schon grenzdebilen Bon Jovi ließen 2002 in einem multipel geschmacklosen Video einen jungen Mann von einem Hochhaus stürzen, während eine entsetzte Menge zusieht, darunter seine Freundin. In letzter Sekunde öffnet sich ein Fallschirm, auf dem steht „Will You Marry Me?“. Was für ein Spaß: Die Angebetete hat ihr Entsetzen sofort verwunden und busselt mit dem „Falling Man“.
Hollywood zögert – und schickt den Heiland
Die Filmindustrie, die die Terroristen vielleicht zu den Anschlägen inspirierte, brauchte nicht nur wegen ihrer Produktionszeitläufe lange, bis sie sich an das Thema heranwagte. Zwar meditierten im Episodenfilm „11′09″01“ bereits 2002 elf Regisseure aus aller Welt über verschiedene Aspekte des historischen Tages – aber erst 2006 traute sich Paul Greengrass, mit „United 93“ ein Werk vorzulegen, das mit den gängigen Mitteln des Actionthrillers das mutmaßliche Geschehen in dem Flugzeug zeigt, in dem sich offenbar Passagiere gegen die Hijacker erhoben haben – und die Verhinderung eines weiteren Anschlags schließlich auf einem Acker in Pennsylvania mit ihren Leben bezahlten.
Im gleichen Jahr schickte Oliver Stone mit „World Trade Center“ den wie üblich knallchargierenden Nicolas Cage auf eine größenwahnsinnige Tour de Force: Es geht um im World Trade Center verschüttete Polizisten, die den halben Film über neben ihren toten Kollegen eingeklemmt sind. Ihr Retter, ein starrsinniger Ex-Marine, der sich von Gott berufen fühlt, erscheint den Malträtierten als der Heiland persönlich.
Ein weiterer Film wurde ebenfalls 2006 mit deutlich kleinerem Budget, nämlich gar keinem, zum ersten großen YouTube-Phänomen: „Loose Change“ wurde von Teenagern am Laptop aus Nachrichtensendungen zusammengeschnipselt und ist eine raffinierte Revue diverser Verschwörungstheorien. Viele der enthaltenen Behauptungen sind zwar längst widerlegt, der Film wirft aber bis heute einige durchaus interessante Fragen auf.
Bemerkenswertere Großproduktionen brauchten aber noch mehr Zeit: Die TV-Miniserie „The Looming Tower“ mit Jeff Daniels erzählte 2018 von der langen Vorgeschichte zwischen den USA und Osama Bin Laden vor 9/11 (zu sehen bei Amazon Prime). Und in der Literaturverfilmung „Extrem laut & unglaublich nah“ wird 2011 das persönliche Trauma eines ohnehin verschlossenen Jungen mit der düsteren Stimmung in den USA verbunden – und gezeigt, wie zumindest Ersterer durch entschlossene Selbstsuche wieder ans Licht findet.
Der Pilotfilm eines kurzlebigen Ablegers der Mystery-TV-Serie „Akte X“ behandelt den Plan, einen False-Flag-Anschlag auf das World Trade Center mit einem vollbesetzten, manipulierten Flugzeug durchzuführen, um die Rüstungsausgaben in den USA in die Höhe zu treiben. „Lone Gunmen“ ist allerdings gar keine Reaktion auf 9/11 – sondern erschien ein halbes Jahr vor den Anschlägen.
- „Ganz schlimm“: Luxemburgs oberster Richter sieht bei Politikern fehlenden Respekt vor der Justiz - 31. Januar 2024.
- Wenn alles glattgeht: Probleme durch Eisregen werden wohl weniger – Richtung Donnerstag kommt Schnee - 17. Januar 2024.
- Wetterwoche wird wohl winterlich-weiß: Gut für Schlitten-, schlecht für Autofahrer - 15. Januar 2024.
Die USA haben bemerkt, dass man andere Länder nicht ungestraft besetzen kann, auch nicht wenn man 3 Billiarden in 20 Jahren verbrennt, die man selber dringend benötigt hätte.