Pädagogik / Zum Frieden erziehen: Was der Luxemburger Psychologe Fari Khabirpour zur Krisenbewältigung vorschlägt
Demokratie-, Klima- und Wirtschaftskrise sowie Kriege – nicht nur Politik und Gesellschaft scheinen überfordert zu sein, sondern auch der einzelne Mensch. Der Psychologe Fari Khabirpour zeigt in seinem Buch „Innerer Frieden, äußerer Wandel“ Wege zum Umgang mit der Polykrise auf.
„Gefangen im Zorn“ heißt ein Dokumentarfilm des Regisseurs Marcel Mettelsiefen über Kinder, die im Westjordanland aufwachsen und täglich Hass und Gewalt erleben. Bei einem Mädchen in einem palästinensischen Flüchtlingslager wie bei einer Tochter religiöser Siedler führt das Trauma zur Radikalisierung – und zur Entmenschlichung der jeweils anderen Seite.
Unterdessen versucht das saturierte Europa das Elend und die Konflikte der Welt fernzuhalten. Die österreichische Kulturwissenschaftlerin Judith Kohlenberger erklärt in ihrem Buch „Gegen die neue Härte“, dass die Abschottung nicht funktioniere. Zudem veränderte die Gefühllosigkeit die europäischen Gesellschaften auch nach innen zum Negativen.
„Die Fähigkeit, sich in die Haut und Lage des anderen zu versetzen, ihn als gleichwertigen Menschen zu achten, ist so notwendig wie rar“, schrieb der frühere „déi Lénk“-Politiker André Hoffmann kürzlich im Tageblatt. „Blauäugig frage ich, ob eine solche Anerkennung von Leiden, Ängsten und Wünschen des je anderen nicht ein notwendiger Schritt zum Frieden wäre. Aber Empathie gehört scheinbar nicht zum politischen Vokabular.“
Pazifismus etwa wird zum Vulgärpazifismus zusammengeschrumpft, wenn Anne Applebaum, die Trägerin des diesjährigen Friedenspreises des deutschen Buchhandels, in ihrer Rede in der Frankfurter Paulskirche sagt: „Der Ruf nach Frieden ist nicht immer ein moralisches Argument.“ Naiver Pazifismus sei angesichts einer aggressiven Diktatur nichts weiter als Appeasement.
Pädagogisches Gebot
Als „blauäugig“ und naiv könnte man es bezeichnen, wenn Fari Khabirpour in seinem Buch „Innerer Frieden, äußerer Wandel“ schreibt: „Erziehung zum Frieden ist von entscheidender Bedeutung, um Konflikte einzudämmen.“ Dabei werden heute viel zu sehr grundlegende humanistische Ziele mit dem Verdikt der Blauäugigkeit behaftet und als unrealistisch bezeichnet. Der Autor, der viele Jahre in verschiedenen Bereichen als Psychologe und Psychotherapeut gearbeitet und unter anderem das „Centre de psychologie et d’orientation scolaires“ (CPOS) und das „Centre de rétention“ geleitet hat, widerlegt dies in dem Bändchen von 64 Seiten.
Während der Ruf nach Frieden ein moralisches Argument ist, ist die Erziehung zum Frieden ein pädagogisches Gebot. Sie ist, so Khabirpour, vor allem in einer Zeit, in der sich viele „an all die Kriege gewöhnt zu haben“ scheinen, „von größter Bedeutung, denn sie ist der wichtigste Schlüssel zur Schaffung von Frieden“. Demnach ist die Erziehung zum Frieden ein langwieriger Prozess in vier Schritten, wobei es zunächst um „die Entwicklung grundlegender ethischer Werte wie Liebe, Gerechtigkeit, Brüderlichkeit, Dienen, Zusammenarbeit, gegenseitige Unterstützung, Hilfsbereitschaft, Großzügigkeit Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit und Vertrauenswürdigkeit“ geht.
„Innerer Frieden, äußerer Wandel“ ist kein esoterischer Ratgeber, sondern ein philosophischer wie auch pädagogischer Anreger, der Denkanstöße gibt und dabei aus den Quellen von etwa Johann Wolfgang von Goethes Streben nach Einheit als Geisteshaltung, der holistischen Psychologie Alfred Adlers und dem Universalismus der Bahai-Glaubensgemeinschaft schöpft. Der Autor gehört selbst der Bahai-Bewegung an, die im 19. Jahrhundert in Persien entstand und deren Gründer Bahá’u‘lláh es darum ging, mit seiner Botschaft die Menschheit zu vereinen und den Frieden in der Welt zu fördern.
Die nächsten beiden Schritte in der Erziehung zum Frieden sind der des Wissenserwerbs und der Erlangung der Kompetenzen. Diesbezüglich zitiert Khabirpour den österreichischen Psychotherapeuten Alfred Adler: „Empathie bedeutet, mit den Augen anderer zu sehen, mit den Ohren anderer zu hören und mit dem Herzen anderer zu fühlen.“ Schließlich tragen nach den Worten des Autors bestimmte Verhaltensweisen, die erlernt werden können, dazu bei, Frieden zu schaffen. „Unsere Funktionen mögen unterschiedlich sein, aber unser Wesen ist identisch“, schreibt er. Ihm geht es um die „Eindämmung des Egos“ und um das „Ende von Selbstverurteilungen“ sowie um die Überwindung von negativen Emotionen.
Liebe und Spiritualität
Wenn Khabirpour Liebe und Spiritualität als zentrale Begriffe nennt, ruft er womöglich bei dem einen oder anderen Leser Skepsis hervor. Handelt es sich dabei nicht etwa um die ausgetretenen Pfade der Gefühlsduselei oder um religiöse Deutungsmuster? Hier sei entwarnt: Von Beginn der Philosophie an hat sich diese mit der Liebe beschäftigt. In den vergangenen Jahrzehnten behandelten Erich Fromm („Die Kunst des Liebens“), Roland Barthes („Fragmente einer Sprache der Liebe“), Axel Honneth („Liebe und Moral“) und etwa Martha Nussbaum („Konstruktion der Liebe, des Begehrens und der Fürsorge“) das Thema. Zuletzt befassten sich auch etwa Richard David Precht („Liebe, ein unordentliches Gefühl“) und Wilhelm Schmid („Die Liebe neu erfinden“) damit.
Wenn zum Beispiel der Philosoph Axel Honneth über Liebe schreibt, dann meint er nicht zuletzt eine positive Beziehung zu den eigenen Bedürfnissen. Dieses „Selbstvertrauen“ ist ihm zufolge die Voraussetzung für die „Fähigkeit zur Unabhängigkeit“ wie auch die Basis für jegliche „autonome Teilhabe am öffentlichen Leben“. Diese elementare Form der Anerkennung bilde sich in der Liebe heraus, die „ein notwendiges Element des moralischen Partikularismus“ sei. In den Worten von Khabirpour bedeutet dies: „Sich selbst lieben, um andere lieben zu können.“
Der Luxemburger lenkt in einem der Kapitel den Fokus auf die ersten sechs Jahre eines Kindes, in denen die Überzeugungen eines Menschen entstehen, in einem anderen geht es um die Ursachen negativer Emotionen. Diesen setzt Khabirpour die Fähigkeit entgegen, selbst zu denken: „Rationales Denken hilft uns, emotionale Verstrickungen aufzulösen.“ Auch sei es nicht der richtige Weg, „jemandem einen Standpunkt aufzudrängen“. Es gelte, Kinder zu motivieren, sich selbst zu informieren. Er zitiert den Psychologen Robert Antony: „Als menschliches Wesen haben Sie die Aufgabe, selbst zu denken.“
Die Texte des Buches, das auf Deutsch, Englisch und Französisch erschienen ist, begleitet von den künstlerischen Impressionen des Kunstfotografen Gery Oth, sprechen den einzelnen Menschen an: Nach Khabirpours Worten „neigen wir oft dazu, andere für die Schaffung von Frieden verantwortlich zu machen, als ob wir als Einzelne nicht in der Lage wären, in dieser Richtung zu handeln“. Ein zentraler Satz lautet: „Innerer Frieden und innere Freiheit sind voneinander abhängig. Und beide haben mit innerer Einheit zu tun.“ Das wiederum bedeute, „dass in uns kein Konflikt wütet“.
„Emotionale Kultur“
Das fügt sich ein in eine Tendenz, die sich auch in der Soziologie des guten Lebens und der Weltbeziehung des Jenaer Soziologen Hartmut Rosa wiederfindet. In dem Buch „Beschleunigung“ beschreibt dieser die Prozesse der fortschrittsbedingten Dynamisierung, der den Begriff der Resonanz entgegensetzt, einen Beziehungsmodus, in dem gegenseitige Schwingungen erzeugt werden – nicht nur im Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt, sondern auch im Verhältnis zwischen seinem Körper und seiner Psyche. Körper und Seele im Einklang – daraus entsteht ein Resonanzraum. In der Polykrise ist das Resonanzverhältnis stets gestört.
Der „Steigerungszwang“ des modernen Kapitalismus findet sich im Wachstumsdenken wieder. Der Fortschrittsglaube steckt ebenfalls in der Krise. Themen wie Künstliche Intelligenz bieten Hoffnungen, erzeugen aber auch Ängste. Ein Hauptphänomen unserer Zeit bilden Verlusterfahrungen. Eine Reaktion darauf ist die Idee der Resilienz, also der Widerstandskraft. „Das Leben gelingt nicht dann, wenn wir reich an Ressourcen und Optionen sind, sondern wenn wir es lieben“, schreibt Rosa. Bei Khabirpour heißt es: „Alles entsteht aus Liebe. (…) Wir wurden aus Liebe erschaffen. Und das Wissen darum macht uns frei von allen Abhängigkeiten.“
Doch inwiefern ist seine Forderung nach mehr Spiritualität anschlussfähig an die krisengeschüttelten Gesellschaften der Gegenwart? Unbestritten ist, dass es die Sehnsucht, das Bedürfnis nach Spiritualität immer gibt. Rosa geht noch weiter: „Demokratie braucht Religion“ heißt eines seiner Bücher, das unter anderem der Frage nachgeht, welche Position die Religion im Gefüge der modernen Gesellschaft einnimmt. Der Mensch braucht eine „emotionale Kultur“, fordert etwa die Soziologien Eva Illouz. Empathie und Liebe, schreibt Khabirpour in seinem Buch, das an einem Nachmittag gelesen werden kann und das zeigt, wie mit der Vielzahl von Problemen, denen die Gesellschaft zurzeit ausgesetzt sind, umzugehen ist – und das sich in aktuelle Tendenzen in der Philosophie, Soziologie und Kulturwissenschaften einfügt. Nur die Politik scheint sich dessen noch nicht bewusst geworden zu sein.
Das Buch
Fari Khabirpour: „Innerer Frieden, äußerer Wandel“ Ikarus-Verlag, Fulda 2024
19,95 Euro
ISBN 978-3-9825948-0-4
- Unter Strom: Höchstspannungsleitung an deutsch-luxemburgischer Grenze nimmt Konturen an - 12. November 2024.
- Minderheit zwischen Stolz und Verleugnung - 10. November 2024.
- Nach Handyverbot an Grundschulen: Experte klärt über Gefahren von Smartphones für Kinder auf - 7. November 2024.
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